17 March 2023

Ein ernsthafter Fehler

Am 24. Januar 2023 haben die Ampelparteien eine neue Wahlrechtsreform vorgelegt, die vorsieht, Überhangmandate abzuschaffen. Stattdessen sollen künftig über die sog. Zweitstimmendeckung die über die Verhältniswahl gewonnenen Stimmen vermittels der Wahlkreise aufgefüllt werden. Das soll den jüngst stetig gewachsenen Bundestag verkleinern und auch künftig klein halten. Nach der ersten Lesung des Entwurfs haben die Koalitionsparteien den Entwurf jetzt um eine weitere Änderung ergänzt, die mit diesem Ziel nicht im Zusammenhang steht:1) Nach dem bisherigen Bundeswahlrecht sieht die sog. Grundmandatsklausel eine Ausnahme von der 5 %-Hürde vor. Danach ziehen bisher auch Parteien, die an der 5 %-Hürde scheitern, mit ihren prozentualen Stimmanteilen in den Bundestag ein, wenn sie drei Direktmandate gewinnen. Über die Regelung ist bei der letzten Bundestagswahl Die Linke, die zwar nur 4,9 %, aber in den neuen Bundesländern drei Direktmandate hatte, in das Parlament eingezogen. Die CSU, die, weil sie nur in Bayern antritt, bundesweit 5,2 %, in Bayern aber 44 der 45 Direktmandate in Bayern gewonnen hatte, war knapp nicht auf sie angewiesen. Diese Grundmandatsklausel möchten die Ampelparteien jetzt streichen. Das ist nicht nur ein verfassungspolitischer Fehler ersten Rangs (1). Es trifft auch auf robuste verfassungsrechtliche Einwände (2).

Verfassungspolitischer Fehler

Dieser Schritt begeht einen ernsthaften verfassungspolitischen Fehler. Wahlrechtsreformen sind auf besondere Weise auf die Fähigkeit der Parteien angewiesen, vom eigenen politischen Vorteil zu abstrahieren und staatspolitisch ein für alle Parteien gleichermaßen faires System zu entwickeln. Nur so schützen sie die Integrität des demokratischen Prozesses. Aus diesem Grund zählt der Allparteienkonsens zurecht als ideales Verfahren solcher Reformen. Konsensverfahren scheitern freilich dann, wenn eine Oppositionspartei die Gelegenheit ausschlägt, ihrerseits vom eigenen, schwer zu rechtfertigenden politischen Vorteil auf das Funktionieren des Gesamtsystems zu abstrahieren. Aber selbst in diesem Fall müssen die Mehrheitsparteien demokratietheoretisch das Funktionieren des Gesamtsystems im Blick behalten und dürfen nicht ihrerseits auf den nackten Vorteil schauen. Die Streichung der Grundmandatsklausel erscheint aber exakt so: Würde die CSU bei der nächsten Bundestagswahl „nur“ auf 4,9 % kommen, aber (was rechnerisch möglich ist), in Bayern wieder 44 von 45 Wahlkreisen gewinnen, zöge sie nach dem neuen Entwurf überhaupt nicht in den Bundestag ein. So erweckt die jüngste Änderung den unguten Anschein einer Vorteilssuche politischer Mehrheiten vermittels des Wahlrechts, die in den Vereinigten Staaten zurecht seit langem beklagt wird. Wie es in der Sachverständigenanhörung zum früheren Entwurf gesagt wurde: „Die Grundmandatsklausel beizubehalten, ist für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs […] unabdingbar.“

Verfassungsrechtliches Problem

Nun übersetzt sich nicht jedes verfassungspolitische in ein verfassungsrechtliches Argument. Es kann gut sein, dass eine Reform verfassungspolitisch falsch, verfassungsrechtlich aber zulässig ist. Und überblickt man die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundmandatsklausel, scheint tatsächlich wenig gegen ihre Abschaffung zu sprechen. Weil die Klausel als Rückausnahme von der 5 %-Klausel kaum zur Geltung kam, hatte sich das Bundesverfassungsgericht lange nur beiläufig zu ihr geäußert.2) Erst 1994, als die PDS wegen ihrer vier Direktmandate in Berlin über sie in den Bundestag einzog, hat das Gericht die Klausel 1997 für verfassungsmäßig erklärt: Indem sie Parteien trotz der 5 %-Hürde wegen ihrer „politischen Bedeutsamkeit“ dennoch berücksichtige, diene sie der „Integration des Staatsvolks“.3) „Gelingt es in seltenen Ausnahmefällen einer Partei, mit ihren Kandidaten mehrere Wahlkreismandate zu erringen, ohne aber in ihrem Gesamtergebnis die Sperrklausel zu überwinden, so kann der Gesetzgeber in diesem sich bereits in Parlamentssitzen niederschlagenden Erfolg ein Indiz dafür sehen, daß diese Partei besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen.“4)

Nicht systemwidrig

Diese bisherige Rechtsprechung spricht so auf den ersten Blick dafür, dass die Klausel verfassungsrechtlich zwar zulässig, aber nicht geboten ist. Ein weiterer Punkt kommt zudem hinzu: Mit den Wahlkreisen knüpft die Klausel vordergründig an einem Element der Mehrheitswahl an. Die derzeitige Reform bewegt sich aber noch einmal deutlicher auf eine reine Verhältniswahl zu. Darauf beruft man sich, um die Streichung der Klausel zu rechtfertigen. Im neuen Modell stelle die Grundmandatsklausel einen „Systembruch“ dar. Denn die Wahl in den Wahlkreisen diene der vorrangigen Besetzung über die Zweitstimme errungener Sitze und nicht wie bisher der Personenwahl.

Dieses Argument knüpft an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht an. Danach ist der Gesetzgeber bekanntlich frei, auf dem Spektrum zwischen reiner Verhältniswahl und reiner Mehrheitswahl selbst ein Wahlsystem zu wählen. Hat er ein System gewählt, muss er dieses aber in sich „folgerichtig“ umsetzen.5) Weil die Grundmandatsklausel mit der Personenwahl an ein Mehrheitswahlelement anknüpfe, sei sie im geplanten „reinen Verhältniswahlrecht“ jetzt nicht nur nicht gefordert, sie verstoße auch gegen das neue Grundsystem. Man müsse sie daher streichen, um die Reform verfassungsmäßig zu halten.

Dieses Argument stimmt schon für sich genommen nicht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Grundmandatsklausel in das neue System weniger selbstverständlich einfügt.6) Sie markiert aber keinen solchen Systembruch mit einem reinen Verhältniswahlsystem, dass sie die Reform verfassungswidrig werden ließe. Genau genommen dient sie nämlich nicht der Personenwahl,7) sondern sichert gegenüber der 5 %-Klausel den Parteien den Einzug ins Parlament, die (im Vokabular des BVerfG von 1994) eine – in aller Regel regionale – „politische Bedeutsamkeit“ besitzen, die sich dadurch zeigt, dass sie einzelne Wahlkreise gewonnen haben.8) Indem er die Wahlkreise auch im neuen System – wenn auch in abgeschwächter Relevanz – weiterführt, macht der Reformgesetzgeber selbst deutlich, dass ihm diese regionale Komponente wichtig bleibt. Die Ungleichbehandlung gegenüber Parteien, die ebenfalls an der Sperrklausel gescheitert sind, aber keine drei Wahlkreise gewonnen haben, hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit zwar mit der Verbindung zwischen Verhältnis- und Personenwahl begründet.9) Aber auch die abgeschwächten Wahlkreise können im neuen Modell diese Differenzierung tragen.

Quantität schlägt in Qualität um

Die Grundmandatsklausel ist so auch im neuen System gut zu rechtfertigen. Aber ist sie umgekehrt geboten? Diese Frage hat sich bisher nicht gestellt, weswegen sich das Bundesverfassungsgericht zu ihr noch nicht hat äußern müssen.10) Zwei Dinge sind für die Antwort zu beachten. Erstens will der Reformgesetzgeber zwar bei der Stimmenzuteilung jetzt eindeutig11) auf eine reine Verhältniswahl umstellen. Im „nachgelagerten“ Modus der Kandidatenwahl hält er aber an den Wahlkreisen fest und lässt auch die Listen weiterhin in den Ländern aufstellen. Er entscheidet sich so mit guten Gründen dafür, die Vorteile dieser Regelungen zu erhalten. Diese Vorteile sind, wie erwähnt, neben einer vergleichsweisen Personalisierung der Kandidatenauswahl vor allem ihre Regionalisierung.12)

Dieses Nebenziel der Reform trifft sich zweitens in einem wichtigen Punkt mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur 5 %-Klausel. Von Anfang an hat das Gericht die Klausel deswegen als gerechtfertigt angesehen, weil sie nur auf „Splitterparteien“ ziele. Sie dürfe aber nicht dem Ziel der Verhältniswahl entgegenlaufen, alle (in einer Formulierung von Hermann Heller) „bedeutsamen politischen Parteien“ ins Parlament gelangen zu lassen.13) In seinem ersten Urteil hierzu hatte das Gericht die 7,5 %-Klausel in Schleswig-Holstein aus diesem Grund gekippt: Der Südschleswigsche Wählerverband war an ihr gescheitert, obwohl er im Schleswiger Landesteil über 20 % erhalten hatte.14) So hat das Gericht nicht nur früh festgestellt, dass die Verhältniswahl selbst das Ziel hat, alle, auch regional, „politisch bedeutsamen“ Gruppen abzubilden; es hat auch im Konflikt zwischen diesem Ziel und einer Sperrklausel jedenfalls für gewichtige Fälle eine Lösung vorgezeigt. In seinem Urteil von 1997 hat das Gericht den Gewinn von drei Wahlkreisen, wie erwähnt, als ausreichendes Indiz für eine solche „politische Bedeutsamkeit“ akzeptiert und die Grundmandatsklausel deswegen als gerechtfertigt angesehen.15)

Vor diesem Hintergrund stellt sich die eigentliche verfassungsrechtliche Frage: Ab welchem Punkt wird dieses gemeinsame Ziel von Verhältniswahl und Regionalisierung, alle (auch regional) politisch bedeutsamen Richtungen ins Parlament zu bringen, durch die jetzt ausnahmslose 5 %-Klausel systemwidrig konterkariert?16) Jedenfalls ab dem Punkt, an dem eine nur in einem Land antretende Partei ihre politische Bedeutsamkeit in dem Grad beweist, dass sie in diesem Land fast alle Wahlkreise gewinnt,17) dann aber mangels Grundmandatsklausel (oder eines ähnlichen Mechanismus) nicht in den Bundestag einzieht, d.h. nach der neuen Regelung nicht nur praktisch alle Wahlkreisgewinner dieses Lands nicht in den Bundestag gelangen, sondern noch dazu ein gesamtes Land wahlrechtlich überhaupt nicht mehr proportional getreu abgebildet wird, erreicht ein Wahlrecht den Grad der Systemwidrigkeit und muss ihn erreichen. Spätestens in einem solchen extremen Fall schlägt, kurz gesagt, die Quantität in Qualität, in ein verfassungsrechtlich ernstzunehmendes Legitimationsproblem für das Wahlsystem und seine Integrationsleistung, um.18) Das bedeutet nicht, dass ausgerechnet die Grundmandatsklausel in ihrer bisherigen Gestalt verfassungsrechtlich geboten ist. Aber ohne einen Mechanismus, der als notwendiges Bindeglied zwischen regional sensibler Verhältniswahl und Sperrklausel vermittelt, bleibt die Reform in ihrer derzeitigen Gestalt verfassungsrechtlich deutlich angreifbarer als zuvor.19)

Starke verfassungspolitische Intuitionen müssen sich, wie erwähnt, nicht notwendig in verfassungsrechtliche Argumente übersetzen. In einem derart sensiblen Bereich wie einer mit nur einfacher Mehrheit getragenen Wahlrechtsreform sollten sie es funktional aber, und hier tun sie es.

References

References
1 Daneben haben sie die Größe des Bundestags leicht von 598 auf 630 angehoben, um die Zahl der leer ausgehenden Wahlkreise zu vermindern. Zum fehlenden Zusammenhang gleich unten 2.
2 S. aber BVerfGE 6, 84.
3 BVerfGE 95, 408 (421).
4 BVerfGE 95, 408 (422 f.).
5 BVerfGE 1, 208 (246); 131, 316 (334 f. Rn. 54).
6 Zum Zusammenhang der Klausel mit dem alten System schon BVerfGE 6, 84.
7 Dafür hätte es sie im alten System auch gar nicht gebraucht: Die Personen zogen ja so oder so über das Direktmandat in den Bundestag ein.
8 Wie hier v. Achenbach/Meinel/Möllers, Ausschuss-Drs. 20(4)171 H, S. 7.Dabei ist tatsächlich irrelevant, ob die Klausel historisch nicht eindeutig diese Funktion haben sollte (wobei die DP, die bis 1994 am meisten von ihr profitierte, eine protestantisch-bürgerliche, regional in Niedersachsen verwurzelte Partei war). Was zählt ist, dass sie seit mindestens 40 Jahren diese Funktion erfüllt.
9 BVerfGE 6, 84.
10 S. allerdings gleich bei Fn. 14.