Ein ernsthafter Fehler
Am 24. Januar 2023 haben die Ampelparteien eine neue Wahlrechtsreform vorgelegt, die vorsieht, Überhangmandate abzuschaffen. Stattdessen sollen künftig über die sog. Zweitstimmendeckung die über die Verhältniswahl gewonnenen Stimmen vermittels der Wahlkreise aufgefüllt werden. Das soll den jüngst stetig gewachsenen Bundestag verkleinern und auch künftig klein halten. Nach der ersten Lesung des Entwurfs haben die Koalitionsparteien den Entwurf jetzt um eine weitere Änderung ergänzt, die mit diesem Ziel nicht im Zusammenhang steht:1) Nach dem bisherigen Bundeswahlrecht sieht die sog. Grundmandatsklausel eine Ausnahme von der 5 %-Hürde vor. Danach ziehen bisher auch Parteien, die an der 5 %-Hürde scheitern, mit ihren prozentualen Stimmanteilen in den Bundestag ein, wenn sie drei Direktmandate gewinnen. Über die Regelung ist bei der letzten Bundestagswahl Die Linke, die zwar nur 4,9 %, aber in den neuen Bundesländern drei Direktmandate hatte, in das Parlament eingezogen. Die CSU, die, weil sie nur in Bayern antritt, bundesweit 5,2 %, in Bayern aber 44 der 45 Direktmandate in Bayern gewonnen hatte, war knapp nicht auf sie angewiesen. Diese Grundmandatsklausel möchten die Ampelparteien jetzt streichen. Das ist nicht nur ein verfassungspolitischer Fehler ersten Rangs (1). Es trifft auch auf robuste verfassungsrechtliche Einwände (2).
Verfassungspolitischer Fehler
Dieser Schritt begeht einen ernsthaften verfassungspolitischen Fehler. Wahlrechtsreformen sind auf besondere Weise auf die Fähigkeit der Parteien angewiesen, vom eigenen politischen Vorteil zu abstrahieren und staatspolitisch ein für alle Parteien gleichermaßen faires System zu entwickeln. Nur so schützen sie die Integrität des demokratischen Prozesses. Aus diesem Grund zählt der Allparteienkonsens zurecht als ideales Verfahren solcher Reformen. Konsensverfahren scheitern freilich dann, wenn eine Oppositionspartei die Gelegenheit ausschlägt, ihrerseits vom eigenen, schwer zu rechtfertigenden politischen Vorteil auf das Funktionieren des Gesamtsystems zu abstrahieren. Aber selbst in diesem Fall müssen die Mehrheitsparteien demokratietheoretisch das Funktionieren des Gesamtsystems im Blick behalten und dürfen nicht ihrerseits auf den nackten Vorteil schauen. Die Streichung der Grundmandatsklausel erscheint aber exakt so: Würde die CSU bei der nächsten Bundestagswahl „nur“ auf 4,9 % kommen, aber (was rechnerisch möglich ist), in Bayern wieder 44 von 45 Wahlkreisen gewinnen, zöge sie nach dem neuen Entwurf überhaupt nicht in den Bundestag ein. So erweckt die jüngste Änderung den unguten Anschein einer Vorteilssuche politischer Mehrheiten vermittels des Wahlrechts, die in den Vereinigten Staaten zurecht seit langem beklagt wird. Wie es in der Sachverständigenanhörung zum früheren Entwurf gesagt wurde: „Die Grundmandatsklausel beizubehalten, ist für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs […] unabdingbar.“
Verfassungsrechtliches Problem
Nun übersetzt sich nicht jedes verfassungspolitische in ein verfassungsrechtliches Argument. Es kann gut sein, dass eine Reform verfassungspolitisch falsch, verfassungsrechtlich aber zulässig ist. Und überblickt man die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundmandatsklausel, scheint tatsächlich wenig gegen ihre Abschaffung zu sprechen. Weil die Klausel als Rückausnahme von der 5 %-Klausel kaum zur Geltung kam, hatte sich das Bundesverfassungsgericht lange nur beiläufig zu ihr geäußert.2) Erst 1994, als die PDS wegen ihrer vier Direktmandate in Berlin über sie in den Bundestag einzog, hat das Gericht die Klausel 1997 für verfassungsmäßig erklärt: Indem sie Parteien trotz der 5 %-Hürde wegen ihrer „politischen Bedeutsamkeit“ dennoch berücksichtige, diene sie der „Integration des Staatsvolks“.3) „Gelingt es in seltenen Ausnahmefällen einer Partei, mit ihren Kandidaten mehrere Wahlkreismandate zu erringen, ohne aber in ihrem Gesamtergebnis die Sperrklausel zu überwinden, so kann der Gesetzgeber in diesem sich bereits in Parlamentssitzen niederschlagenden Erfolg ein Indiz dafür sehen, daß diese Partei besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen.“4)
Nicht systemwidrig
Diese bisherige Rechtsprechung spricht so auf den ersten Blick dafür, dass die Klausel verfassungsrechtlich zwar zulässig, aber nicht geboten ist. Ein weiterer Punkt kommt zudem hinzu: Mit den Wahlkreisen knüpft die Klausel vordergründig an einem Element der Mehrheitswahl an. Die derzeitige Reform bewegt sich aber noch einmal deutlicher auf eine reine Verhältniswahl zu. Darauf beruft man sich, um die Streichung der Klausel zu rechtfertigen. Im neuen Modell stelle die Grundmandatsklausel einen „Systembruch“ dar. Denn die Wahl in den Wahlkreisen diene der vorrangigen Besetzung über die Zweitstimme errungener Sitze und nicht wie bisher der Personenwahl.
Dieses Argument knüpft an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht an. Danach ist der Gesetzgeber bekanntlich frei, auf dem Spektrum zwischen reiner Verhältniswahl und reiner Mehrheitswahl selbst ein Wahlsystem zu wählen. Hat er ein System gewählt, muss er dieses aber in sich „folgerichtig“ umsetzen.5) Weil die Grundmandatsklausel mit der Personenwahl an ein Mehrheitswahlelement anknüpfe, sei sie im geplanten „reinen Verhältniswahlrecht“ jetzt nicht nur nicht gefordert, sie verstoße auch gegen das neue Grundsystem. Man müsse sie daher streichen, um die Reform verfassungsmäßig zu halten.
Dieses Argument stimmt schon für sich genommen nicht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Grundmandatsklausel in das neue System weniger selbstverständlich einfügt.6) Sie markiert aber keinen solchen Systembruch mit einem reinen Verhältniswahlsystem, dass sie die Reform verfassungswidrig werden ließe. Genau genommen dient sie nämlich nicht der Personenwahl,7) sondern sichert gegenüber der 5 %-Klausel den Parteien den Einzug ins Parlament, die (im Vokabular des BVerfG von 1994) eine – in aller Regel regionale – „politische Bedeutsamkeit“ besitzen, die sich dadurch zeigt, dass sie einzelne Wahlkreise gewonnen haben.8) Indem er die Wahlkreise auch im neuen System – wenn auch in abgeschwächter Relevanz – weiterführt, macht der Reformgesetzgeber selbst deutlich, dass ihm diese regionale Komponente wichtig bleibt. Die Ungleichbehandlung gegenüber Parteien, die ebenfalls an der Sperrklausel gescheitert sind, aber keine drei Wahlkreise gewonnen haben, hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit zwar mit der Verbindung zwischen Verhältnis- und Personenwahl begründet.9) Aber auch die abgeschwächten Wahlkreise können im neuen Modell diese Differenzierung tragen.
Quantität schlägt in Qualität um
Die Grundmandatsklausel ist so auch im neuen System gut zu rechtfertigen. Aber ist sie umgekehrt geboten? Diese Frage hat sich bisher nicht gestellt, weswegen sich das Bundesverfassungsgericht zu ihr noch nicht hat äußern müssen.10) Zwei Dinge sind für die Antwort zu beachten. Erstens will der Reformgesetzgeber zwar bei der Stimmenzuteilung jetzt eindeutig11) auf eine reine Verhältniswahl umstellen. Im „nachgelagerten“ Modus der Kandidatenwahl hält er aber an den Wahlkreisen fest und lässt auch die Listen weiterhin in den Ländern aufstellen. Er entscheidet sich so mit guten Gründen dafür, die Vorteile dieser Regelungen zu erhalten. Diese Vorteile sind, wie erwähnt, neben einer vergleichsweisen Personalisierung der Kandidatenauswahl vor allem ihre Regionalisierung.12)
Dieses Nebenziel der Reform trifft sich zweitens in einem wichtigen Punkt mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur 5 %-Klausel. Von Anfang an hat das Gericht die Klausel deswegen als gerechtfertigt angesehen, weil sie nur auf „Splitterparteien“ ziele. Sie dürfe aber nicht dem Ziel der Verhältniswahl entgegenlaufen, alle (in einer Formulierung von Hermann Heller) „bedeutsamen politischen Parteien“ ins Parlament gelangen zu lassen.13) In seinem ersten Urteil hierzu hatte das Gericht die 7,5 %-Klausel in Schleswig-Holstein aus diesem Grund gekippt: Der Südschleswigsche Wählerverband war an ihr gescheitert, obwohl er im Schleswiger Landesteil über 20 % erhalten hatte.14) So hat das Gericht nicht nur früh festgestellt, dass die Verhältniswahl selbst das Ziel hat, alle, auch regional, „politisch bedeutsamen“ Gruppen abzubilden; es hat auch im Konflikt zwischen diesem Ziel und einer Sperrklausel jedenfalls für gewichtige Fälle eine Lösung vorgezeigt. In seinem Urteil von 1997 hat das Gericht den Gewinn von drei Wahlkreisen, wie erwähnt, als ausreichendes Indiz für eine solche „politische Bedeutsamkeit“ akzeptiert und die Grundmandatsklausel deswegen als gerechtfertigt angesehen.15)
Vor diesem Hintergrund stellt sich die eigentliche verfassungsrechtliche Frage: Ab welchem Punkt wird dieses gemeinsame Ziel von Verhältniswahl und Regionalisierung, alle (auch regional) politisch bedeutsamen Richtungen ins Parlament zu bringen, durch die jetzt ausnahmslose 5 %-Klausel systemwidrig konterkariert?16) Jedenfalls ab dem Punkt, an dem eine nur in einem Land antretende Partei ihre politische Bedeutsamkeit in dem Grad beweist, dass sie in diesem Land fast alle Wahlkreise gewinnt,17) dann aber mangels Grundmandatsklausel (oder eines ähnlichen Mechanismus) nicht in den Bundestag einzieht, d.h. nach der neuen Regelung nicht nur praktisch alle Wahlkreisgewinner dieses Lands nicht in den Bundestag gelangen, sondern noch dazu ein gesamtes Land wahlrechtlich überhaupt nicht mehr proportional getreu abgebildet wird, erreicht ein Wahlrecht den Grad der Systemwidrigkeit und muss ihn erreichen. Spätestens in einem solchen extremen Fall schlägt, kurz gesagt, die Quantität in Qualität, in ein verfassungsrechtlich ernstzunehmendes Legitimationsproblem für das Wahlsystem und seine Integrationsleistung, um.18) Das bedeutet nicht, dass ausgerechnet die Grundmandatsklausel in ihrer bisherigen Gestalt verfassungsrechtlich geboten ist. Aber ohne einen Mechanismus, der als notwendiges Bindeglied zwischen regional sensibler Verhältniswahl und Sperrklausel vermittelt, bleibt die Reform in ihrer derzeitigen Gestalt verfassungsrechtlich deutlich angreifbarer als zuvor.19)
Starke verfassungspolitische Intuitionen müssen sich, wie erwähnt, nicht notwendig in verfassungsrechtliche Argumente übersetzen. In einem derart sensiblen Bereich wie einer mit nur einfacher Mehrheit getragenen Wahlrechtsreform sollten sie es funktional aber, und hier tun sie es.
References
↑1 | Daneben haben sie die Größe des Bundestags leicht von 598 auf 630 angehoben, um die Zahl der leer ausgehenden Wahlkreise zu vermindern. Zum fehlenden Zusammenhang gleich unten 2. |
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↑2 | S. aber BVerfGE 6, 84. |
↑3 | BVerfGE 95, 408 (421). |
↑4 | BVerfGE 95, 408 (422 f.). |
↑5 | BVerfGE 1, 208 (246); 131, 316 (334 f. Rn. 54). |
↑6 | Zum Zusammenhang der Klausel mit dem alten System schon BVerfGE 6, 84. |
↑7 | Dafür hätte es sie im alten System auch gar nicht gebraucht: Die Personen zogen ja so oder so über das Direktmandat in den Bundestag ein. |
↑8 | Wie hier v. Achenbach/Meinel/Möllers, Ausschuss-Drs. 20(4)171 H, S. 7.Dabei ist tatsächlich irrelevant, ob die Klausel historisch nicht eindeutig diese Funktion haben sollte (wobei die DP, die bis 1994 am meisten von ihr profitierte, eine protestantisch-bürgerliche, regional in Niedersachsen verwurzelte Partei war). Was zählt ist, dass sie seit mindestens 40 Jahren diese Funktion erfüllt. |
↑9 | BVerfGE 6, 84. |
↑10 | S. allerdings gleich bei Fn. 14. |
↑11 | Streng genommen war das schon der Fall, seitdem die Wahlrechtsreform 2013 die Ausgleichsmandate eingeführt hat. Die vollständigen Streichung der Überhangmandate würde diesen Schnitt aber noch einmal deutlicher ziehen, s. Wischmeyer, JZ 2023, 105 (106 ff.). |
↑12 | Wischmeyer, JZ 2023, 105 (106 f.). |
↑13 | BVerfGE 1, 208 (254, auch 258 f.). S. auch BVerfGE 4, 31 (40 f.); 6, 84 (96 f.). |
↑14 | BVerfGE 1, 208 (254). |
↑15 | BVerfGE 95, 408 (423). |
↑16 | Die Spiegelseite dieser Frage lautet: Ab welchem Zeitpunkt verliert die Sperrklausel punktuell ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung? |
↑17 | Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass die Wahlkreise potentiell mit niedrigeren Stimmenanteilen gewonnen worden wären. Das kann so sein und tritt tatsächlich mit der Zersplitterung des Parteiensystems häufiger auf. Unter anderem ist diese Entwicklung eines der besten Argumente, näher an ein reines Verhältniswahlsystem heranzurücken. Es ist aber erstens nicht zwingend so: Tatsächlich hat die CSU bei der letzten Wahl 36,9 % der Erststimmen gewonnen; die nächstbeste Partei, die SPD, lag bei 17,4 %. Zweitens und wichtiger ist es verfassungsrechtlich irrelevant: Es ergibt sich (anders als bei der Zweitstimmendeckung) jedenfalls die Möglichkeit, dass auch Wahlkreise mit absoluten Mehrheiten betroffen sein können. |
↑18 | Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass mehr als fünfzehn unausgeglichene Überhangmandate verfassungswidrig würden, ist das prominenteste Beispiel eines solchen Kipppunkts, in dem Quantität in Qualität umschlägt, BVerfGE 131, 316 (369 f., Rn. 144). |
↑19 | Dem lässt sich auch nicht der Hinweis entgegenhalten, dass CDU und CSU eine gemeinsame Liste bilden oder sogar ganz zusammengehen könnten. Da die CDU in Bayern nicht antritt, kann die Landesliste nicht gemeinsam aufgestellt werden. Und vor Art. 21 I GG wäre es ein ernsthaftes Problem, zwei Parteien über das Wahlrecht zusammen zu zwingen, die (mit ihren Vorgängern) seit 1918 getrennt auftreten. |
Man sollte bei der CSU-Diskussion nicht vergessen, dass das Stimmensplitting – also Erststimme CSU, Zweitstimme andere Partei – vieler Wähler an der aktuellen Situation schuld ist. Würde jeder CSU-Erststimmenwähler die CSU auch mit der Zweitstimme wählen, müsste sich die CSU keine Gedanken um die 5%-Hürde machen. Insofern hat die CSU es auch selbst in der Hand, mit einem entsprechenden Wahlkampf.
Der Artikel wirft aber auch die Frage nach der 5%-Hürde auf, und da haben wir drei Parteien, die nach aktuellen Umfragen daran kratzen: die Linke, die CSU und die FDP. Im übelsten Falle wären dann im nächsten Bundestag knapp 20% der gültigen Stimmen nicht repräsentiert. Daher scheint es mir viel sinnvoller, diese Hürde abzusenken. Bei 3% ist eine Zersplitterung immer noch nicht zu erwarten – aber es blieben nur die 5% Stimmen für Splitterparteien ohne Repräsentation im Parlament.
Sehr gut. Ich würde noch eins draufsetzen:
Siehe zunächst BVerfGE 1, 208 (254): Hermann Heller habe “den Rechtsgrundsatz des Verhältniswahlrechts unter Berücksichtigung der Modifikation der Gleichheit dahin formuliert: ´Es sollen alle großen (für den Staat) bedeutsamen politischen Parteien entsprechend ihrer Wählerzahl ins Parlament gelangen.´ Dem kann zwar hinsichtlich der Eigenschaft ´bedeutsam´, nicht jedoch [man höre!] hinsichtlich der vorbehaltlosen Gleichstellung von bedeutsam mit zahlenmäßiger Größe zugestimmt werden.”
Die Grundmandatsklausel dient der gebotenen “Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs”, BVerfGE 95, 408 (418). In dieser Funktion wird sie durch den Wegfall von Überhangmandaten nicht delegitimiert. Im Gegenteil wird die Integrationsfunktion der Wahl verletzt durch Regelungen, die das Vertrauen in die Integrität des Wahlsystems gefährden, s. BVerfGE 131, 316 (335). In der Rechtsprechung ist zudem wiederholt die Siuationsabhängigkeit der Konkretisierung der Wahlrechtsgleichheit betont worden, s. z.B. BVerfGE 1, 208 (259): “Nun sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf politische Realitäten bezogen, und das Gericht darf nicht den politischen Raum außer acht lassen, in dem sich seine Entscheidungen auswirken. Es geht hier nicht um ein abstraktes Wahlrecht, sondern um ein konkretes Wahlgesetz in einem bestimmten Land zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Wahlrechtsgleichheit muß im Rahmen des jeweiligen Staatsganzen beurteilt werden.”
Dementsprechend wird man, ähnlich wie in Fragen der Sicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, Kontexte, Entwicklungsrichtungen und die Qualität der Gründe für beschlossene Änderungen berücksichtigen müssen. Wenn nun aus dem Wahlrecht eine – vielleicht ja guten Glaubens, aber jedenfalls ohne guten Grund – für im neuen Wahlrechtskontext nicht mehr systemgerecht gehaltene Klausel gestrichen wird, die null Funktionsprobleme erzeugt hat, deren Streichung aber zwei aus guten Gründen bislang als hinreichend “bedeutsam” für einen Anspruch auf parlamentarische Repräsentationsanspruch anerkannte derzeitige Oppositionsparteien künftig aus dem Parlament zu kicken droht, ist das nicht nur ein verfassungspolitisches Problem, und das nicht nur im Hinblick auf die größere der beiden betroffenen Parteien.
Beitrag und Kommentare verwandeln Argumente, die eine Möglichkeit des Gesetzgebers eröffnen sollten, recht nahtlos in dessen Pflicht. Das zusammen mit der hoch gehaltenen Situativität der Maßstäbe würde die verfassungsrechtlichen Vorgaben endgültig ebenso rigide wie unvorhersehbar machen.
Naja, die Rigidität ist bezüglich Eingriffen in den politischen Wettbewerb (potenziell allein durch Nichtstun) ja durchaus Zweck der Sache und insofern schon vorhersehbar. Man muss sich halt von der Vorstellung verabschieden, das allein anhand formaler Kriterien beurteilen zu können. Das würde dann auch von sinnloser Rigidität an anderer Stelle befreien.
In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, wo sich die politische Landschaft erst geformt hat, war das schon anders, aber im Lauf der Zeit ist es auch dem BVerfG immer mehr darum gegangen, den Bestand zwar für organische Veränderungen offen zu halten, aber andererseits vor unilateralen Veränderungen – ob gewollt oder unbeabsichtigt – zu schützen. Die Dogmatik entspricht dem halt bisher nur sehr beschränkt.
“Man muss sich halt von der Vorstellung verabschieden, das allein anhand formaler Kriterien beurteilen zu können.”
Damit verabschiedet man sich allerdings auch von der Vorstellung, die Wahlrechtsreform nach Maßstäben des Rechts und nicht des politischen Wohlwollens zu beurteilen. Das Wahlrecht dient nicht dazu, politischen Artenschutz zu betreiben und insbesondere dient es nicht dazu, bisherige Mehrheiten aufrechtzuerhalten – Die Karten werden bei jeder neuen Wahl neu gemischt. Die Stimmensicherung bei Mehrheitswählern ist gesellschaftliche Aufgabe der Parteien, keine Garantiemaßnahme der Verfassung. Wenn es Linke und CSU beim neueren Wahlrecht schwerer haben, ins Parlament zu kommen, sollte man ihnen empfehlen, einen größeren Kreis an Bürgern mit ihrem Programm anzusprechen, um nicht in die befürchtete Versenkung zu geraten. Dass das den Parteien keine Option zu sein scheint, ist sehr bedenklich aber leider bezeichnend für die politische Landschaft Deutschlands.
Natürlich sollte man den Status quo nicht zu zementieren versuchen. Natürlich gibt es da Pfadabhängigkeiten. Aber Ihre Antwort ignoriert trotzdem, dass es möglicherweise sehr wohl regionale Unterschiede gibt – die sich natürlich auch ändern können, aber soziologisch und historisch sind sie erst einmal da. Staatsprinzip ist auch das Bundesstaatsprinzip, genauso wie das Demokratieprinzip..
Das Verfassungsgericht hat in seinem letzten Urteil klar darauf hingewiesen, dass die Zweitstimme als die “wichtigere Stimme” gewertet werden soll, wahrscheinlich, damit Parteien eine wichtige Funktion zugesprochen wird, die die Gesellschaftströmungen bündeln und vereinen.
Für den Fall, dass Direktmandat einer Partei nicht besetzt würden haben es die Parteien selbst in der Hand einen Teil ihrer Listenplätzen für die vermeintlich nicht besetzten Direktmandate zu räumen, und darüber innerhalb der Parteien die Direktmandate aufzuwerten!
Der Minderheitenschutz bei mindestens 3 Direktmandaten, hätte man beibhalten sollen, um Minderheiten zu ermutigen, sich politisch lokal zu engagieren