22 December 2020

Ein Freund, ein guter Freund

Der Kompromiss mit den Regierungen Ungarns und Polens bezüglich des Rechtstaatsmechanismus hat eine Menge – berechtigter – Kritik erfahren. Das Appeasement von Regierungen, die gegen die Grundwerte der EU verstoßen, ist zwar in der Logik der Institutionen und des politischen Handelns in der EU tief verwurzelt. Aber die zahme deutsche Reaktion auf die Eskapaden der ungarischen Regierung hat durchaus strukturelle Gründe, die weit über die Logik der EU-Entscheidungsprozesse hinausgehen. Der perpetuierte Empörungsloop über das ungarische Regime in deutschen Feuilletons und Polit-Talkshows, an dem regelmäßig auch Regierungspolitiker teilnehmen, verbirgt die Realität: Nämlich, dass die deutsche Regierung, und vor allem die deutsche Wirtschaft, sich längst mit dem ungarischen Regime zum gegenseitigen Interesse und Nutzen arrangiert hat.

Obwohl die ungarische Regierungspartei Fidesz mit ihren autoritären Tendenzen und ihrer immer schrilleren europafeindlichen und fremdenfeindlichen Politik und Rhetorik inzwischen der AfD viel nähersteht als der CDU und CSU, bleiben die drei miteinander weiterhin tief verbunden. Der Chef des ungarischen  Ministerpräsidentenamtes, Gergely Gulyás,  reist regelmäßig nach Berlin, um sich dort mit CDU-Funktionären, unter anderem mit Wolfgang Schäuble, zu beraten. Auch in den Budapester Publikationen und Veranstaltungen der Partei-Stiftungen KAS und HSS zeichnen sich eine heile Welt der Mitte-Rechts Kooperation ab. Kritische Töne zur Regierung oder ihrer Politik sucht man dort vergebens, regierungskritische konservative Intellektuelle auch.

Es liegt auch ausschließlich an der CDU und CSU, dass Fidesz noch Mitglied in der Europäische Volkspartei (EPP) ist, auch wenn dessen Fraktionsvorsitzender, Manfred Weber, immerhin ein CSU-Parteigenosse, von Fidesz-Politikern und Viktor Orbán höchstpersönlich regelmäßig beleidigt wird. Egal wie sehr die ungarische Regierung die Lage eskaliert, zuverlässig meldet sich ein/e CDU oder CSU-PolitikerIn zu Wort, um zur De-Eskalation aufzurufen  – und zwar die eigene Seite.

Das alles kann man natürlich als politische Frage abtun: Wenn sich CDU und CSU mit solchen Parteien zusammentun möchten, das ist ihr gutes Recht, man muss sie ja nicht wählen.

Für die merkwürdig nachgiebige deutsche Haltung gegenüber Ungarn gibt es allerdings einen weiteren Grund, den jede künftige deutsche Regierung, egal welche Farbe, in Betracht ziehen wird müssen: deutsche Unternehmen machen blendende Geschäfte in Ungarn, oft mit der massiven Unterstützung der ungarischen Regierung. Ungarn ist einer der wichtigsten Handelspartner Deutschland innerhalb der EU, der Standort Ungarn ist für deutsche Investoren, insbesondere in der Autobranche, mittlerweile von globaler Bedeutung. Die Audi-Werke in Győr etwa sind der größte Motorenhersteller der Welt: inzwischen werden alle Motoren für Audi in Ungarn hergestellt. Damit ist das Motorenwerk für fast 1,4 % des ungarischen GDP verantwortlich. Mercedes fertigt im ungarischen Kecskemét fast 200.000 Autos im Jahr. Insgesamt macht die lokale Produktion der deutschen Autoindustrie in Ungarn für fast 10% des ungarischen Bruttonationaleinkommens aus.

Der Einfluss gilt allerdings auch umgekehrt: die ungarische Regierung hat durch Steuersetzung, Gesetzgebung, und Fördermittel einen beachtlichen Einfluss auf die Geschäftszahlen von deutschen Großkonzernen, in der Autobranche sogar auf deren globalen Zahlen. Die Regierung bei Laune zu halten ist demzufolge gut fürs Geschäft. Hieraus ist eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen deutschen Großkonzernen, der ungarischen und der deutschen Regierung entstanden, die sich auch in Brüsseler Machtspielen widerspiegelt. Der Konflikt um den Rechtsstaatsmechanismus ist nur der lauteste davon. Um zu verstehen, wie diese Abhängigkeit funktioniert und welche Rolle die Rechtstaatlichkeits-Problematik darin spielt, muss man zuerst die Natur der ungarischen Volkswirtschaft verstehen.

Die politische Ökonomie des Illiberalismus

Insbesondere drei Faktoren sind dabei von besonderer Bedeutung: die Rolle des ausländischen Kapitals, die Logik der heutigen ungarischen Wirtschaftspolitik und die Rolle der EU-Fördergelder.

Ausländische Unternehmen spielen seit dem Ende der kommunistischen Diktatur eine wichtige Rolle in der ungarischen Wirtschaft. Ungarn war damals relativ gut gerüstet, was ausgebildete Arbeitskräfte, Infrastruktur, ein stabiles politisches System, eine für die Wirtschaft günstige Rechtslage und eine relativ effiziente Bürokratie betrifft. Nur eines fehlte: heimisches Kapital. Ungarn war eine „Kapitalismus ohne Kapitalisten”. Auslandskapital nach Ungarn zu locken war höchste wirtschaftspolitische Priorität, egal wer an der Macht war.  Gelockt wurden Investoren mit diversen Mitteln wie Steuerbefreiung, direkter staatlicher Förderung oder schwache Arbeitnehmerrechte. Dank diesen ausländischen Unternehmen ist die ungarische wirtschaftliche Entwicklung nach der Wende eine Erfolgsgeschichte: das Land hat den Schock der wirtschaftlichen Umstellung relativ gut verarbeitet, die Wirtschaft wuchs, die Integration in europäische Lieferketten lief reibungslos, in manchen Zweigen, etwa in der Autobranche, sind ungarische Unternehmen inzwischen global wettbewerbsfähig. Dies hatte allerdings auch ihren Preis: es wurde toleriert, dass ausländische Unternehmen etwa durch Verrechnungspreisgestaltung unzählige Milliarden am ungarischen Fiskus vorbei aus dem Land schafften.

Die Orbán-Regierung hat diese Wirtschaftspolitik in einer wichtigen Weise geändert: heimisches Kapital, die Entstehung einer „nationalen Bourgeoisie“ wurde zum wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziel erklärt. Es wurden auch Sektoren festgelegt, in denen eine Anteilsmehrheit in ungarischen Händen erwünscht war: Energie, Medien, Banken und Einzelhandel.

Diese heimische Kapitalisten-Klasse hat sich die Regierung selber geschaffen. Durch öffentliche Auftragsvergabe und vor allem EU-Fördergelder wurden Unternehmer, quasi aus dem Nichts, innerhalb von ein paar Jahren zu Großkapitalisten hochgezogen. Lőrinc Mészáros etwa, ein Jugendfreund des Ministerpräsidenten und jahrzehntelang ein respektierter Heizungsinstallateur in dessen Geburtsdorf, hat sein Vermögen seit 2010 vertausendfacht, fast ausschließlich durch staatliche Aufträge. Inzwischen ist Mészáros Dollar-Milliardär und einer der reichsten Männer des Landes. Er verfügt über ein Investment-Portfolio, welches von Banken bis Medien reicht.

Diese vom Staat und vor allem von EU-Steuerzahlern geschaffene „nationale Bourgeoise“ bleibt, da sie nicht vom Markt lebt, von der Regierung abhängig. Und tanzt nach deren Pfeife, indem sie ihre wirtschaftspolitischen Ziele verfolgt, etwa durch den Ankauf von Unternehmen in Branchen, die nach Regierungswünschen in ungarischem Besitz sein sollen.

EU-Fördergelder spielen in einer weiteren Hinsicht eine wichtige Rolle. Der Einfluss von Euro-Milliarden ermöglicht es der Regierung, eine äußerst konservative Fiskalpolitik zu betreiben, ohne dafür auf staatliche Ausgaben verzichten und den politischen Preis für diese Sparpolitik bezahlen zu müssen. Die Unternehmenskosten und Steuern sind niedrig, die Maastrichter Kriterien werden spielend erfüllt; die EU-Gelder sorgen gleichzeitig für massive Investitionsprogramme etwa in Infrastruktur und in staatliche Dienstleistungen.

Und wie finden sich ausländische Unternehmen in diesem neuen Geschäftsumfeld zurecht? Das hängt davon ab, in welcher Branche sie tätig sind.

Für ausländische Unternehmen in Branchen, in denen die Regierung mehrheitlich heimische Besitz anvisierte, kam das Menetekel schnell: Unter Berufung auf die Wirtschaftskrise wurden etwa in 2010 Sondersteuern eingeführt, die so ausgelegt wurden, dass sie Unternehmen in ausländischen Besitz viel mehr betrafen als die Heimischen. Da viele solcher Investoren kaum Steuer in Ungarn bezahlten, wären gegen eine Sondersteuer im Prinzip nichts zu sagen. Allerdings wurde sie äußerst selektiv eingeführt, ausschließlich in Sektoren, in denen die Regierung einen höheren Anteil von heimischem Besitz anvisierte: im Einzelhandel, der Energie- sowie der Medienbranche.  So lässt sich leicht zeigen, wie das Zusammenspiel von Regierungspolitik, und wirtschaftlichem Eigeninteresse ausländischer Unternehmen die heutige teilweise gleichgeschaltete Medienlandschaft hervorgebracht hat.

Regierungsgeleitete Medienkonzentration ist ein gutes Geschäft

Die in der Medienbranche eingeführte Sondersteuer war für alle Medienunternehmen schmerzhaft. Die, die ohnehin schon rote Zahlen geschrieben hatten, etwa ein zum Axel-Springer Verlag gehörendes diverses Portfolio aus Regionalzeitungen, landete, immerhin zu einem relativ guten Verkaufspreis, zunächst bei dem regierungsnahen Oligarchen Lőrinc Mészáros und schließlich – so viel zur Unabhängigkeit der „nationalen Bourgeoisie“ – bei der Stiftung „KESMA“ (Mitteleuropäische Presse- und Medien-Stiftung“), der die jeweiligen regierungsfreundlichen Oligarchen ihre milliardenschwere Medienportfolios gratis überließen.

Origo.hu, damals das meistbesuchte Newsportal des Landes, wurde von Magyar Telekom, einer Tochter der Deutschen Telekom, an einen regierungsnahen Oligarchen verkauft. Neben der Sondersteuer musste Magyar Telekom damals um die Verlängerung ihrer Mobilfunk-Konzession bangen. Berichte auf origo.hu über vom Steuerzahler bezahlte luxuriösen Wochendend-Trips des damals mächtigen Chefs des Ministerpräsidentenamtes, János Lázár, waren da nicht gerade hilfreich. Nachdem staatliche Werbeaufträge plötzlich zu Konkurrenten mit viel niedrigeren Besucherzahlen wanderten, entschloss sich Magyar Telekom, das Portal zu verkaufen. Immerhin zu einem guten Preis, von dem auch der deutsche Fiskus profitierte. Der damalige Chefredakteur ging, und heute ist origo.hu eine wenig gelesene, seltsame Ecke ungarischer Regierungspropaganda, spezialisiert auf frei erfundene Verunglimpfungen von Oppositionspolitikern und diverse bizarre „Enthüllungen“ (etwa dass Peter Altmaier als Agent von George Soros agiert).

Von dem Interesse der Regierung an einem weitreichenden Medien-Portfolio profitierte auch ProSiebenSat.1. Zu dieser Gruppe gehörte damals der zweitgrößte ungarische Privatsender TV2. Das Geschäft lief nicht gut, der Sender war ihrem – ebenfalls in deutschen Händen (Bertelsmann-Gruppe) befindlichen – Konkurrenten RTL Klub unterlegen. Die sich damals geplante Werbungssteuer hätte die sowieso dünnen Geschäftszahlen weiter verschlechtert. Also entschied sich ProSiebenSat.1, den Sender über komplizierte rechtliche Umwege an den regierungsnahen Oligarchen Andy Vajna zu verkaufen. Den großzügigen Verkaufspreis bezahlte Vajna mit einem Kredit der staatlichen Investitionsbank Eximbank. Heute gehört der Sender wiederum Lőrinc Mészáros, und ihre Nachrichtensendung tut sich ebenfalls durch bizarre Regierungspropaganda hervor.

Allerbeste Freunde

In den Branchen hingegen, die nicht ins Visier der Regierung geraten sind, etwa in der Autobranche, blieb alles unverändert. Sie können weiterhin auf staatliche Geschenke wie Steuererleichterungen, direkte Förderung, und branchenfreundliche Regulierung hoffen. Das meist verwendete Förderungsmittel ist dabei direkte Förderung von individuellen Unternehmen durch spezifische Regierungsentscheidung: Von zirka 840 Millionen Euro Steuern, die deutsche Großkonzerne 2019 an den ungarischen Fiskus zahlten, flossen etwa 122 Millionen an die Unternehmen in dieser Form zurück. Dass Ungarn ein verlässlicher Standort ist, zeigt sich auch daran, dass sich nach Audi und Mercedes auch andere Autohersteller für Ungarn entschieden haben: BMW baut gerade ein eigenes Werk in the ostungarischen Stadt Debrecen. 

Ferner bleibt die ungarische Regierung weiterhin ein effizienter und verlässlicher Lobbyist in Brüssel, wenn es um für die Autoindustrie wichtige Fragen wie etwa die Emissions-Regelung geht. Hier wird das Verhalten Ungarns eng mit der deutschen Regierung abgestimmt.

Die gegenseitige Abhängigkeit ist also sowohl für die ungarische und die deutsche Regierung als auch für die deutsche Industrie vorteilhaft. Und es ist unter anderem dieses Gleichgewicht, welches der ungarischen Regierung einen gewissen Schutzschirm gibt, hinter dem sie ihre Attacke auf die demokratischen Institutionen weiterführen kann, ohne dafür schwerwiegende politische Konsequenzen fürchten zu müssen.

Illiberalismus? Welcher Illiberalismus?

In politischen aber auch in wissenschaftlichen Diskursen werden Angriffe auf rechtsstaatliche Institutionen oft generalisiert: Sie gelten allen, Unternehmen wie Normalbürgern. Erfahrungen etwa aus Russland scheinen dies zu bestätigen. Die Justiz wird oft für Unternehmenskonflikte und politische Vendetten auf allen Ebenen instrumentalisiert. Jeder kann sich plötzlich am falschen Ende eines rechtlichen Prozesses gegenüber einem einflussreichen Oligarchen, Bürokraten oder Politiker wiederfinden.

Doch die Parallele zwischen Ungarn und Russland ist irreführend. Dass das eigene Investment wie bei Yukos in Russland über Nacht dem Erdboden gleichgemacht wird, müssen ausländische Investoren in Ungarn nicht fürchten. Raub durch Sicherheitsorgane, in Russland “reiderstvo” genannt, gibt es in Ungarn auch nicht. Wenn die ungarische Regierung eine Branche oder ein Unternehmen übernehmen will, schickt sie nicht die Sicherheitsorgane. Das schlimmste, was passieren kann, ist, dass mit öffentlichen Geldern ausgestattete regierungsnahe Oligarchen mit großzügigen Kaufangeboten auftauchen.

Individualisierte Gesetzgebung, etwa Sondersteuern, mögen tatsächlich willkürlich wirken. Die Grenzen zwischen legitimen regierungspolitischen Prioritäten und Missbrauch sind allerdings verschwommen. Solche Instrumentalisierungen der Regulierung sind sowieso selten: Die rechtliche Umgebung bliebt für ausländische Investoren weiterhin unternehmensfreundlich, die Steuern und Lohnkosten niedrig.

Selektive Rechtsanwendung durch die Behörden, ist auch nicht unbedingt zu befürchten. Kein/e ManagerIn oder Angestellte/r eines ausländischen Unternehmens wird aufgrund falscher Tatsachen angeklagt. Der Staat agiert nicht willkürlich, s