Entscheidungen in der Sache des Bundesverfassungsgerichts
Zur jüngeren Entwicklung des Wahlrechts
Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache – gibt es das im politischen System der Bundesrepublik? Vordergründig betrachtet mit Sicherheit, denn natürlich existieren Materien, die vor allem die im Parlament vertretenen Parteien angehen und gleichzeitig von diesen entschieden werden. Faktisch aber werden diese Materien in Deutschland aber – nach dem besten Wissen dieses Verfassers ausnahmslos – vom Bundesverfassungsgericht (mit-)entschieden. Rechte der Abgeordneten und Fraktionen, Finanzierung der Parteien und der ihnen nahestehenden Stiftungen sowie schließlich das Wahlrecht: In all diesen Fragen ging dauerhaft geltenden Entscheidungen ein Urteil aus Karlsruhe voran, meist sogar ein prozedurales Pingpong zwischen Bundestag und BVerfG. In vielen Bereichen übte das BVerfG dabei erkennbar Selbstzurückhaltung. Exemplarisch dafür stehen Fragen der Finanzierung des politischen Wettbewerbs, in denen das BVerfG erkennbar darauf bedacht war, entweder nur die Verteilungsmechanismen oder nur die Höhe der Zuwendungen an Parteien bzw. ihnen nahestehende Stiftungen anzutasten, aber niemals beides.
In jüngster Zeit stellt sich insbesondere im Bereich des Wahlrechts aber immer mehr die Frage, wer hier eigentlich Entscheidungen in eigener Sache trifft. In diesem Beitrag möchte ich sowohl beleuchten, was dafürspricht, dass es das BVerfG ist, das in Fragen des Wahlrechts eine „eigene Sache“ vertritt als auch Ursachen für diese Entwicklung benennen. Vor allem das letztgenannte Ziel dieses Beitrags lässt sich schwerlich ohne Florian Meinels fulminanten Aufsatz über die vom BVerfG betriebene „Neutralisierung der parlamentarischen Mehrheitsherrschaft“1) erreichen. Meinel führt die jüngere Rechtsprechung des BVerfG auf einen – sozialwissenschaftlich gesprochen – institutionellen Isomorphismus zwischen übergroßen parlamentarischen Mehrheiten in Zeiten Großer Koalitionen nebst technokratischem Regierungsstil der Bundeskanzlerin auf der einen Seite und einem Tenor der Urteile des BVerfG auf der anderen Seite zurück, der mit der Grundannahme des Gewaltenverschränkung bricht, die dem Parlamentarismus eigen ist. Stattdessen sei das BVerfG auf dem Weg in die (vordemokratische) Vergangenheit und propagiere ein Ideal der Gewaltenteilung und des Dualismus von Politik und (zusehends expansiver) Verwaltung. Duktus der Verfassungsrechtsprechung und Regierungsstil stünden dabei in einem Korrespondenzverhältnis, eben einem institutionellen Isomorphismus.
Eine einfachere Erklärung für den Hang des BVerfG, dem Gesetzgeber „Entscheidungen in Sachen des Bundesverfassungsgerichts“ aufzugeben, geben die jüngeren Reformen des Wahlrechts sowohl zum Europäischen Parlament als auch zum Bundestag: Das BVerfG handelt aus institutionellem Eigeninteresse am Machterhalt, einerseits gegenüber dem EuGH und andererseits gegenüber den im Bundestag vertretenen Parteien. Nicht ohne Grund sieht auch Meinel den Ausgangspunkt seiner Diagnose im Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 (2 BvE 2/08). Hier hörte das BVerfG auf, sich als die europäische Integration begleitende Instanz zu verstehen und stilisierte sich stattdessen zum „Akteur in einem offenen Verfassungskonflikt um das politische Erbe des Post-Nizza-Prozesses“.2) Aber warum? Braucht es zur Begründung dieser Form der Selbstermächtigung wirklich komplexe verfassungsrechtliche Argumente, die dann vom BVerfG bemüht werden, um die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu spiegeln?
Hatte das BVerfG möglicherweise schlicht das Schicksal der Bundesbank vor Augen, deren Niedergang zugunsten der Europäischen Zentralbank es lange aus der row zero der deutschen Politik begleitet hatte, so etwa in den Beschlüssen zur Einführung des Euro, zum Stabilitätsmechanismusgesetz, zum Fiskalpakt und zur Europäischen Bankenunion? Seit dem Maastrichter Vertrag hatte die Bundesbank ein beispielloses Downgrade zur besseren Provinzsparkasse erfahren und die Rolle als nahezu allmächtiger Hüter der Währung der EZB überlassen müssen. Dass der Hüter der Verfassung einen ähnlichen Abstieg zugunsten des EuGH für sich vermeiden will, stellt zumindest aus politikwissenschaftlicher Perspektive keine Überraschung dar.
Good cop BVerfG, bad cop Bundestag
Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibler und einfacher (im Sinne des englischen parsimonious), dass das Bundesverfassungsgericht seine Macht gegenüber dem EuGH und den deutschen Parteien erhalten will, indem es eine Doppelstrategie verfolgt. In dieser Doppelstrategie geht es einerseits darum, den Prozess der europäischen Integration, sagen wir, sehr kritisch zu begleiten, um so eventuelle Kompetenzgewinne des EuGH präemptiv auszuschließen und andererseits Sorge dafür zu tragen, bei Entscheidungen des Bundestags in eigener Sache – namentlich zu Fragen des nationalen Wahlrechts – stets das bessere Image zu haben und so seinen Legitimitätsvorsprung im traditionell vermeintlich „neutrale“ Instanzen anhimmelnden Deutschland zu erhalten.
Beide Ziele des Bundesverfassungsgerichts lassen sich in den nach 2008 gefällten Urteilen zu Fragen des Wahlrechts erkennen, in deren Folge der Bundestag hier eben keine „Entscheidungen in eigener Sache“ mehr fällen konnte.3) Der in Rn. 235 des Lissabon-Urteils postulierten „unübertragbaren und integrationsfesten Identität der [deutschen, MK] Verfassung“ sicherte das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden Urteilen zur Sperrklausel beim Wahlrecht zum Europaparlament ab. Indem es weder für eine Fünf- noch für eine Dreiprozenthürde verfassungsrechtliche Gründe finden konnte, münzte das Gericht den Befund einer stockenden europäischen Integration in eine selbsterfüllende Prophezeiung um. Dass sich die „Verhältnisse wesentlich ändern“ (so die im zweiten Leitsatz des letztgenannten Urteils festgehaltene Bedingung für eine Revision dieser Rechtsprechung) würden, wurde durch diese vom Gericht aktiv betriebene Zersplitterung der Parteienlandschaft im Europäischen Parlament jedenfalls nicht wahrscheinlicher. Was kann dem uralten – und nicht zufällig in Deutschland am pointiertesten vorgebrachten – Vorwurf der „Quasselbude“ mehr Vorschub leisten als eine Zersplitterung von Parlamenten?
Beim Wahlrecht zum Bundestag war es die Formel der „Erfolgswertgleichheit“ aller Wahlstimmen, mit der das BVerfG die Parteien an den Haken nahm. „Erfolgswertgleichheit“, dieser Begriff lässt sich nicht einmal ins Österreichische übersetzen, geschweige denn in irgendeine andere Sprache.4) Es handelt sich dabei um einen sehr deutschen, genauer: sehr bundesverfassungsgerichtlichen Türöffner für ein maximales Gebot der Proportionalität, das den Gesetzgeber unter der Bedingung der allseits als Erfolgsmodell gepriesenen personalisierten Verhältniswahl in ein echtes Dilemma stürzte. Einerseits ließ sich die Erfolgswertgleichheit durch Verrechnung (fast) aller Überhangmandate gewährleisten. Sie öffnete damit populistischen Verdikten gegen den „aufgeblähten“ Bundestag Tür und Tor – vollkommen unabhängig übrigens davon, dass die Arbeit dort ohnehin vornehmlich in den aktuell 30 Ausschüssen und nicht im Plenum verrichtet wird. Gedränge im Plenarsaal gehört aus guten Gründen nicht zu den Kernproblemen des Bundestages.5) Andererseits hatte der Gesetzgeber die Möglichkeit, der vollständigen Verrechnung von Überhangmandaten dadurch Einhalt zu gebieten, dass relative Mehrheiten nicht mehr in jedem Fall ausreichten, um einen Wahlkreis zu gewinnen. Dies sieht die unlängst vom Bundestag verabschiedete Novelle des Wahlrechts vor – und ist nun Ziel der populistischen Kritik, dass „Gewinner“ von Wahlkreisen nicht in den Bundestag einziehen könnten. Auch hier interessieren sich gerade diejenigen, die diese Kritik äußern, nicht dafür, dass die Mehrheiten derjenigen Wahlkreisgewinner, die potenziell nicht in den Bundestag einziehen würden, wirklich sehr relativ sind und dass grundsätzlich ja alle Wahlkreiskandidaten über die Parteilisten abgesichert werden können.
Tertium non datur, zumindest nicht unter der Bedingung einer personalisierten Verhältniswahl. Der Gesetzgeber sitzt damit in der Frage des Bundestagswahlrechts in einer vom BVerfG errichteten Zwickmühle. Und diese Zwickmühle trägt dazu bei, dass die im Bundestag vertretenen Parteien in der Wahlrechtreform die Rolle des bad cop einnehmen, während das BVerfG als über dem erfolgswertgleichheitsinduzierten „Parteiengezänk“ stehender good cop agiert. Dass genau diese Rollenverteilung erstens auch in anderen Politikfeldern anzutreffen ist und zweitens gut in der Bevölkerung ankommt, legen die Umfragewerte zum Ansehen der höchsten Verfassungsinstitutionen in Deutschland nahe: Ausweislich einer 2022 durchgeführten Umfrage ist das BVerfG die einzige Institution, der eine Mehrheit der Befragten Vertrauen entgegenbrachte, genauer: 70,9 Prozent. Weit abgeschlagen folgen die Bundesregierung (42,4 Prozent), der Bundestag (42,3 Prozent) und die Europäische Kommission (31,5 Prozent). Einzig dem BVerfG vertraut sogar eine Mehrheit der Demokratieunzufriedenen (52,6 Prozent).
Die Probe aufs Exempel der hier vertretenen These zur Motivation des BVerfG dürfte schon in der Entscheidung über das im Juni 2023 verabschiedete Wahlrecht zum Bundestag erfolgen. Aus einer genuin verfassungsrechtlichen Perspektive ist eher eine Diskontinuität zur früheren Rechtsprechung zu erwarten, denn der technokratische Regierungsstil scheint mit den Großen Koalitionen und Angela Merkel von der Bühne der Bundespolitik verschwunden zu sein: Unabhängig davon, wie man Olaf Scholz‘ erstes Kabinett normativ beurteilt – dass es unter seiner Kanzlerschaft technokratisch zugeht, wird niemand behaupten. Selbst wenn auch der vormalig als „Scholzomat“ geschmähte Kanzler eine Präferenz fürs Merkeln haben sollte, seine in herzlicher Feindschaft verbundenen Koalitionspartner lassen technokratische Visionen durch ihre politische Dauerfehde zuverlässig verblassen. Aus der hier vertretenen politikwissenschaftlichen Perspektive liegt ungeachtet der seit dem letzten Regierungswechsel veränderten Kontextbedingungen eine unveränderte Präferenz des BVerfG zur Aufrechterhaltung der nach 2008 errichteten Zwickmühlenkonstellation nahe. On verra.
Wider der „Tyrannei der Minderheit“
Abschließend sei erwähnt, dass man in Deutschland nicht zu Unrecht einiges auf sein so machtvolles wie politisch unabhängiges Verfassungsgericht hält. Die Kehrseite von Macht und politischer Unabhängigkeit sind aber die institutionellen Eigeninteressen, die insbesondere dann die ohnehin fragile Legitimität genuin politischer Akteure wie der Parteien und des Parlaments schmälern können, wenn diesem vom Verfassungsgericht unlösbare Aufgaben aufgebürdet werden. Ein (Europäisches) Parlament machtlos nennen, seinem Wahlrecht mit dieser Begründung jedwede Sperrklausel vorenthalten und dann dessen spärlichen Machtzuwachs beklagen, das trägt durchaus Züge einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Der verfassungsgerichtliche Furor um die Erfolgswertgleichheit versetzt den Gesetzgeber in eine Zwickmühle, die die ohnehin im Vergleich zum BVerfG fragile Legitimität der parlamentarischen Akteure zementiert und dem Gericht die schöne und legitimitätsstiftende Rolle des ehrlichen Maklers – in Deutschland beliebt seit 18786) – zuweist.
Die USA haben es im Bereich des Wahlrechts auch nicht besser. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch der Supreme Court das Wahlrecht einseitig auslegt, allerdings tut er dies anders als das BVerfG in parteipolitischer Weise. Beispielsweise hat der Supreme Court 2013 die Bundesaufsicht über die Wahlen in den Südstaaten aufgeboben, obwohl die republikanisch dominierten Bundesstaaten mittlerweile als „Laboratorien gegen die Demokratie“ gelten müssen. Dennoch bleibt dabei immerhin der Spielraum des Parlaments in den USA richterlich unangetastet, während das BVerfG institutionelle Eigeninteressen auf Kosten der gewählten politischen Akteure zu verfolgen scheint. Zum Kardinalproblem der US-Demokratie wird die Rechtsprechung des Supreme Court, weil in den USA die parlamentarischen Kräfteverhältnisse – ebenso wie die am Supreme Court – nicht mehr die gesellschaftlichen Mehrheiten widerspiegeln: Ländliche (und damit republikanische) Wahlkreise sind seit Jahrzehnten massiv überrepräsentiert, und dieser Sachverhalt verzerrt alle Entscheidungen in eigener Sache in den USA im Vorhinein. Die Losung kann deshalb nur lauten: Wider der „Tyrannei der Minderheit“ – egal ob auf den Richterbänken oder in den Parlamenten.
References
↑1 | Florian Meinel, Das Bundesverfassungsgericht in der Ära der Großen Koalition. Zur Rechtsprechung seit dem Lissabon-Urteil, in: Der Staat 60/1 (2021), S. 43–98 (Zitat S. 43). Zu Meinels Kritik an den Großen Koalitionen unter Angela Merkel und deren technokratischem Regierungsstil vgl. derselbe, Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, München: Beck 2019, S. 30–38. |
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↑2 | Meinel, Der Staat 2021 (a.a.O.), S. 53. |
↑3 | Dem Wegfall der Grundmandatsklausel im jüngsten Wahlrechtsbeschluss des Bundestages haftet zugegebenermaßen zumindest der Ruch einer solchen Entscheidung in eigener Sache an. Klar ist aber seit den von CSU und Linkspartei angekündigten Klagen, dass auch in dieser Frage die Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht getroffen werden wird. |
↑4 | Für dieses Aperçu und vieles andere danke ich Robert Vehrkamp. |
↑5 | Zum Arbeitsalltag des Bundestages vgl. Michael Koß, Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen, München: dtv, S. 216 f. |
↑6 | Die Rede vom „ehrlichen Makler“ geht auf Otto von Bismarcks Selbstbeschreibung beim Berliner Kongress zurück, auf dem 1878 koloniale Streitigkeiten gelöst werden sollten. |