Ein Verfassungsauftrag für die Ewigkeit?
Keine Ablösung der Staatsleistungen für Religionsgemeinschaften in Sicht
In den aus Weimar übernommenen religionsverfassungsrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes schlummert seit jeher der Verfassungsauftrag, die Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften abzulösen, also durch eine Entschädigungszahlung aufzuheben. Dieser Auftrag blieb auch in der 20. Wahlperiode unerfüllt. Dafür ist eine spezifische politische und föderale Interessenkonstellation in der Bundesrepublik verantwortlich. Art. 138 Abs. 1 WRV ist dadurch bis heute „kaltgestellt“, wofür aber hinreichende Lösungsmöglichkeiten bereitstehen.
Es wurde wieder nichts
Mit dem Zusammentritt des neu gewählten Deutschen Bundestages am 25.03.2025 wurde die 20. Wahlperiode beendet. Ein weiteres Mal ist es dem Gesetzgeber nicht gelungen, dem Verfassungsauftrag aus Art. 140 GG i.V.m. 138 Abs. 1 WRV nachzukommen und die Grundsätze für die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften festzulegen. Dabei gab es in der vergangenen Wahlperiode ernstzunehmende Versuche, das 1919 und erneut 1949 verfassungsrechtlich festgelegte Gebot zu erfüllen.1) Die Ampel-Koalition hatte sich die Ablösung der Staatsleistungen im Koalitionsvertrag auf die Fahne geschrieben;2) der neue Koalitionsvertrag von Union und SPD adressiert das Thema hingegen nicht.
An die Erfolglosigkeit dieser gesetzgeberischen Unternehmungen schließen sich zwei verfassungsrechtliche Beobachtungen an: Derzeit hat die Regelung in Art. 138 Abs. 1 WRV, wonach der Bund zunächst die Grundsätze für die Ablösung festlegen muss, bevor die Länder ihrerseits gesetzgeberisch tätig werden und die Details ausarbeiten können, eine paradoxe Wirkung. Statt die verfassungsrechtlich vorgesehene Ablösung in Gang zu bringen, sichert die bundespolitische Untätigkeit den Status quo ab – und garantiert in der Verfassungswirklichkeit seit Langem, dass sich die Religionsgesellschaften der Fortzahlung der Staatsleistungen auf mittlere Sicht sicher sein können.3) Zudem lässt sich mit Blick auf die bereits gewährten Staatsleistungen guten Gewissens sagen, dass Staat und Kirchen bei finanzieller Betrachtung eigentlich schon lange „quitt“ sind und man die Notwendigkeit vollständiger Kompensation plausibel bestreiten kann. Es stellt sich daher die Frage, ob die dauerhafte Nichterfüllung eines Verfassungsauftrags eigentlich ein rechtstaatliches Problem darstellt und die Normativität der Verfassung beschädigt,4) oder ob der gegenwärtige Zustand eher ein historisch begründetes, verfassungsrechtlich aber unbedenkliches Kuriosum ist.5)
Grundsätzliches
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass Art. 138 Abs. 1 S. 1 WRV nur einen Teil der finanziellen Verflechtungen zwischen Staat und Kirche erfasst. Als Staatsleistungen im Sinne dieser Norm gelten lediglich wiederkehrende Zahlungen, die auf einem historischen Zusammenhang mit den staatlich-kirchlichen Beziehungen vor 19196) beruhen.7) Die Kirchensteuer als wohl bekannteste finanzielle Verknüpfung von Staat und Kirchen gehört etwa nicht dazu. Dennoch belaufen sich die jährlichen Staatsleistungen immerhin auf einen Gesamtbetrag von über 600 Millionen Euro (2024). Sie dienen als Folgeentschädigung für Säkularisierung und Mediatisierung geistlicher Fürstentümer im 19. Jahrhundert und werden etwa für die Besoldung und Versorgung von Geistlichen und Kirchenbediensteten oder den Unterhalt kirchlicher Gebäude gezahlt. Hintergrund ist, dass die Religionsgesellschaften damals durch die Enteignung kirchlichen Vermögens ihre finanzielle Grundlage für diese Aufgaben verloren. Der Staat kompensiert diesen Verlust bis heute durch regelmäßige Zahlungen, die ohne Ablaufdatum jährlich geleistet werden. Im Fall einer Ablösung würde die Höhe der Entschädigung pauschal berechnet, indem die jährlichen Leistungen mit einem pauschalen Faktor multipliziert werden. Daraus ergäbe sich der zu zahlende Betrag.8)
Schon die Formulierung der Norm als Auftrag an den Bundesgesetzgeber, „Grundsätze“ festzulegen, lässt aufhorchen, ist eine solche Norm dem deutschen Verfassungsrecht doch eher fremd. Vergleichbare Formulierungen finden sich nur im Bereich des Finanz- und Haushaltswesens (Art. 106 Abs. 4 S. 2, 109 Abs. 1 Nr. 3 a, 109 Abs. 4 GG). Untypisch ist zudem, dass eine einzelne politische Sachfrage in Form eines Verfassungsauftrags adressiert wird. Über den religionsverfassungsrechtlichen Kompromiss des Parlamentarischen Rates hat hier eine präkonstitutionelle Besonderheit der deutschen Geschichte Eingang in das geltende Verfassungsrecht gefunden. Art. 138 Abs. 1 WRV verleiht dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz zum Erlass eines „Grundsätzegesetzes“, das eine Sperrwirkung gegenüber den Ländern entfaltet.9) Kompetenznormen beinhalten zwar stets die Möglichkeit zum Normerlass, aber noch keine Pflicht. Darüber geht Art 138 Abs. 1 S. 2 WRV erkennbar hinaus: Die Formulierung „[d]ie Grundsätze hierfür stellt das Reich [ergo: der Bund, Anm. des Autors] auf“ beinhaltet vielmehr eine normative Erwartung an den Bundesgesetzgeber. Dieser Übergang von der Kompetenznorm zum Verfassungsauftrag markiert den Wechsel vom Gesetzgebungsrecht zum Gesetzgebungsauftrag. Es drängt sich daher die Annahme auf, dass mit der derzeitigen Situation – anders als bei einer nicht ausgefüllten „reinen“ Gesetzgebungskompetenz – ein handfestes normatives Problem verbunden sein könnte, das sich mit fortlaufender Zeit weiter verschärft.
Was der Bund (nicht) tun muss
Unklar ist vor allem, was unter den Begriff der „Grundsätze“ fällt – ob etwa der Ablösungsfaktor in Anlehnung an § 13 Abs. 2 Bewertungsgesetz durch den Bund vorgegeben werden muss oder ob die Einbeziehung bestimmter Staatsleistungen bereits auf Bundesebene entschieden werden soll.
Nimmt man die Kompetenzkomponente der Norm ernst, muss es dem Bund allerdings vollständig freistehen, wie er eben jene Grundsätze festlegt. Die inhaltliche Leitplanke der Kompetenzausübung, die „Grundsätze“ festzulegen, kann schließlich auch negativ ausgelegt werden: Der Bundesgesetzgeber kann sich bewusst für weitestgehende Handlungsfreiheit der Länder entscheiden und auf spezifische Vorgaben zum Berechnungsmodus verzichten. So lassen sich föderale Unterschiede hinsichtlich der Verflechtung von Staat und Kirchen und der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bundesländer besonders berücksichtigen. Rahmenfestlegungen im „Grundsätzegesetz“ wären also durchaus möglich, solange den Ländern hinreichende Spielräume verbleiben. Genauso denkbar ist aber eine Regelung, die nicht vielmehr als ein „Startsignal“ für die Landesgesetzgebung enthält und alles Weitere dem Landesgesetzgeber selbst überlässt. Hier hat der Bundesgesetzgeber erheblichen politischen Spielraum.
Anders als bei typischen Gesetzgebungskompetenzen ist die Frage des „Ob“ bereits durch den enthaltenen Verfassungsauftrag vorentschieden. Die erhebliche Zeitverzögerung seit Inkrafttreten der Norm macht das Regelungsgebot zunehmend dringlicher.
Auf dem Papier: Erhebliche Spielräume für die Länder
Auch wenn die Länder zunächst auf ein Bundesgesetz warten müssen, haben sie dennoch Möglichkeiten, den Verfassungsauftrag zu erfüllen. Zum einen können sie auch jetzt schon einvernehmlich mit den Religionsgesellschaften eine Ablösung herbeiführen, solange dies nicht in Form eines Landesgesetzes geschieht. Teilweise ist das bereits geschehen, etwa bei bestimmten Baulasten.10) Zum anderen ist es denkbar, dass ein Bundesland im Wege des Bund-Länder Streits (Art. 94 Abs. 1 Nr. 3 GG) vor dem Bundesverfassungsgericht die Verabschiedung eines Gesetzes des Bundes einfordert – etwa mit Verweis auf die Bundestreue.11)
Angesichts der politischen Lage erscheint ein solches Vorgehen durch eine Landesregierungen derzeit allerdings kaum wahrscheinlich. In Zeiten knapper Landeshaushalte, die durch vielfältige Transformationsaufgaben bereits stark belastet sind, steht eine zusätzliche erhebliche finanzielle Belastung kaum auf der Agenda. Konservative mögen zudem grundsätzlichere Vorbehalte gegen einen solchen durchaus markanten Säkularisierungsschritt haben. Und nicht zuletzt werden die Religionsgesellschaften, angesichts ihrer noch immer relevanten gesellschaftlichen Bindungskraft, wieder stärker geschätzt als noch vor einigen Jahren.12)
Ergebnis
Im Ergebnis ordnet sich die verfassungsrechtliche Lage wohl zwischen den zu Beginn genannten Maximalpositionen ein. Das Auseinanderklaffen von Verfassungswirklichkeit und Verfassungstext ist zwar stets irgendwie verfassungsrechtlich relevant, stellt aber andersherum auch einen Normalfall jeder normativen Verfassung dar. Die Nichterfüllung eines so konkreten Verfassungsauftrags geht darüber hinaus, insbesondere da die Norm dadurch faktisch in ihr Gegenteil verkehrt wird. Gegen methodische Bedenken einfach über die Sperrwirkung der Bundeskompetenz hinwegzusehen oder andere vermeintlich „verfassungsnähere“ Auslegungen zu wählen, um eine „Wertung“ des Grundgesetzes zu realisieren, ist als Lösung dennoch nicht geboten (und würde die Länder ebenso wenig zum Handeln zwingen).13) Wie gesehen, bestehen für die Länder Möglichkeiten, selbst tätig zu werden – entweder durch Verhandlungen mit den Religionsgesellschaften oder durch verfassungsprozessuale Schritte. Ein zahnloser Tiger ist der Auftragsteil der Norm also auch in der derzeitigen Lage aus rechtlicher Perspektive nicht.
Das Grundgesetz sieht für den Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen mehrschichtige Aktualisierungsoptionen vor, die von den unterschiedlichen politischen Kräften in Bund und Ländern genutzt oder eben nicht genutzt werden können. Dieses institutionelle Arrangement ist eng mit der Ausgestaltung des Verfassungsauftrags verknüpft. Der materielle Gehalt der Norm setzt sich eben nicht von selbst in der politischen Wirklichkeit durch. Das gilt es zu bedenken und nicht auf dem Wege innovativer Norminterpretation zu umgehen – auch bei einem seit über 100 Jahre unerfüllten Verfassungsauftrag.
Der Verfasser dankt Friederike Huff, Heiko Sauer und Justus Walter für wichtige Anmerkungen zu diesem Text.
References
↑1 | Zur Entstehungsgeschichte der Norm im Überblick M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Auflage 2018, Art. 138 WRV Rn. 4 ff. |
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↑2 | Auf S. 110 des Koalitionsvertrages der Ampel hieß es: „Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen“; von einem „zeitnahen“ Ablösungsversuch daher ausgehend P. Unruh, in: P. Huber/A. Voßkuhle, GG-Kommentar, 8. Auflage 2024, Art. 138 WRV Rn. 1a. |
↑3 | M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Auflage 2018, Art. 138 WRV Rn. 13; U.a. aufgrund dieser Wirkung schon als ein dilatorischer Formelkompromiss bezeichnet von C. Schmitt, Verfassungslehre, 10. Auflage 1993, S. 32 ff. |
↑4 | So im Ergebnis B. Pieroth, Die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen auf der Agenda des Bundestags, NVwZ 2022, S. 1872 (1878). |
↑5 | Ausführlich zu den historischen Entstehungsbedingungen der staatlichen Pflicht zur Staatleistung an die Kirchen E.-R. Huber, Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung, 1927, S. 1 ff. |
↑6 | Ausführlicher dazu M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Auflage 2018, Art. 138 WRV Rn. 15 ff. |
↑7 | Sonst wäre schon gar keine Ablösung, sondern nur eine Erfüllung möglich, s. P. Unruh, in: P. Huber/A. Voßkuhle (Hrsg.), GG-Kommentar, 8. Auflage 2024, Art. 138 WRV Rn. 4. |
↑8 | Nach § 13 Abs. 2 Bewertungsgesetz wäre das bei immerwährenden Leistungen bspw. der Faktor 18,6. |
↑9 | So auch P. Unruh, in: P. Huber/A. Voßkuhle (Hrsg.), GG-Kommentar, 8. Auflage 2024, Art. 138 WRV Rn. 15; M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Auflage 2018, Art. 138 WRV Rn. 25 f. |
↑10 | S. D. Ehlers/C. Jasper, in: M. Sachs (Begr.), GG-Kommentar, 10. Auflage 2024, Art. 138 WRV Rn. 4. |
↑11 | Unruh, in: P. Huber/A. Voßkuhle (Hrsg.), GG-Kommentar, 8. Auflage 2024, Art. 138 WRV Rn. 15. |
↑12 | Auf S. 86 des aktuellen Koalitionsvertrags zwischen CDU und SPD wird etwa unter der Überschrift „Demokratische Resilienz“ bekannt: „Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten einen unverzichtbaren Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Gemeinwohl.“ |
↑13 | Dafür plädiert H. A. Wolff, Ablösung der Staatsleistung an die Kirche, ZRP 2003, S. 12 ff. |