Ein Recht auf Kopftuch im Gerichtssaal
Am 18. September 2018 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Lachiri v Belgium erstmals zugunsten des Rechts muslimischer Frauen geurteilt, ein Kopftuch zu tragen. Konkret ging es um den Ausschluss einer Prozessbeteiligten aus dem Gerichtssaal als Folge ihrer Weigerung, ihr Kopftuch abzulegen. Hierin erkannte der EGMR eine Verletzung der in Artikel 9 EMRK verankerten Religionsfreiheit. Das Urteil zeigt, dass der margin of appreciation der Mitgliedstaaten doch nicht grenzenlos ist – auch dann nicht, wenn es um die Rechte muslimischer Frauen geht.
Hagar Lachiri wollte 2007 als Nebenklägerin an der mündlichen Verhandlung im Strafverfahren betreffend die Tötung ihres Bruders teilnehmen. Nachdem sie der Aufforderung, ihr Kopftuch abzulegen, nicht nachgekommen war, wurde sie aus dem Gerichtssaal des Brüsseler Berufungsgerichtes verwiesen.
Das Gericht stützte die Aufforderung, das Kopftuch abzunehmen, sowie den anschließenden Ausschluss aus dem Gerichtssaal auf Artikel 759 des Belgischen Code Judiciaire (BCJ). Danach müssen Personen, die an mündlichen Verhandlungen teilnehmen, dies mit unbedeckten Köpfen tun und sich respektvoll und still verhalten.
Den Ausführungen Lachiris zufolge wird in der gerichtlichen Praxis im Falle von jüdischen Kippas, katholischen Nonnenhabiten sowie Turbanen von Sikhs von der Anwendung des Artikel 759 BCJ abgesehen, während die Norm gegenüber muslimischen Kopftuchträgerinnen vielfach zur Anwendung kommt.
Die Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof erkennt im Ausschluss der Beschwerdeführerin aus dem Gerichtssaal eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung ihrer Religionsfreiheit aus Artikel 9 EMRK. Für die Rechtfertigung einer derartigen Beschränkung müssen dreierlei Voraussetzungen vorliegen: Die Beschränkung muss „gesetzlich vorgesehen“ sein, sie muss eines der in Artikel 9 Abs. 2 EMRK benannten Ziele verfolgen, und sie muss „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein.
In Artikel 759 BCJ erkennt der EGMR zwar grundsätzlich die erforderliche Rechtsgrundlage für die Beschränkung, bezweifelt jedoch deren hinreichende Bestimmtheit: Dass die Gerichte die Norm in Fällen religiöser Bekleidung uneinheitlich auslegten und anwendeten, deute auf eine diesbezüglich bestehende Unsicherheit hin. Allerdings hält es der EGMR nicht für erforderlich, abschließend über die Bestimmtheit zu urteilen, da das Gesetz jedenfalls unverhältnismäßig sei.
Als legitimes Ziel der Norm erkennt der EGMR die Verhinderung respektlosen Verhaltens gegenüber Richter*innen sowie die Gewährleistung des ordnungsgemäßen Ablaufs der mündlichen Verhandlung an, welche er als Teilaspekte des Schutzes der öffentlichen Ordnung i.S.v. Artikel 9 Abs. 2 EMRK versteht. Schwerpunkt der gerichtlichen Prüfung ist die Frage der „Notwendigkeit“ der Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft, also ihre Verhältnismäßigkeit.
Das Gericht trifft hier drei zentrale Unterscheidungen. Zunächst grenzt der EGMR Lachiri von seiner Entscheidung im Fall SAS v France ab: Es mache einen Unterschied, ob es, wie hier, um das Kopftuch gehe, oder aber – wie in SAS – um einen Schleier, der das gesamte Gesicht verhülle. Weiter befindet der EGMR für relevant, dass die Beschwerdeführerin eine Privatperson sei, und – anders als in Dahlab v Switzerland – keine Repräsentantin des Staates, deren Beamtenpflichten eine Begrenzung ihrer Religionsfreiheit rechtfertigen bzw. eine Zurückhaltung in ihrer Religionsäußerung gebieten können. Drittens sei zu unterscheiden zwischen Verboten mit Geltung für den gesamten öffentlichen Raum einerseits (wie in SAS) und solchen für „öffentliche Einrichtungen“ wie einen Gerichtssaal andererseits.
Zwar seien auch öffentliche Einrichtungen Teil des öffentlichen Raums im weiteren Sinne. Dennoch könne hier – im Unterscheid etwa zu öffentlichen Straßen und Plätzen – die Achtung der Neutralität Vorrang vor der Religionsausübungsfreiheit haben. Allerdings verweist der Gerichtshof darauf, dass Belgien vorliegend gerade nicht mit dem Ziel der Aufrechterhaltung staatlicher Neutralität argumentierte, weshalb auch eine diesbezügliche Rechtfertigungsprüfung nicht geboten sei.
So beschränkt sich der EGMR auf die Prüfung der geltend gemachten Notwendigkeit der Maßnahme zwecks Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung: Lag im Tragen des Kopftuchs eine Respektlosigkeit gegenüber den Richter*innen oder wurde der Ablauf der mündlichen Verhandlung durch das Kopftuch gestört? Dies, so der EGMR, gehe aus den Tatsachen des Falles nicht hervor, weshalb der Ausschluss aus dem Gerichtssaal in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig, und folglich auch nicht gerechtfertigt sei.
Leerstelle Beurteilungsspielraum
Besonders auffällig an dieser Entscheidung ist eine Leerstelle: Anders als in der ganz überwiegenden Zahl von Fällen mit Religionsbezug, verliert der EGMR in Lachiri kein Wort zum margin of appreciation. Wo immer es um religiöse Bekleidung ging, verwies der EGMR bisher regelmäßig auf den weiten Beurteilungsspielraum, welcher den Mitgliedstaaten in Fragen des Verhältnisses von Staat und Religion zukomme – freilich meistens, um einen Verstoß gegen die EMRK zu verneinen. Doch auch in Fällen, in denen eine Verletzung von Konventionsrechten festgestellt wurde, nahm der EGMR teils ausdrücklich Bezug auf den (weiten) margin of appreciation. In Hamidović v Bosnia and Herzegovina, Rn. 43 beispielsweise bekräftigte der EGMR: „[T]he domestic authorities exceeded the wide margin of appreciation afforded to them […] There has therefore been a violation of Article 9 of the Convention.”
Dabei wäre eine (tiefergehende) Thematisierung des Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten – unter gleichzeitiger Klärung seiner Grenzen – durchaus wünschenswert gewesen. Besonders wo es um die Rechte schutzbedürftiger Minderheiten geht, besteht ein Bedürfnis nach Klarheit darüber, in welchen Fällen der EGMR Rechtsbeschränkungen entgegentritt statt sie zu tolerieren. Wie Eva Brems darlegt, besteht dieses Bedürfnis gerade mit Blick auf muslimische Minderheiten, um zu verhindern, dass die Doktrin des margin of appreciation weiterhin als „Blankovollmacht“ für die vielfachen Beschränkungen ihrer Rechte dient.
Leerstelle Diskriminierung
Und noch eine weitere Leerstelle des Urteils fällt ins Auge: Im Unterschied zu anderen Entscheidungen über Verbote religiöser Bekleidung findet das Diskriminierungsverbot des Artikel 14 EMRK in Lachiri keine Erwähnung – und dies, obgleich die diskriminierende Dimension des Falles auf der Hand liegt: Die Beschwerdeführerin legt dar, dass regelmäßig Aufforderungen zur Entfernung muslimischer Kopftücher vor Gericht ergehen, während andere religiöse Kopfbedeckungen wie die jüdische Kippa und das katholische Nonnenhabit im Gerichtssaal toleriert werden. Hierin liegt ein Fall formaler Ungleichbehandlung zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen.
Darüber hinaus hätte es weitere Anknüpfungspunkte gegeben. So entfaltet bereits Artikel 759 BCJ selbst eine (mittelbar) diskriminierende Wirkung, da er von vornherein nur Angehörige solcher Religionen zu erfassen geeignet ist, welche religiöse Kopfbedeckungen vorschreiben. Und schließlich lässt sich auch die Gleichbehandlung religiöser und nicht-religiöser Kopfbedeckungen als Diskriminierung deuten, da – wie von Eva Brems et al. hervorgehoben – ein offensichtlicher Unterschied darin liegt, dass die Träger*innen ersterer den Schutz der Religionsfreiheit genießen.
Zwar wurde der Beschränkung der Rechte aus Artikel 14 EMRK auch in der Vergangenheit vom Gericht nicht immer eigenständige Bedeutung beigemessen (vergleiche etwa Hamidović, Rn. 47: „Since the applicant’s complaint relating to Article 14 amounts to a repetition of his complaint under Article 9 and having regard to the finding relating to Article 9 […] it is not necessary to examine whether, in this case, there has also been a violation of Article 14“).
Doch erscheint die Erfassung der gleichheitsrechtlichen neben der freiheitsrechtlichen Bedeutung des Falles für eine derart evidente Diskriminierung geboten. Die parallele Prüfung des Gleichheitsrechts dient der vollständigen Würdigung des Sachverhaltes mit all seinen Facetten, welche nicht zuletzt mit Blick auf eine präzise Bestimmung der Anforderungen an eine Rechtfertigung unabdingbar ist.
Trotz dieser Kritikpunkte ist die Entscheidung des Gerichtshofs zu begrüßen, manifestiert sich in ihr doch jedenfalls die faktische Existenz von Grenzen des margin of appreciation zugunsten eines bisher unterentwickelten europäischen Menschenrechtsschutzes muslimischer Frauen. Die Bedeutung des Urteils muss im Kontext einer europäischen Realität betrachtet werden, in welcher stetig neue Verbote des muslimischen Schleiers durch private Arbeitgeber, aber auch durch nationale Gesetzgeber, mit Geltung für immer neue öffentliche Einrichtungen oder gar für den gesamten öffentlichen Raum erlassen werden.
Es kann ein Konflikt zwischen Religion mit Sitzungspolizei vorliegen. Ein gebotener (Grundfreiheitsinteressen-)Ausgleich kann darin liegen, dass allein Bitte zum Ablegen einer Kopfbedeckung zunächst grundsätzlich zulässig sein kann. Relionen können ihrem Inhalt und damit ebenso ihrer erwartbaren “Staatsfreundlichkeit” nach verschieden sein. Insofern muss hier kein Gleichheitsgebot für alle religiösen Kopfbedeckungen genügend sicher folgen.
Verweis aus einem Gerichtssaaal kann unmittelbar oder mittelbar weniger genügend Religion, sondern eher nur allgemeine Handlungsfreiheit in Form eines Aufenthaltes als Zuschauer beschänken.
Eine Beschränkung kann hier zunächst im grundsätzlichen Gerichtsermessen bestehen und bei objektivem Anlass gesetzlich leichter möglich sein. Ein objektiver Anlass kann vorliegend möglich gegeben sein. So nämlich dadurch, dass einer zunächst nur bloßen Bitte nicht nachgekommen ist.
Religion und Gleichheit können, wie angeführt, von weniger Bedeutung sein.
Ein (wenigstens zunächst befristeter) Verweis im gerichtlichen Ermessen kann daher weniger genügend sicher ausschließbar, denkbar zulässig möglich scheinen.
P.S.: Frage kann bleiben, wieso es für ein Gericht von solch fundamntal unerbitllicher Bedeutung sein muss, ob im Gerichtssaal ein muslimisches Kopftuch getragen ist?
Umgekehrt kann zu fragen sein, wieso es für Muslima von solch (religiös) unerbitlich fundamentaler Bedeuung sein muss, gerade besonders während eines Gerichtsverfahrens um jeden Preis (bis zum EGMR) ein Kopftuch tragen zu müssen?
Islam soll grundsätzlich noch gemäßigtere Überzeugungen zulassen. Vermeintlicher Antifaschismus kann mitunter quasi ebenso geradezu faschistischen Charakter annehmen usw.
[Der Kommentar, auf den sich dieser Kommentar bezieht, wurde wegen Verstoßes gegen die Kommentierregeln gelöscht, d.Red.]
The most important Belgian laws have an official German translation.
“Code judiciaire” = “Gerichtsgesetzbuch”
art. 759. Die Anwesenden wohnen der Sitzung ohne Kopfbedeckung, in Ehrfurcht und in Stille bei; alles, was der Richter zur Aufrechterhaltung der Ordnung anordnet, wird genau und unverzüglich ausgeführt.
http://www.ejustice.just.fgov.be/cgi/article_body.pl?language=du&pub_date=2016-12-15&numac=2016000728&caller=summary
@ Peter Camenzind
Sie schrieben: “Religionen können ihrem Inhalt und damit ebenso ihrer erwartbaren “Staatsfreundlichkeit” nach verschieden sein. Insofern muss hier kein Gleichheitsgebot für alle religiösen Kopfbedeckungen genügend sicher folgen.”
Da erhebt sich die Frage: Wer beurteilt, von welcher Religion welche “Staatsfreundlichkeit” zu erwarten ist (nicht etwa faktisch zutage tritt)? Der Staat? Das ginge wohl schwerlich ohne Interpretation der fraglichen Religion und wäre damit ein glasklarer Verstoß gegen die Verpflichtung zur staatlichen Neutralität. Staatliche Interpretationen von Religionen haben in Deutschland keine rühmliche Geschichte und um dem “Nie wieder” Nachdruck zu verleihen, wurde solchen staatlichen Interpretationen ein Riegel vorgeschoben.
Stichwort Unerbittlichkeit. In der Tat ist die Frage, warum es für ein Gericht von fundamentaler Bedeutung sein soll, dass eine Muslima im Gerichtssaal kein Kopftuch trägt, berechtigt, denn die Funktion des Gerichts wird davon nicht tangiert. Gegenüber der Muslima (oder einem kippa- oder turbantragenden Mann) ist diese Frage jedoch nicht angemessen, sondern zeugt von religiöser Unmusikalität. Jemand, der aus religiöser Überzeugung etwas tut, wird sein rechtlich zulässiges Verhalten nicht ändern, nur, weil andere sich an seinem Anblick stören. Eines ist sicher: Die betroffene Muslima hat mit Sicherheit nicht “gerade besonders während eines Gerichtsverfahrens” ihr Kopftuch getragen. Solche Annahmen können sich nicht von dem Gedanken lösen, das Kopftuch sei ein politisches Zeichen – und nur das. Schade, dass Jahrzehnte der Aufklärung und Forschung immer noch nicht dazu geführt haben, diese Stereotype bewusst zu machen und sie zu hinterfragen.