„Ein Verdacht ist ein Verdacht ist ein Verdacht“
§ 362 Nr. 5 StPO auf dem Prüfstand des BVerfG
Mit dieser Wendung fasste Erol Pohlreich, Bevollmächtigter für die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und die FDP, das Dilemma um die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen treffend zusammen. Wie sehr wir uns auch in den Dienst der Wahrheitsfindung stellen, um „materielle Gerechtigkeit“ herzustellen, es bleibt ein Risiko. Das Risiko nämlich, dass ein zweites (oder drittes, usw.) Strafverfahren mit all seinen grundrechtlichen Belastungen für den Betroffenen erneut mit einem Freispruch endet oder aber – schlimmer noch – zu einer erstmaligen Verurteilung eines eigentlich Unschuldigen führt. Dass das reale Risiko von Fehleinschätzungen bei vorläufigen Entscheidungen – sei es die Anordnung von Untersuchungshaft oder die Wiederaufnahme des Verfahrens – gerade beim Mord besteht, belegte Pohlreich eindrücklich: Von 109 Personen, gegen die im Jahr 2021 in Deutschland wegen Mordverdachts Untersuchungshaft angeordnet worden war, wurden neun Personen später freigesprochen – in 6,77% der Mordfälle erwies sich also die – auch bei § 362 Nr. 5 StPO anzustellende – mit dem dringenden Tatverdacht getroffene Prognose im Nachhinein als falsch.
Sachverhalt und Stand der Rechtsprechung
Die mündliche Verhandlung des Zweiten Senats des BVerfG am 24. Mai 2023 betraf eine Verfassungsbeschwerde, mit der sich der Beschwerdeführer – ein im Jahr 1983 rechtskräftig von dem Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes Freigesprochener – gegen die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens nach § 362 Nr. 5 StPO wendet. Nach dieser Vorschrift darf ein Strafverfahren gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes [oder bestimmter Straftaten gegen das Völkerrecht] verurteilt wird.“ Hierin liege, nach Ansicht des Beschwerdeführers, ein Verstoß gegen den Satz, dass niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf (Art. 103 Abs. 3 GG) und gegen das Rückwirkungsverbot.
Vizepräsidentin Doris König wies bereits eingangs darauf hin, dass das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht Anlass gibt, sich mit bisher nicht geklärten grundsätzlichen Rechtsfragen auseinanderzusetzen. Das BVerfG hat sich in seiner Rechtsprechung bislang tatsächlich lediglich mit einzelnen Aspekten von Art. 103 Abs. 3 GG befasst: Das betrifft erstens den Begriff der „mehrfachen Bestrafung“ der sich im Wesentlichen auf rechtskräftige Strafurteile beschränken soll (z.B. BVerfGE 65, 377 für den Strafbefehl), zweitens die Frage, was unter dem Begriff der „allgemeinen Strafgesetze“ zu verstehen ist (s. etwa BVerfGE 21, 378 u. 391, d.h. vor allem Kriminalstrafen), drittens den Begriff „derselben Tat“ (BVerfGE 56, 22) sowie viertens die Frage nach einer Geltung des Satzes „ne bis in idem“ im allgemeinen Völkerrecht (BVerfGE 75, 1). Nicht beantwortet ist damit die Frage, wie das in Art. 103 Abs. 3 GG niedergelegte Verbot insgesamt zu verstehen, insbesondere ob es einer Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang zugänglich ist. Handelt es sich, wie die Berichterstatterin Astrid Wallrabenstein in ihrem Sachbericht fragte, um ein abwägungsfestes Verbot, das, vergleichbar zum Tatbegriff, nur „Grenzkorrekturen“ zulasse oder um ein abwägungsoffenes Grundrecht, und, wenn ja, welche Verfassungsgüter stünden dann dem Grundsatz „ne bis in idem“ gegenüber – materielle Gerechtigkeit oder etwa Angehörigenrechte?
Mehrfachverfolgung ≠ Mehrfachbestrafung (?) und die Frage der Abwägungsoffenheit
Zunächst befasste sich das BVerfG in der mündlichen Verhandlung aber mit der Frage, ob Art. 103 Abs. 3 GG neben einem Verbot mehrfacher Bestrafung auch ein Verbot mehrfacher Verfolgung enthält, da Wiederaufnahmeregelungen zuungunsten des Freigesprochenen wie § 362 Nr. 5 StPO anderenfalls gar nicht den Schutzgehalt des Satzes „ne bis in idem“ tangierten. Der Raum, den diese Debatte einnahm, war dennoch überraschend, entspricht es doch, wie auch Richter Thomas Offenloch betonte, nahezu einhelliger Auffassung, dass Art. 103 Abs. 3 GG bereits die erneute Strafverfolgung ausschließt (a.A. jüngst nur Letzgus). Dies wurde auch von den Bevollmächtigten der Fraktion CDU/CSU, Michael Kubiciel, sowie der Fraktion SPD, Elisa Hoven, im Grundsatz nicht infrage gestellt. Beide stellten sich aber auf den Standpunkt, dass der Wortlaut Folgen für die dogmatische Struktur des Art. 103 Abs. 3 GG haben müsse: Während dieser die erneute Bestrafung kategorisch ausschließe, sei das – nicht vom Normtext ausdrücklich erwähnte – Mehrfachverfolgungsverbot abwägungsoffen formuliert. Diese Unterscheidung stieß im Zweiten Senat indes auf Verwunderung. Die Berichterstatterin merkte – zu Recht – an, dass sich eine solche bisher weder in der Strafprozessrechts- noch in der Verfassungsrechtswissenschaft niedergeschlagen habe, was höchstens auf einen Mangel an Fantasie der jeweiligen Autoren*innen zurückgeführt werden könne. Sie fragte daher, ob es nicht – der Argumentation Pohlreichs folgend – plausibler sei, am Gleichlauf zwischen Mehrfachbestrafungs- und Mehrfachverfolgungsverbot festzuhalten, zumal schon mit dem Strafverfahren Grundrechtseingriffe verbunden seien, die sich nicht wiederholen sollen.
Außerdem machte Richterin Wallrabenstein auf einen Widerspruch in Kubiciels Argumentation aufmerksam. Wer nämlich das Mehrfachbestrafungsverbot als „Kernbereich“ von Art. 103 Abs. 3 GG für absolut verbürgt hält, hat es ungleich schwerer, § 362 Nr. 1-3 StPO, die allesamt Fälle mehrfacher Bestrafung betreffen, verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Richter Peter Müller fragte umgekehrt: „Kann § 362 Nr. 5 StPO denn überhaupt den Kernbereich berühren, wenn die § 362 Nr. 1-4 StPO es ja wohl nicht tun?“ Am ehesten der Unterscheidung etwas abzugewinnen, vermochte Richterin Christine Langenfeld, allerdings unter anderen Vorzeichen: Verabschiedete man sich nämlich entsprechend des Vorschlags der sachverständigen Auskunftsperson Tatjana Hörnle von der in BVerfGE 56, 22 angelegten Unterscheidung von Kern- und Randbereich, ließe sich das unterschiedliche Eingriffsgewicht von erneuter Bestrafung einerseits und erneuter Verfolgung andererseits entsprechend in die im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erforderliche Abwägung einstellen. Das führte – wie Vizepräsidentin König hervorhob – dann aber wiederum eher zur Verfassungswidrigkeit des § 362 Nr. 1-3 StPO. Etwas anderes ergebe sich nur, wenn man – wie die wohl h.M. (stellvertretend Degenhart Rn. 84 m.w.N.) im Unterschied zu den Verfahrensbevollmächtigten annimmt – das zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes geltende Prozessrecht, einschließlich des § 362 Nr. 1-4 StPO, als „immanente Schranke“ des Art. 103 Abs. 3 GG verstünde, die den in diesen Wiederaufnahmegründen liegenden Eingriff legitimiere. Folgt man dem, erscheint es nur allzu nachvollziehbar, dass mehrere Richter*innen Interesse daran zeigten, was den neuen § 362 Nr. 5 StPO inhaltlich von Nr. 1-4 unterscheidet. Richter Müller fragte etwa: Ist nicht das Geständnis i.S.d. § 362 Nr. 4 StPO auch ein besonders beweiskräftiges Beweismittel, wie es von Nr. 5 gefordert wird? Richterin Langenfeld formulierte dies allgemeiner: Geht es nicht in allen Fällen des § 362 StPO – Nr.1-4 einerseits und Nr. 5 andererseits – um Wahrheitsfindung?
Verfahrensbevollmächtigter Pohlreich wehrte sich demgegenüber gegen jede Form der Relativierung des in Art. 103 Abs. 3 GG verbürgten Mehrfachverfolgungsverbots. Gerade die Erfahrungen des NS-Totalitarismus, die nichts von ihrer Relevanz eingebüßt hätten, zeigten, dass der Satz „ne bis in idem“ auch und gerade für Freigesprochene schnell zur Makulatur verkommen kann. Das trifft zu: Die Erfahrungen, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor Augen hatten, bestanden nicht in einer mehrfachen Bestrafung im eigentlichen Sinne, sondern darin, dass aufgrund des außerordentlichen Einspruchs und der Nichtigkeitsbeschwerde Freisprüche und angeblich zu niedrige Strafurteile aufgehoben worden sind und infolgedessen eine höhere Strafe verhängt wurde (dazu etwa hier). Vor allem dürfe, so Pohlreich, Art. 103 Abs. 3 GG nicht so interpretiert werden, dass er im (allgemeineren) Rechtsstaatsprinzip aufgehe. Stefan Conen als sachverständige Auskunftsperson wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Grundsatz „ne bis in idem“ als Teil dieses Prinzips zwar der Abwägung zugänglich sei, der Sonderfall des Art. 103 Abs. 3 GG aber eine einseitige und unbedingte Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit darstelle, die nicht durch Erwägungen materieller Gerechtigkeit überspielt werden dürfe. Johannes Kaspar – ebenfalls sachverständige Auskunftsperson – schloss sich dieser Einschätzung an: Art. 103 Abs. 3 GG sei als abwägungsfestes Verbot zu verstehen, das allenfalls „Grenzkorrekturen“ zulasse. Und um solche Korrektur handele es sich bei § 362 Nr. 5 StPO nicht. Er setzt sich damit – durchaus überzeugend – in Widerspruch zu Hoven, der zufolge die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen lediglich nicht zum Regelfall werden dürfe. § 362 Nr. 5 StPO beseitige nämlich für den Betroffenen, auf dessen Sicht es als Grundrechtsträger ankomme, den Schutzgehalt des Satzes „ne bis in idem“, der ihn vor erneuter Verfolgung schützt, vollständig.
Mögliche Abwägung und ihre Parameter
Die zweite Hälfte der mündlichen Verhandlung stand unter der Prämisse, dass Art. 103 Abs. 3 GG ein abwägungsfähiges Grundrecht ist. Dabei stellte sich zunächst die Frage, welche Verfassungsgüter dann dem Schutz des Freigesprochenen gegenüberstünden – materielle Gerechtigkeit, die Rechte der Angehörigen und/oder der staatliche Strafanspruch als solcher? Der Belang „materieller Gerechtigkeit“ erregte dabei die Gemüter in besonderer Weise. Während sich die Verfahrensbevollmächtigten Hoven und Kubiciel vehement für diesen stark machten, stieß er bei den übrigen Beteiligten mit Recht zumindest auf Skepsis. Richterin Kessal-Wulf stieß sich an der Begrifflichkeit und fragte, ob es im Strafrecht derartiger „schillernder Begriffe“ bedürfe. So weit wie Pohlreich, der angesichts einer potenziellen Verschlechterung der Beweislage, den Umstand, dass die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen überhaupt materieller Gerechtigkeit dienen könne, vollumfänglich in Frage stellte, wollte Vizepräsidentin König zwar nicht gehen. Auch sie merkte aber an, dass die Formulierung der „Herstellung materieller Gerechtigkeit“ impliziere, dass die Schuld des Betroffenen bereits feststehe – allenfalls könne es um die Möglichkeit der Herstellung materieller Gerechtigkeit gehen. Damit ist noch nicht gesagt, dass sich ein so formulierter Belang Art. 103 Abs. 3 GG auch im Rahmen einer möglichen Abwägung entgegenhalten ließe. Der Bevollmächtigte Kaspar etwa bestritt dies, da der Grundgesetzgeber den Konflikt zwischen Rechtssicherheit und „materieller Gerechtigkeit“ in Art. 103 Abs. 3 GG bereits zugunsten ersterer entschieden habe. Richter Müller meldete daran Zweifel an, gab aber zu verstehen, dass jedenfalls nicht nur die Rechte der Angehörigen, sondern auch der staatliche Strafanspruch in die mögliche Abwägung einzustellen seien. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich ein Anspruch auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen aus dem Recht auf effektive Strafverfolgung (vgl. etwa hier) ableiten ließe. Der Senat, allen voran Vizepräsidentin König, schien Kaspar in seiner Einschätzung zu folgen, dass ein „Anspruch auf Bestrafung des wahren Schuldigen“ die Rechtskraft als solche infrage zu stellen drohte.
Unterschiedlich gesehen wurde dagegen die Frage, wie restriktiv § 362 Nr. 5 StPO tatsächlich formuliert ist und ob er deshalb einer möglichen Abwägung zwischen den Belangen des Freigesprochenen und den soeben benannten Verfassungsgütern standhalten würde oder nicht. Die Bevollmächtigte Hoven hielt § 362 Nr. 5 StPO jedenfalls für angemessen, da die Norm drei Korrektive enthalte: „neue Tatsachen“, „dringende Gründe“ sowie die Beschränkung auf schwerste Straftaten. Tatjana Hörnle folgte dem im Wesentlichen, gab aber zu bedenken, dass unklar sei, ob die „dringenden Gründe“, wie sich der Gesetzesbegründung entnehmen lässt, dem dringenden Tatverdacht i.S.d. §§ 112, 112a StPO entsprechen oder ob es sich nicht vielmehr – darüber hinausgehend – um einen echten „Gamechanger“ handeln muss. Erforderlichenfalls müsse hier mit dem Instrument verfassungskonformer Auslegung operiert werden. Dieser Gedanke schwang bei der Mehrheit der Richter*innen mit, wenn sie z.B. – wie die Richterinnen Wallrabenstein und Langenfeld – der (nach einfachem Recht zu bejahenden) Frage nachgingen, ob § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme nur wegen der darin genannten Delikte zulasse, im anschließenden Strafverfahren aber auch eine Verurteilung wegen anderer, weniger schwerwiegender Delikte möglich sei. Richterin Kessal-Wulf nahm darüber hinaus eine (de lege lata nicht existierende) zeitliche Grenze der Inanspruchnahme des Wiederaufnahmerechts in den Blick, während sich Vizepräsidentin König und Richter Maidowski schließlich mit einer immer wiederkehrenden (einfachrechtlich denkbaren) Ketten-Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen sichtlich schwer taten. All dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass – wie Berichterstatterin Wallrabenstein mehrfach anmerkte – die Bestimmtheit einer Rechtsnorm nicht unter einer verfassungskonformen Auslegung leiden darf. Auch bildet ihre Grenze der (ausdrücklich) erklärte Wille des Gesetzgebers. Daran dürfte es beispielsweise scheitern, § 362 Nr. 5 StPO auf bestimmte Nova, also bestimmte neue Tatsachen oder Beweismittel, wie z.B. molekulargenetische Untersuchungen, zu reduzieren.
Prognose für den Verfahrensausgang
Den Ausgang des Verfahrens zu prognostizieren, fällt außerordentlich schwer. Das liegt zum einen daran, dass das BVerfG schon mit seiner mit 5:3 Stimmen ergangenen Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, die damals zugunsten des Freigesprochenen ausging, widersprüchliche Signale gesendet hat. Zum anderen sind die Rechtsfragen, die das (Hauptsache-)Verfahren selbst aufwirft, wie anfangs betont, bislang völlig ungeklärt. Nichtsdestotrotz zeichnen sich gewisse Trends ab. Voraussichtlich wird das BVerfG – bei aller Kritik an der inneren Systematik des § 362 StPO – dessen Nr. 1-4, die nicht Verfahrensgegenstand sind, unangetastet lassen. Zumindest ein Teil der Richter*innen hegt ersichtlich Sympathien für die Idee einer in § 362 Nr. 1-4 StPO angelegten „immanenten Schranke“ des Art. 103 Abs. 3 GG. Dieser Gedanke wird sich indes kaum auf die neue Nr. 5 übertragen lassen, da bei Nr. 1-3 der Makel schon dem ersten Urteil anhaftet, was bei Nr. 5 nicht der Fall ist. Zwar liegt auch bei Nr. 4 ein neues Beweismittel vor, das allerdings – wie Pohlreich zu Recht hervorhebt – anders als bei Nr. 5 dem freiwilligen Entschluss des Betroffenen entspringt. Für die Richter*innen Langenfeld und Müller bliebe – hielten Sie an ihrer Auffassung fest – dann nur der Weg des Sondervotums. § 362 Nr. 5 StPO ließe sich folglich nur halten, sofern Art. 103 Abs. 3 GG entgegen der bisherigen Senatsrechtsprechung als abwägungsfähiges Grundrecht verstanden würde. Eine Mehrheit der Richter*innen scheint einer solchen Neuausrichtung zwar nicht grundsätzlich abgeneigt, dass § 362 Nr. 5 StPO in seiner jetzigen Form Bestand hätte, erscheint nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung dennoch unwahrscheinlich. Die Norm ist nämlich weit weniger restriktiv formuliert, als es auf den ersten Blick scheint. Entscheidend könnte deshalb sein, welche Bereitschaft das Gericht zu verfassungskonformer Auslegung trotz z.T. anders lautendem gesetzgeberischen Willen zeigt.
Eine Frage wäre zunächst, ob hier Täter*inne-n grundrechtsgleichen Rechtschutz genießen können?
Das würde auf ein Recht auf Straffreiheit hinauslaufen, wenn Tatbeteiligung geschickt genug verdeckt ist, was fragwürdig scheint und eher gegen grundrechtsgleichen Grundrechtschutz von Täter*inne-n spricht.
Problem ist, dass Täterschaft nach außen nie zweifelsfrei feststehen kann.
Bei Unschuld bleibt weiter, ebenfalls in einem neuen Strafverfahren, die Möglichkeit von Freispruch und Entschädigung.
Dass grenzenlos fortgeführt ein Verdacht aufgrund neuer gewichtiger Beweismittel für eine Anklage mit späterem Freispruch genügt, erscheint völlig unwahrscheinlich.
Eine Beschränkung in Rechten scheint hier vorhersehbar tatsächlich begrenzt.
Im Falle einer Verurteilung wäre ein Risiko einer Beschwernis ähnlich wie bei sofortiger unrichtiger Verurteilung.
Insofern scheint verhältnismäßige Verfassungsmäßigkeit weiter möglich.
Soll der Grundrechtschutz besonders davor schützen, dass später keine unrichtigen Beweise mehr angeführt werden können?
Es sollen nur gewichtige Beweise greifen können, was Falschheit nicht ausschließen muss.
Dies kann dennoch verhältnismäßig wirken, wenn spätere, falsche Überführung aufgrund gewichtiger Beweise ebenfalls nicht abschließend sein muss, sondern ständiger neuer Überprüfung und Entscheidung aufgrund neuer entkräftender Umstände mit Entschädigungsmögklicghkeit unterfallen kann.
Die Norm kann verfassungsrechtlich verhältnismäßig zulässig wirken, wenn eine spätere Verurteilung nur augrund gewichtiger dringender Beweise erfolgen kann, was eher eine Frage der verfassungskonformen Rechtswanwendung und nicht der Verfassungsmäßigkeit der Norm scheint.
Selbstverständlich müssen auch “Täter*innen” “grundrechtsgleichen Rechtschutz genießen können”. Erstens kann es – vor einer Verurteilung wie auch nach einem Freispruch – keine “Täter*innen” geben
Selbstverständlich müssen auch „Täter*innen“ „grundrechtsgleichen Rechtschutz genießen können“. Erstens kann es – vor einer Verurteilung wie auch nach einem Freispruch – keine „Täter*innen“ geben. Dieses wäre mit der Unschuldsvermutung vollständig inkompatibel. Zweitens würde eine strikte Anwendung des Grundsatzes “ne bis in idem” gerade nicht zu einem “Recht auf Straffreiheit” hinaus laufen. Die Unschuld des einmal Angeklagten stand vorher fest; die Schuld wurde nicht mit für eine Verurteilung hinreichenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Dieses ist aber gerade Aufgabe des Rechtsstaates. Würde man zudem die ‘Gefahr’ einer “geschickt genug” verdeckten Tatbeteiligung als Abwägungskriterium zulassen, wäre auch zu fragen, ob nicht Beschuldigtenrechte an sich aufzuheben oder zumindest einzuschränken sind. Auch der “in dubio pro reo” Grundsatz müsste nochmals überprüft werden.
Aber zum Thema an sich:
Sofern das BVerfG zu dem Ergebnis kommt, dass das Doppelverfolgungsgebot ein abwägungsfähiges Grundrecht darstellt, eröffnet es dessen Schutzbereich der politischen Auseinandersetzung:
Meiner Einschätzung nach kann eine Abwägung nämlich lediglich mit dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit erfolgen.
Dieser ist, anders als irgendwelche “Angehörigenrechte”, nämlich anerkannt im Rechtsstaatsprinzip verankert. Außerdem hat das BVerfG bspw. mit Beschluss vom 26.02.69 (2 BvL 15, 23/68) unter Rn. 100 bereits entschieden, dass bei der Abwägung zwischen materieller Gerechtigkeit’ und ‘Rechtssicherheit’ dem Gesetzgeber ein Abwägungsspielraum zukommt. “Geschieht [diese Abwägung] ohne Willkür, so kann die gesetzgeberische Entscheidung aus Verfassungsgründen nicht beanstandet werden” (BVerfG aaO).
Zudem ist fraglich, wie überhaupt Dritte beeinträchtigt sein können. Diese sind, wenn überhaupt, i. d. R. nur emotional in eigenen Positionen betroffen, haben also in der Regel keine eigene durch ein Verbrechen betroffene Rechtsposition. Eine Abwägung mit ‘Angehörigenrechten’ würde weiter eine Ungleichbehandlung zwischen den Taten, bei denen Angehörige vorhanden sind, und den Taten, bei denen keine Angehörigen bestehen, erfordern. Bei den letzten existieren schließlich keine ‘Angehörigen’. Polemisch gesprochen: Der Mörder solle besser stets die gesamte Familie töten, damit er nicht mehrfach verfolgt werden kann.
Zudem scheint meiner Ansicht nach dann zudem das Problem zu sein, dass die ja nur rein emotionale Betroffenheit der Angehörigen eine rein subjektive Komponente hat. Verschiedene Moral, Welt- und Sittlichkeitsanschauungen wie auch allgemein verschieden emotionale Reifegrade und “Abgebrühtheit” führen zu verschiedenen Emotionalen Beeinträchtigungen aufgrund des Todes oder der Verletzung einer Person. Es dürfte nicht schwer vorstellbar sein, dass bspw. für eine maternalistisch geprägte Person, der Tod einer männlichen Person weniger schwer wiegt als der Tod einer weiblichen Person. Ebenso dürfte der Tod eines drogensüchtigen Obdachlosen (der vereinsamt und sozial isoliert ist) oftmals weniger emotionale Reaktionen (auch bei ‘Angehörigen’) hervorrufen, als die geliebte Tante/Mutter/Tochter/….
Der Grundsatz der ‘materiellen Gerechtigkeit’ hat aber eine inhärent politische Komponente. Der politische und damit potenziell auch ‘verfassungsfeindliche’ bzw. ‘antiliberale’ Gesetzgeber bestimmt darüber, welche Freisprüche ggf. noch Jahre nach Aburteilung wiederaufgegriffen werden. Was besonders verwerflich und daher strafbar erscheint, ist abhängig von der politischen und weltanschaulichen Grundeinstellung der jeweils ‘Herrschenden’ (Partei/Gruppe/…). In den 80er war beispielsweise eine Strafbarkeit von pädophilen Handlungen umstritten, während in der aktuellen Diskussion nicht abzusprechen ist, dass eine gewisse Masse der Bevölkerung Sitzblockaden von Straßen als fast Höchststrafwürdig betrachtet.
Auch der “staatlichen Strafanspruch” erscheint nicht geeignet, den Grundsatz “ne bis in idem” einzuschränken.
Hierzu ist nämlich zunächst festzuhalten, dass ein “Strafanspruch” seiner selbst willen, nicht mit dem modernen Verständnis des Rechtsstaats vereinbar ist. Die Strafe verfolgt einem Zweck: in der Regel werden hier die general-, die Spezialprävention und gelegentlich auch eine Genugtuungsfunktion genannt.
Dass mit einer Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten des Beschuldigten dabei spezialpräventiv wirkt, ist zu bezweifeln. Eine solche Möglichkeit der Wiederaufnahme dürfte den einzelnen “Täter” oder “Tatgeneigten” kaum von weiteren Taten abhalten. Resozialisierende Wirkung (positive Spezialprävention) hat eine solche Wiederaufnahme erst recht nicht.
Auch eine generalpräventive Wirkung scheint mir eher fernliegend. Negative generalpräventive Zwecke (Abschreckung der Allgemeinheit) sind hingegen vernachlässigbar, da diese Wirkung nicht durch die Wiederaufnahme, sondern durch die Strafandrohung und -vollstreckung an sich wirkt. Zwar könnte man eine positive generalpräventive Wirkung (= Bestätigung der Rechtsordnung) konstruieren, wenn nach der Wiederaufnahme ausschließlich Schuldsprüche stehen (“Der Gerechtigkeit kann man nicht entgegen”), dieses verkehrt sich aber ebenso schnell ins Gegenteil, wenn eine Wiederaufnahme auch zu einem Freispruch führt (“Da werden Unschuldige verfolgt”). Insofern dürfte die positiv generalpräventive Wirkung, wenn überhaupt vernachlässigbar gering sein.
Bliebe die Genugtuungs- oder Vergeltungsfunktion. Diese ist, wenn man nicht das Rachebedürfnis des Einzelnen (welches wie oben dargelegt, sehr subjektiv ist) zu Grunde legt, eine Frage der materiellen Gerechtigkeit und damit politisch.
Auch der u.a. in dem Beschluss des BVerfG vom 15.01.20 (2 BvR 1763/16) begründete Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung vermag nichts anderes begründen.
Der Anspruch leitet sich nach dem BVerfG schließlich daher, dass der Einzelne in bestimmten Konstellationen aufgrund des Gewaltmonopols des Staates keine Möglichkeit der eigenen Rechtsdurchsetzung hat. So besteht der genannte Anspruch auf effektive Strafverfolgung nur dort, “wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – insbesondere Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person – abzuwehren, und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann”. Im Fall des Grundsatzes “ne bis in idem” ist die Rechtsdurchsetzung des Einzelnen aber nicht tangiert; in den hier relevanten Sachverhalten ist dem Freispruch gerade eine (effektive) Verfolgung vorangegangen. Zudem richtet sich der Anspruch auf effektive Strafverfolgung nur auf das Tätigwerden der Strafverfolgungsorgane.
Wenn das BVerfG hingegen zu dem Schluss kommt, dass die Bestimmungen der § 362 Nr. 1 bis 4 StPO eine ungeschriebene Schranke des Art. 103 Abs. 3 GG darstellen, so fragt sich, wie der nunmehr in Frage stehende nr. 5 hierunter zu fassen sein soll. Keine der in Nr. 1 bis 4 normierten Tatbestände umfassen neue oder bereits bestehende Beweismittel.
Auch ist nicht erklärbar, warum gerade § 362 StPO (a.F.) als einfaches Bundesrecht eine verfassungsunmittelbare Wirkung zukommen soll, während andere übernommene Gesetze eine solche nicht aufweisen. Eigentlich würde hieraus folgen, dass übernommene Gesetze nicht verfassungskonform, sondern die Verfassung “gesetzeskonform” auszulegen ist. Die Verfassungskonforme Auslegung bei Normen, die bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes bestanden, wäre umgekehrt.
Zugleich würden sich hieraus interessante Folgen ergeben. Bspw. wäre es zulässig, wie bspw. § 217 StGB in den bis zum 01.04.1998 geltenden Fassungen zeigt, zwischen der Tötung von ehelichen und unehelichen Kindern ohne Verstoß gegen Art. 3 GG zu differenzieren. Schließlich müsste, da die Vorschrift ja von den Verfassungsgebern des Grundgesetzes übernommen wurde, dieses eine ungeschriebene Schranke des Art. 3 GG darstellen. Hierzu ließen sich bestimmt noch mehr, auch noch bestehende, Beispiele finden.
Zuletzt noch ein systematischer Gedanke:
Egal ob man in Art. 103 Abs. 3 GG ein abwägungsfähiges Grundrecht sieht oder eine ungeschrieben Schranke annimmt (die man mit mehr als “da gibt es ein einfaches Gesetz, welches von Anfang an gegen die Verfassung verstoßen hat, begründen müsste und somit wahrscheinlich wiederum auf die materielle Gerechtigkeit als wiedersprechendes Verfassungsprinzip rekurrieren muss), kommt man zu der Folgefrage, warum dann nicht auch andere Grundprinzipien, wie “in dubio pro reo” oder “nulla poena sine lege” einschränkbar sind. Jede Begründung, den man für eine Einschränkung des “ne bis in idem”-Grundsatzes anführen kann, muss auch gegenüber den anderen beiden Grundsätzen Geltung verlangen:
Die materielle Gerechtigkeit wird in den Randsituationen auch dadurch bedroht, dass man nicht sämtliche, nicht fernliegende Zweifel ausräumen kann. Warum nicht in diesen Fällen, dem Angeklagten eine gegenbeweislast aufbürden? Beispielsweise in ‘Aussage gegen Aussage’-Fällen (zB Sexualdelikte). Oder bei Fällen von hohem gesellschaftlichen Impakt, wie den aktuellen Diskussionen um die Letzte Generation. Wenn der Staat nicht zweifelsfrei die Verwerflichkeit (die Zweck-Mittel-Relation im Tatbestand des § 240 StGB) nachweisen kann, warum nicht den Angeklagten auferlegen, nachzuweisen, dass ihre Fernziele rechtmäßig sind?
Auch der Grundsatz “nulla poena sine lege” steht doch der materiellen Gerechtigkeit in Randsituationen im Wege. Erinnert sei insoweit bspw. an die Diskussionen rund um die Berliner Raser Fälle. Hier war doch nach dem “Gefühl der Masse” zumindest eine Verurteilung wegen Mordes angebracht. Dass der Tatbestand dieses nicht hergab, steht der Herstellung materieller Gerechtigkeit ja wohl elementar entgegen. Polemisch: Auch hier muss der Staat doch eine Abwägung vornehmen dürfen!
Wenn man anstelle der materiellen Gerechtigkeit hingegen auf ominöse Angehörigenrechte oder einen Strafanspruch abstellen mag, kann man sogar noch mehr elementarer Prinzipien aufzählen, die einer Abwägung ebenso zugänglich sein müssten. Das Schuldprinzip sei insoweit nur beispielhaft genannt.
Zu den Einwänden am Beginn des Kommenatres siehe den Antwortkommentar zum unten nächstfolgenden Kommentar.
Der Gedankengang, dass man VERMEINTLICHEN Täter*innen-n aufgrund neuer Beweise nicht grundrechtsgleichen Rechtsschutz gewährleistet erscheint äußerst gefährlich. Gerade als dass selbst eingestanden wird, dass selbst gewichtige Beweise eine Falschheit der Anklage nicht ausschließen können.
Demnach würde es darauf hinauslaufen, auch Unschuldigen dem Schutzbereich des Art. 103 III GG in der vorprozesslichen Lage zu entziehen, bei vermeintlich gewichtigen neuen Beweisen. Ist das doch aber gerade der Schutzbereich, dem Staat eine nur einmalige Möglichkeit im Strafprozess zu geben, die Unschuldsvermutung zu widerlegen und danach eine erneute (willkürliche) Verfolgung auszuschließen.
Eine Verfassungsmäßigkeit des § 362 Nr. 5 StPO könnte sich also nur daraus ergeben, dass bereits vor dem (zweiten, dritten …) Prozess die Schuld des / der Angeklagten aufgrund der neuen Beweislage feststeht, als nur dann eine verfassungsrechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigbar erscheinen könnte, würde das jedoch zu einem Paradoxon führen, ist es doch gerade der Prozess der dies feststellt. Das ein Freispruch und Entschädigung den Schutzgehalt des Ne bis in idem des Grundrechtsträgers aus dessen Sicht, vor erneuter Verfolgung, vollends aufheben kann, erscheint auch nicht auf verfassungsrechtlicher Ebene rechtfertigbar.
Die Aussage, dass Täter-innen hier kein grundrechtsgleichen Rechtschutz zukommen können sollte, bezog sich auf in Wahrheit “tatsächliche Täter”.
Das Problem war daraufhin im Kommentar benannt, dass Menschen Täterschaft nie zweifelsfrei fehlerlos kennen können und die menschliche Feststellung von Täterschaft stets fehlerbaftet sein kann.
Es muss daher mit von der Möglichkeit der Fehlerhaftigkeit einer Verurteilung auszugehen sein, weshalb im Zweifel grundrechtsgleicher Rechtschutz zuzugestehen sein sollte.
Der nur im Zweifel zuzugestehende Rechtschutz sollte jedoch verhältnismäßig einschränkbar sein können durch die Möglichkeit, dass gar kein Rechtschutz zusteht, weil es sich in Wahrheit tatsächlich um den Täter handelt. Eine verhältnismäßige Einschränkbarkeit eines nur im Zweifel zuzusgestehenden Rechtschutzes sollte hier aus dem Interesse an Strafe gegenüber dem ebenso noch eventuell vorliegenden tatsächlichen Täter möglich bleiben.
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Sie negieren die Grundrechtsträgerschaft von „wahren Tätern“. Solche „wahren Täter“ kann es aber gar nicht geben. Zwar ist es möglich, dass Personen tatbestandlich gegen – im Übrigen durch den einfachen Gesetzgeber nach wandelbaren Moralvorstellungen willkürlich gesetzte – Rechtsnormen verstoßen haben. Die Bewertung / Beurteilung, ob hierin jedoch ein strafbares Verhalten liegt, ist nicht noch nicht erfolgt. Dieses ist ein zum Zeitpunkt der Grundrechtsanwendung in der Zukunft liegendes Ereignis. Daher kann diese Bewertung kein Tatbestandsmerkmal des Grundrechts an sich sein.
Unabhängig davon, wird aus Ihren Kommentaren jedoch auch nicht klar, warum Rechtsschutz „nur im Zweifel“ bestehen soll und warum ein Rechtsschutz „verhältnismäßig einschränkbar“ zu sein hat. Die von Ihnen angesprochene Abwägung mit dem „Interesse an Strafe“ scheint dieses jedenfalls nicht begründen zu können:
Die ‚Strafe‘ an sich ist lediglich eine Rechtsfolge und stellt keine inhärent anzustrebendes Gut dar. Wie aus der (Rechts-)Geschichte bekannt ist, sind sogar Gesellschaften und Rechtsordnungen denkbar, die keine (Gefängnis-)Strafe oder persönliche Strafbarkeit kennen. Also muss Strafe einen Zweck bzw. Ziel dienen. Wenn man Ihre Ausführungen dahin interpretiert, dass es Ihnen nicht auf die spezial- oder generalpräventiven Zwecke ankommt, kann man den Zweck der Strafe nur in einer der sogenannten „absoluten“ Theorien suchen. Nach diesen soll mit der Strafe „die Rechtsordnung wiederhergestellt“ werden, „die Negation des Rechts negiert“ werden oder „der Täter mit der Rechtsordnung versöhnt“ werden.
Problematisch ist dann jedoch, welches Rechtsgut diesen Zwecken zugrunde liegt. Denn nur dieses kann, wenn überhaupt, dem Grundrecht entgegengestellt werden. So wie ich das sehe, ist das Rechtsgut, welches man – wenn überhaupt – hieraus entnehmen kann, wiederum die „materielle Gerechtigkeit“. Warum diese meiner Meinung nach nicht zur Begründung einer Einschränkung des Grundsatzes „ne bis in idem“ taugt, habe ich aber bereits dargelegt.
Wahre*r tatsächliche*r Täter*in ist die Person, die tatsächlich entsprechend im Sinne einer (Unrechts-)Tat vorgegangen ist, unabhängig von einer späteren rechtlichen Bewertung.
Die Person soll aus formalen Gründen vor Strafe geschützt sein, wenn in einem Verfahren einer Schuld nicht festgestellt werden kann, obwohl die Person tatsächlich im Sinne einer (Unrechts-)Tat vorgegangen ist. Straffreiheit wäre aus formalen Gründen durch Verdeckung erwirkt. Verdeckung sollte im Sinne eines tatsächlichen Unrechtgeschehens materiell keine begünstigende Wirkung zukommen können.
Daher sollte eine Person, welche tatsächlich entsprechend im Sinne einer (Unrechts-)Tat vorgegangen ist, keine Strafbegünstigung durch Verdeckung verdienen und nur nur im Zweifel Begünstigung erlangen können, weil eine strafrechliche Bewertung nicht zweifelsfrei fehlerfrei möglich ist.
Es scheint hier versucht,besonders den Gesichtspunkt materieller Gerechtigkeit als Abwägungsgesichtspunkt aufzugreifen und zu entkräften.
Es können dagegen unter anderem neben staatlichen Interessen an Strafe, persönliche Wiedergutmachungsinteressen durch Strafe auf Seite des Opfers und der Angehörigen in Betracht kommen.
Solche Wiedergutmachungsinteressen können grundrechtsrelvant sein, wenn auf Opferseite eine Grundrechtsbeeinträchtigung zwischen Täter ud Opferseite in Betracht kommt.
Auf Opferseite kann eventuell unter anderem in das Grundrecht auf Leben und sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrheit und sexueklle Ehre,und auf persönliche Ehre in einem Achtungsanspruch und in einem Anspruch auf Wahrung eines Rechtsfrieden und in ein Grundrecht auf Familie eingegriffen sein, in der Form, dass ein Familienmitgleid genommen ist.
Hier kann ein grundrechtsrelevantes Wiedergutmachungsinteresse in Betracht kommen. Dies ebenso auf Seite von Angehörigen als Erben von grundrechtsrelevanten Wiedergutmachungsrechten eines Opfers oder als indirekt selbt in persönlicher Ehre und als Familienmitghliede Betroffene.
Solche grundrechtsrelvanten Wiedergrutmachungsinteressen können einem Grundsatz “ne bis in idem” bei einer praktischen Konkordanz gegenüberstehen und verhältnismäßig in Ausgleich zu bringen sein.
Aufgrund des Gewaltmonools des Staates übernimmt der Staat lediglich für die Opferseite eine Bestrafung, was nicht ausschließt, dass einer staatlichen Strafe weiter persönliche, grundrechtsrelevante Wiedergutmachungsinteressen auf Opferseite zugrunde liegen können.
@Peter Camenzind’s Comment vom 30.05.2023, 21:39:
I.
Ich möchte zunächst auf einen zumindest augenscheinlichen Widerspruch in dem ersten Satz hinwiesen: Ein*e „wahre*r tatsächliche*r Täter*in“ kann nicht „unabhängig von einer späteren rechtlichen Bewertung“ eine „(Unrechts-)Tat“ begehen, da letzteres zwingend erstes voraussetzt:
Ob eine Handlung „strafbar“ ist, also eine „(Unrechts-)Tat“ in Ihren Worten darstellt, ergibt sich nur, wenn diese Handlung rechtlich bewertet wird. Zu dieser rechtlichen Bewertung sind aber nur die Gerichte berufen.
II.
Unbeschadet davon, wird niemand durch das Doppelbestrafungsverbot „formalen Gründen vor Strafe geschützt“. Der Rechtsstaat hat die Schuld in einem Gerichtsprozess nachzuweisen. Das ist Ausfluss der Unschuldsvermutung. Kann er das nicht, ist der Angeklagte freizusprechen. Dann muss eigentlich gelten, dass vermutet wird der Angeklagte die Tat nicht begangen hat, dieser also unschuldig ist. Im Übrigen ist es mitnichten so, dass Freisprüche von Personen, welche objektiv strafbar gehandelt haben, nur aufgrund von „Verdunkelung“ oder „Verdeckung“ zustande kommen. Vorstellbar ist, dass die Personen nicht vorsätzlich, gerechtfertigt oder nicht schuldhaft gehandelt haben.
Abgesehen davon, dass eine solche Heimlichkeit bei der Diskussion des § 365 Nr. 5 StPO gar nicht zur Debatte steht.
Ferner weise ich darauf hin, dass wenn eine „Begünstigung“ nur dann zugelassen ist, wenn „eine strafrech[t]liche Bewertung nicht zweifelsfrei fehlerfrei möglich ist“, schlicht weg eine ‚Vorverurteilung‘ erforderlich wird: die strafrechtliche Bewertung zur Bestimmung, ob das Doppelbestrafungsverbot eingreift, erfordert eine Vorverurteilung vor der eigentlichen Verhandlung- Zudem würde das Doppelbestrafungsverbot zu einem rein zeitlich begrenzten Prozesshindernis herabgestuft: da Noven, also „neue“ Beweismittel, stehts gefunden werden können, kann es niemals zu einem abschließenden Freispruch kommen.
III.
Die von Ihnen angesprochenen „Grundrechte“, die gegen das Doppelbestrafungsverbot abzuwägen sein sollen, greifen meiner Ansicht nach nicht durch:
Zunächst denke ich, dass die Grundrechte auf Leib, Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung sowie „Ehre“ in der klassischen Abwehrdimension nicht geeignet, überhaupt eine Kollision mit dem „ne bis in idem“ Grundsatz zu begründen. Als Abwehrrechte begründen diese nur einen „Anspruch auf Staatsfreiheit“, nicht aber auf Handlung.
Aber auch als der modernere Gewährleistungsanspruch begründet zu diesen Rechten hier keinen kollidierenden Anspruch. Aus diesen kann sich zwar ein Anspruch auf ein effektives Verfahren zur Rechtsdurchsetzung ergeben, ein Recht auf ein stets materiell richtiges Urteil ergibt sich hieraus aber nicht.
Dass das staatliche Interesse an der Strafe an sich nicht geeignet ist, ein in diesem Kontext abzuwägendes Verfassungsgut zu begründen, ist in einem der vorhergehenden Kommentare bereits begründet. Dasselbe gilt für das angesprochene „persönliche Wiedergutmachungsinteresse“ (Genugtuungs- oder Vergeltungsfunktion).
Dass der Staat mit dem Gewaltmonopol nicht lediglich „für die Opferseite eine Bestrafung“ übernimmt, braucht hier nicht ausgeführt werden.
(Der Grundsatz “ne bis in idem” kann entsprechend durch ein Interesse an Bestrafung gegenüber Täter*inne-n in Form praktischer Konkurdanz verhältnismäßig eingeschränkt sein).
Wenn eine Einschränkung des Grundsatzes „ne bis in idem“ aus Art. 103 Abs. 3 GG mit einer praktischen Konkordanz begründet werden soll, ist darzulegen, dass
1. ein weiteres Verfassungsschutzgut besteht,
2. dieses mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ kollidiert,
3. dieses Verfassungsschutzgut zumindest mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ gleichwertig ist,
4. dass Art. 103 Abs. 3 GG keine abschließende Vorrangstellung des letzten vor dem ersten begründet und
5. dass der Grundsatz „ne bis in idem“ und das weitere Verfassungsschutzgut jeweils in einem „angemessenen Ausgleich“ zueinander gebracht werden, ohne den Schutzbereich des einen Gutes vollständig zu negieren.