Ende der Demokratie in Europa?
Warum das Spitzenkandidatenkonzept vor seinen eifrigsten Befürwortern beschützt werden muss
Als die Ergebnisse der Europawahlen 2019 feststanden, waren sich im Grunde alle einig. Der Klimaschutz sei das große, das allesbestimmende Thema der Wahlen gewesen, alle Veränderungen der Machtverhältnisse im Europäischen Parlament, insbesondere die massive Schwächung von Volkspartei und Sozialdemokratie, wurden auf die Dringlichkeit und Bedeutung dieses Themas zurückgeführt, auch der Anstieg der Wahlbeteiligung vor allem bei jungen Menschen und all dies nicht nur in Deutschland. Dachten Sie bis gestern auch? Vergessen Sie es. Inzwischen wissen wir, dass die Wählerinnen und Wähler in Europa nur eine Frage antrieb: Weber oder Timmermans, Vestager oder Keller?
Ironie beiseite: Nach einer kurz vor den Wahlen durchgeführten Umfrage kannten 36 Prozent der Deutschen Manfred Weber, 26 Prozent hatten schon mal von einem gewissen Frans Timmermans gehört, die Bekanntheitswerte von Ska Keller und Margrethe Vestager lagen bei 16 bzw. 12 Prozent. Wahlplakate, von denen aus Frans Timmermans den Wählern in Deutschland ins Gesicht schauen konnte, hat es offenbar gegeben, besonders zahlreich scheinen sie nicht gewesen zu sein, der Verfasser dieses Beitrags jedenfalls ist ihrer nicht ansichtig geworden.
Für die Befürworter des 2014 eingeführten Spitzenkandidatenprinzips wäre die Wahl einer der vorgenannten Personen zum Kommissionspräsidenten das Hochamt der europäischen Demokratie gewesen. Nach Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 2 EUV wählt das Parlament den Kommissionspräsidenten auf Vorschlag des Europäischen Rats, wobei dieser gem. S. 1 hierbei das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament „berücksichtigt“. Vor fünf Jahren habe ich in einem Beitrag für die NVwZ die Berücksichtigungspflicht untersucht und bin zu dem Befund gelangt, dass eine rechtliche Pflicht zur Nominierung eines Spitzenkandidaten nicht abgeleitet werden kann. Dagegen sprachen (und sprechen noch) die Entstehungsgeschichte der Norm, die deren Kompromisscharakter in Hinblick auf die unterschiedlichen Machtinteressen beider Akteure deutlich werden lässt, der systematische Zusammenhang zu Art. 10 Abs. 2 EUV, welcher beide Legitimationsstränge, auf denen die Union beruht, gleichberechtigt nennt sowie das Vorhandensein von Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 3 EUV, wonach bei einem Scheitern des vorgeschlagenen Kandidaten der Europäische Rat einen neuen Kandidaten vorschlagen kann.
Anders als für die Kanzlerwahl in Art. 63 Abs. 3 und 4 GG geregelt, sieht das Primärrecht keinen Verantwortungsübergang auf das Parlament vor. Während nach einhelliger Auffassung ein Zweitvorschlagsrecht des Bundespräsidenten durch Art. 63 GG ausgeschlossen ist, sieht Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 3 EUV ein solches für den Europäischen Rat explizit vor. Es spricht wenig dafür, dass die Formulierung „einen neuen Kandidaten“ so auszulegen ist, dass ein Dritt- oder Viertvorschlagsrecht ausscheiden müsste, nach dem letzten Halbsatz wendet das Parlament für dessen Wahl das in Satz 2 genannte Verfahren (Wahl mit einfacher Mitgliedermehrheit) an, so dass der Gesamtwortlaut keinen Anhalt dafür bietet, dass nach dem Scheitern des zweiten Kandidaten ein Initiativrecht des Parlaments zur Entstehung gelangen könnte. Daraus lässt sich ableiten: „Die Möglichkeit einer prozeduralen Endlosschleife zeigt, dass das Primärrecht (noch) keine Parlamentspriorität kennt und sich damit weiterhin strukturell vom parlamentarischen System verfassungsstaatlicher Art unterscheidet.“ (Lehner, NVwZ 2015, 20, 24).
Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 EUV: Äquivalenz von Parlament und Europäischem Rat
Der rechtliche Befund scheint mir doch recht eindeutig zu sein. Aus Organtreuegesichtspunkten wird man ableiten können, dass es dem Europäischem Rat verwehrt sein muss, dem Parlament immer und immer wieder ein und denselben Kandidaten vorzusetzen. Ich habe 2014 für ein Stufenmodell plädiert, wonach dem Europäischen Rat das Recht zur Nominierung eines eigenen Kandidaten (S. 1) und zum Vorschlag eines weiteren eigenen Kandidaten (S. 3) zusteht, bei einem Scheitern dieser beiden Kandidaten hingegen eine weitgehendere Berücksichtigungspflicht anzunehmen sei.
Soweit würde ich heute nicht mehr gehen. Genauso, wie man dem Europäischen Rat eine schikanöse Machtdurchsetzungspolitik nicht zubilligen kann, was die Berechtigung ausschließen muss, einen Kandidaten immer und immer wieder dem Parlament vorzuschlagen in der Hoffnung, dass jenes der klügere Akteur sei, der nachgibt, genauso kann es nicht zulässig sein, dem Parlament die Möglichkeit zu eröffnen, durch ein zweimaliges Durchfallenlassen eines Favoriten der Staats- und Regierungschefs gewissermaßen ein Recht auf Nominierung eines Spitzenkandidaten zu erwerben.
Tatsächlich beruht die gesamte Architektur von Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 EUV auf der Annahme einer vollständigen Äquivalenz beider Akteure. Die Festschreibung einer echten Machtbalance ohne Ausschlag in die eine oder in die andere Richtung war dem Primärrechtsgeber, also den Mitgliedstaaten, offenbar wichtig, als diese Bestimmung mit dem Lissabonner Reformvertrag zu einem Bestandteil des europäischen Verfassungsrechts wurde. Praktisch besehen ist Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 EUV eine Art lex imperfecta, da die Norm keinen Mechanismus zur Behebung einer Blockade zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament bereithält.
Beide Akteure müssen sich am Ende einigen. Beide Akteure müssen aufeinander Rücksicht nehmen. Beide Akteure haben aber auch Macht und dürfen diese, in der Chronologie von Vorschlag und Abstimmung, durchaus ausspielen. Wenn jetzt, wie immer eigentlich, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs irgendetwas beschließen, von Hinterzimmerpolitik, von Kungeleien, Postengeschacher oder ähnlichem die Rede ist, zeugt das im Grunde von einem Nichtverstehen politischer Aushandlungsprozesse und führt letztlich dazu, dass diese diskreditiert werden.
Auch der bayerische Ministerpräsident bläst ins Horn derer, die davon ausgehen, dass „die Demokratie verloren“ habe. Warum eigentlich? Es steht dem Parlament selbstverständlich zu, Ursula von der Leyen durchfallen zu lassen, das wäre eine demokratische Entscheidung. Die Staats- und Regierungschefs sind allerdings auch demokratisch legitimiert (vgl. Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). Ob die Dinge anders liegen, wenn ein Spitzenkandidat politisch bereits eine Mehrheit im Parlament organisiert hat, kann dahinstehen, die Mehrheitsfindung im Parlament dürfte bei Weber oder Timmermans kaum einfacher (gewesen) sein, als es jetzt bei von der Leyen der Fall sein dürfte.
Die Schwächung von EVP und SPE bei den Europawahlen spielt politisch dem Europäischen Rat ganz sicher in die Hände. Es ist kein Geheimnis, dass von der Leyen am Ende vor allem deswegen vorgeschlagen wurde, weil der französische Präsident einen liberalen Kandidaten durchzusetzen versuchte, wobei dies nach Auffassung Macrons nicht unbedingt Margrethe Vestager hätte sein müssen, damit scheiterte und am Ende Weber nicht mittragen konnte, um einen Gesichtsverlust zu vermeiden. Und das von Macron und Merkel im fernen Osaka eilig geschnürte Timmermans/Weber-Paket – Timmermans als Komissionspräsident, Weber als Parlamentspräsident – erwies sich als untauglich, da sich zahlreiche ost- und mitteleuropäischen Mitgliedstaaten übergangen fühlten. Dass kann man politisch bewerten, wie man will.
Eine qualifizierte Majorisierung im Europäischen Rat wäre übrigens, wenn dies rechnerisch gereicht hätte, möglich gewesen, Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 EUV sieht keine Einstimmigkeit vor. Augenfällig ist allerdings – den immerwährenden Klagen über eine mangelnde Geschlossenheit in der EU zum Trotz – der Umstand, dass in der Personalie von der Leyen Einstimmigkeit erzielt und damit eine schwerwiegende Blockade zwischen den Mitgliedstaaten überwunden wurde, kaum gewürdigt wird. Waren vielleicht Weber, Timmermans et al. am Ende nicht die richtigen Kandidaten, um auf Grundlage eines breiten innerunionalen Konsenses das auf enge Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten angelegte Amt des Kommissionspräsidenten besetzen zu können?
Muskelspiele auf beiden Seiten
Ob der Spitzenkandidatprozess nun ,wie allenthalben zu hören, endgültig „tot“ ist, wird die Zukunft zeigen. Die zwischenzeitliche Implosion dieses – bereits 2014 politisch hoch umstrittenen – politischen Projekts im Jahr 2019 ist allerdings nicht zu leugnen. Das ist politisch unschön, ein Skandal liegt hierin sicher nicht, und die europäische Demokratie wird auch nicht daran zugrunde gehen, dass der Europäische Rat in einer politisch schwierigen und unübersichtlichen Lage von seinem verfassungsrechtlich vorgesehenen Vorschlagsrecht Gebrauch gemacht hat.
In alledem liegt übrigens keine grundlegende Kritik an dem Spitzenkandidatenkonzept. Die durch die Aufstellung europaweiter Spitzenkandidaten zumindest politisch – es existieren ja weiterhin national getrennte Parteilisten – bewirkte Personalisierung des Europawahlkampfs kann sich zu einem wichtigen Baustein der Stärkung europäischer Demokratie entwickeln. Allein, das Konzept muss vor seinen eifrigsten Befürwortern beschützt werden.
Bereits im Vorfeld haben die Vorsitzenden der wichtigsten Fraktionen im Europäischen Parlament angekündigt, jeden Nicht-Spitzenkandidaten gnadenlos durchfallen zu lassen. Wer derart die Muskeln spielen lässt, darf sich am Ende nicht wundern, wenn sein Gegenüber ähnliche Kraftübungen vollzieht. Ob die Fraktionschefs bei ihrem Treffen im Mai, in dessen Rahmen sie ihre „Versucht es erst gar nicht!“-Strategie beschlossen, in einem Hinterzimmer getagt haben, ist nicht überliefert.
Staatsgewalt soll auf europa nur verfassungsrechtlich zulässig übertragbar sein, soweit verfassungsrechtlich geschütze Grundsätze dort im wesentlich ebenso geschützt scheinen.
Zu in Deutschland verfassungsrechtlich geschützen Grundsätzen sollen hier unter anderem bestimmte demokratische Wahlrechtsgrundsätze gehören. Hier unter anderem ein Grundsatz der nötigen „Unmittelbarkeit“ einer Wahl.
Dies soll bedeuten, dass Parteien oderKkandiadten und Kandidatinnen nur „unmittelbar“ direkt gewählt sein können sollen.
Der Grundsatz der „Unmittelbarkeit“ einer Wahl kann hinsichtlich einer europäischen Kommission jedenfalls nur problematisch gegeben erscheinen. Dies wenn hier Kandidaten zur Wahl eines kommissonspräsidenten oder einer Kommissionspräsidentin antreten und hinterher andere Personen die hier zu wählende Staatsgewalt ausüben, welche gar nicht dafür „unmittelbar“ zur Wahl standen.
Europa kann hier also in Deutschland verfassungsrechtlich geschütze Wahlgrundsätze und damit geschützte Staatsgewalt verletzen und nicht mehr im wesentlichen ebenso entsprechend schützen.
Deshalb vielleicht einiges Unbehagen über hier doch kaum bestreitbar ersichtlich gegebene „Hinterzimmerpostengeschacher-kungelei“.
Das muss man in einer freien Gesellschaft so benennen dürfen, wenn es so ist, ohne damit nur als miesmacherisch feindliches Element zu gelten o.ä.
Letzteres war etwa zuletzt in der DDR die Weise, wie man Kritik aufzufassen pflegte.
Das Europäische Parlament ist doch unmittelbar gewählt. Die nationalen Regierungen, deren Chefs die Europäische Kommission stellen auch. Von einer Verletzung von Wahlgrundsätzen kann also keine Rede sein.
Unmittelbare Regierungsgewalt in einer europäischen Kommission kann nur zweifelhaft „unmittelbar“ gewählt sein.
Dies vielleicht anders als in deutschland verfassungsrechtlich grundsätzlich gesichert.
Die aktuell gehandelte Kandidatin zur Kommisonspräsidentin, frau von der Leyen, stand dieses Mal für dieses Amt, mit sozusagen unmittelbarer, oberster Regierungsgewalt, nirgends „unmittelbar“ zur Wahl.
Das kann so ähnlich sein, als wenn jemand zur Bundestagswahl als Kanzlerkandidat oder Kanzlerkandidatin antritt und Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin nach der Wahl jemand ganz anderes wird, welche oder welcher dafür gar nicht „unmittelbar“ zur Wahl (für eine Regierung wählendes Parlament o.ä.) standen und welche oder welcher sich gar nicht dafür „unmittelbar“ einer Wahl stellen mussten.
Also zumindest demokratisch nicht völlig unproblematisch kann dies schon wirken, Staatsräson hin oder her.
Es kann Unbehagen gegeben. Das kann man nur als feindlich abtun, oder juristisch zu benennen versuchen.
Ersteres kann weniger Lösung ermöglichen.
In Deutschland soll ale Staatsgewalt vom Volk ausgehen und durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt sein.
Für Wahlen sollen dabei bestimmte Grundsätze gelten.
Die Europäische Kommission soll vom Europäischen Rat vorzuschlagen sein, ohne dass Kandidaten oder Kandidatinnen dafür unmittelbar gewählt sein müssen. Die Ratsmitgleider scheinen dabei selbst nicht überall in ganz Europa für alle Wähler gleichermaßen „unmittelbar“ zur Wahl gestanden zu haben und damit „unmittelbar einheitlich in ganz Europa“ gewählt.
Hier kann doch ein Legitmationsproblem, was eine erforderliche „unmittlebarkeit“ von staatlicher Gewalt durch das Volk über Wahlen nach bestimmten Wahlgrundsätzen betrifft, nicht anz fernliegend von der Hand zu weisen scheinen?
Bei der Europawahl tritt aber niemand zur Wahl als Kommissionspräsident*in an. Gewählt wird nur das Europaparlament.
Das Konzept der Spitzenkandidat*innen ist in Europa ebenso ein politisches wie es in Deutschland eines ist. Rechtlich verbindlich ist es nicht.
Es kommt auch hier immer wieder vor, dass nach der Wahl jemand anderes Regierungschef*in wird, wie zum Beispiel gerade in Bremen.
Unmittelbar wäre die Wahl der Kommissionspräsidentschaft auch bei funktionierendem Spitzenkandidaturprinzip nicht gewesen, denn die Präsidentschaft wird ja bekanntlich nicht direkt, sondern vom Europäischen Parlament auf Vorschlag des Europäischen Rates (unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses) gewählt…
Eine Europäische Kommission scheint, neben einem Europäischen Rat, so etwas wie unmittelbar regierende Staatsgewalt in Europa ausüben zu können, zudem sozusagen teils gegebener gesetzgeberischer Staatsgewalt.
Dies alles nicht „unmittelbar“ gewählt.
Wenn ein Mitgliedstaat Staatsgewalt verfassungsrechtlich nur auf Europa übertragen können soll, soweit dort entsprechender verfassungsrechtlicher Schutz im Wesentlichen ebenso gesichert scheint, kann hier doch jedenfalls einiges Problempotenzial bestehen. Es kann hier übertragende unmittelbare Regierungsgewalt nicht entsprechend in vollem Umfang „unmittelbar“ demokratsich legitmiert scheinen, wie es auf nur nationaler Ebene grundsätzlich geschützt scheinen kann etc.
Das kann sich dann in einem Unbehagen und rein politischen Äußerungen niederschlagen, wie „Ohrfeige für alle Wähler“ usw..
Man muss das so juristisch benennen dürfen, wenn hier Probleme bestehen können, wie sie in einem Unbehagen nur zum Ausdruck kommen können.