Erhöhung statt Anpassung
Der Mindestlohn soll „Living Wage“ werden, die Durchsetzungsdefizite bleiben
Der Bundestag wird demnächst in erster Lesung über Änderungen des Mindestlohngesetzes (MiLoG) beraten. Es geht um die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde, eines der wichtigsten Themen von Olaf Scholz‘ Wahlkampfkampagne („Respekt“). Dass hier scheinbar lediglich eine Zahl die andere ersetzt, wirft aber doch die eine oder andere verfassungsrechtliche Frage auf – wenn man sich die Architektur des 2015 in Kraft getretenen MiLoG genauer anschaut.
Mindestlohn und Tarifautonomie
Der gesetzliche Mindestlohn ist für Deutschland immer noch ein relativ neues Instrument. Bis Anfang der 2000er Jahren waren sich nicht einmal die Gewerkschaften einig, ob ein gesetzlicher Mindestlohn eher eine gute oder eher eine schlechte Sache sei. Vor allem die Industriegewerkschaften fürchteten, ein gesetzlicher Mindestlohn werde niedrige tarifliche Niveaus und damit auch die Attraktivität gewerkschaftlicher Mitgliedschaft entwerten. Mit dem, was sie durch ihre Mitgliederstärke in Tarifverträgen erreichen, konnten sie zufrieden sein.
Bei Mindestlohn und Tarifautonomie handelt es sich um kommunizierende Röhren. Je besser die tarifautonome Aushandlung von Entgelten und Arbeitsbedingungen funktioniert, d.h. je repräsentativer Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in der jeweiligen Branche vertreten sind, desto weniger bedarf es eines gesetzlichen Eingreifens. Die Erkenntnis, dass es seit den 1990er Jahren zu viele Arbeitsverhältnisse geworden waren, die sich nicht mehr auf tarifliche Mindestarbeitsbedingungen berufen konnten, und dass man sich um diese politisch kümmern müsste, führte 2014 endlich zum Erlass eines MiLoG.
Seither wird der Begriff „Mindestlohn“ in arbeitspolitischen Debatten immer in einem Atemzug mit „Tarifautonomie“ genannt. Der Mindestlohn wurde also 2014 mit dem „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ eingeführt und sollte nicht nur einen „angemessenen Mindestschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ gewährleisten, sondern es auch den Tarifvertragsparteien durch Einziehung einer Entgelt-Untergrenze erleichtern, ihrer Aufgabe der „Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge“ auch unter „strukturell erschwert[en]“ Bedingungen gerecht zu werden.
Damals noch nicht vollständig überzeugt waren einige Arbeitgeber und insbesondere die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Die heftigen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Erlasses des MiLoG mündeten am Ende allerdings nicht in eine verfassungsgerichtliche Klärung. Nur einige Arbeitgeber der Transport-, Speditions- und Medienbranchen erhoben mit branchenspezifischen Argumenten erfolglos Verfassungsbeschwerde, die ohne Entscheidung in der Sache endete.
Wenig überraschend: Der Mindestlohn ist für die Tarifautonomie nicht nur förderlich, sondern beschränkt auch die Autonomie der Tarifvertragsparteien. Solange die Mindeststandards aber nur eine unterste Grenze des Arbeitnehmer:innenschutzes markieren, die noch Raum für Tarifpolitik lässt, ist sie verfassungsrechtlich unproblematisch zu rechtfertigen. Umgekehrt würde der Gesetzgeber, wenn er den Mindestlohn für Tarifverträge öffnete (wie damals gefordert worden war), seiner eigenen Entscheidung die verfassungsrechtliche Grundlage entziehen – denn wie ließe sich dann noch schlüssig argumentieren, dass die Mindestgrenze tatsächlich zum Arbeitnehmer:innenschutz erforderlich sei?
Auch die BDA scheint dies nun akzeptiert zu haben. Das aktuelle Gesetzesvorhaben ruft zwar wieder ihren Protest hervor; dieser ist nun aber weniger grundsätzlich. Das (noch nicht veröffentlichte) Gutachten, das die BDA bei Frank Schorkopf zur Verfassungsmäßigkeit des Erhöhungsgesetzes in Auftrag gab, beschäftigt sich nicht mehr mit der Frage, ob ein allgemeiner Mindestlohn als solcher verfassungswidrig sei. Stattdessen geht es nun um die Änderungsfähigkeit des bestehenden Mindestlohngesetzes. Aufgrund von dessen Struktur ergebe sich ein „Bestands- und Autonomievertrauen der Sozialpartner“, das nun untergraben werde. Das Argument: Das Änderungsgesetz greife dadurch in die Tarifautonomie ein, dass es die Systematik des Mindestlohngesetzes nicht respektiere.
Zur Regelungstechnik von MiLoG und Änderungsgesetz
Denn das MiLoG von 2014 hatte bereits mitgedacht, dass Entgelte regelmäßig erhöht werden müssen. Es regelte deshalb nicht nur einen Ausgangsmindestlohn von 8,50 Euro ab 1. Januar 2015, der im Gesetz festgeschrieben wurde (§ 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG), sondern auch ein Verfahren zu dessen regelmäßiger „Anpassung“, für das die Mindestlohnkommission zuständig ist (§§ 4 ff MiLoG). Sie ist unabhängig und besteht aus einem Vorsitzenden und sechs stimmberechtigten Mitgliedern, die jeweils zur Hälfte von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen vorgeschlagen werden. Der/die Vorsitzende wird grundsätzlich auf gemeinsamen Vorschlag der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite berufen; die Sozialpartner schlagen als beratende Mitglieder darüber hinaus zwei Wissenschaftler:innen vor).
Alle zwei Jahre berät die Kommission über die Auswirkungen des Mindestlohns und beschließt Anpassungen für die kommenden beiden Jahre (§ 9 Abs. 1 Satz 2 MiLoG). Diese Beschlüsse werden durch Rechtsverordnung der Bundesregierung verbindlich gemacht (§ 1 Abs. 2 Satz 2 MiLoG). Dementsprechend wurde der im Gesetz festgeschriebene Mindestlohn von 8,50 Euro zum 1. Januar 2017 erhöht. Die Mindestlohnkommission hat seither alle zwei Jahre stufenweise Anpassungen beschlossen, zuletzt am 30. Juni 2020. Für diesen Sommer wäre ein neuer Beschluss für Anpassungen ab Januar 2023 zu erwarten gewesen.
Und darum geht es nun: Die Rechtsverordnung, die den Mindestlohn mit der letzten beschlossenen Anpassungsstufe zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro erhöht, soll zum 30. September aufgehoben werden. An ihre Stelle soll ab 1. Oktober eine gesetzliche Erhöhung auf 12 Euro treten. Ab 2023 soll dann wieder der Regelungsmechanismus der Mindestlohnkommission regelmäßige Anpassungen gewährleisten.
„Anpassung“, „Erhöhung“ – mehr als nur ein Wortspiel
Der Gesetzgeber grätscht hier also gewissermaßen mit einer einmaligen Erhöhung in eine etablierte Anpassungsroutine hinein; im Übrigen soll alles bleiben, wie es ist. Ist das politischer Dezisionismus? Und damit verfassungswidrig?
Verfassungsrechtlich ist der Vorgang gar nicht so einfach zu fassen. Die BDA konstruiert im Anschluss an Schorkopf ein „Bestands- und Autonomievertrauen“ der Sozialpartner, das verletzt werde, wenn die Mindestlohnkommission übergangen wird – ein merkwürdiger Begriff, der versucht, mehrere rechtliche Aspekte ineinander zu legen, und damit letztendlich rechtlich im Ungefähren bleibt.
Tatsächlich bezeichnet aber das MiLoG selbst (§ 1 Abs. 2) die Kommission als „ständige Kommission der Tarifpartner“. Das klingt, als sei deren Tätigkeit unmittelbarer Ausdruck von Tarifautonomie. Der Entscheidungsprozess ist einem tarifautonomen Verfahren immerhin teilweise nachgebildet – auch wenn keineswegs die „Tarifpartner“ beteiligt sind, denn weder DGB noch BDA schließen selbst Tarifverträge ab. Ihre Beteiligung an der Besetzung der Kommission stellt aber eine gewisse Kompensation für den mit dem Mindestlohn (möglicherweise) verbundenen Eingriff in die Tarifautonomie dar, mildert diesen also ab. Damit ist zwar der institutionelle Rahmen von Kommission und Anpassungsverfahren nicht in einer Weise verfassungsrechtlich geschützt, dass der Gesetzgeber diese Struktur nicht mehr ändern könnte. Aber die Existenz des Anpassungsmechanismus wirft doch die Frage auf, ob ein Vertrauen darauf nicht das mildere Mittel für den Eingriff in die (Individual- und Kollektiv-)Vertragsfreiheit gewesen wäre, der mit einer Erhöhung des Mindestlohns verbunden ist.
Vergleicht man die Kommissionsaufgaben mit den aktuellen gesetzgeberischen Zielen, muss man die Frage allerdings klar mit Nein beantworten. Die Mindestlohnkommission wäre nach geltendem Recht gar nicht in der Lage gewesen, aktuell oder kurzfristig den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen. Denn ihre Aufgabe beschränkt sich auf die „Anpassung“ des Mindestlohns.
Für diese Aufgabe gibt § 9 Abs. 2 MiLoG den Orientierungsrahmen vor – eine Norm, die auf den ersten Blick die Quadratur eines Kreises versucht: Einerseits gibt sie materielle Ziele (angemessener Mindestschutz, faire Wettbewerbsbedingungen, sichere Beschäftigung) vor, andererseits den formellen Maßstab der Tarifentwicklung. Die Mindestlohnkommission hat dies in § 3 ihrer Geschäftsordnung so aufgelöst, dass sie den Mindestlohn seit 2018 gemäß der jeweiligen Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes anpasst. Nur wenn sie „besondere, gravierende Umstände“ sieht, kann sie mit 2/3-Mehrheit davon abweichen. Jedenfalls der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat diese Konkretisierung als gesetzeskonform akzeptiert.
Aber ist es nicht gerade ein Argument gegen die gesetzliche Erhöhung auf 12 Euro/h, dass die Mindestlohnkommission diese jetzt nicht beschließen könnte? Denn auch der aktuelle Gesetzentwurf geht ja offensichtlich davon aus, dass die geltenden Verfahren und Kriterien der Anpassung den Mindestlohn angemessen dynamisieren.
Die Anpassung führt aber nur dann zu „angemessenen“ Resultaten, wenn der Ausgangswert angemessen war. Und genau hier setzt der aktuelle Gesetzentwurf an: 2014 habe man einen „bewusst vorsichtigen Einstieg gewählt, der sich an der Pfändungsfreigrenze orientierte“. Seither habe man „Entwicklungspotentiale“ festgestellt. Der Text des Änderungsgesetzes macht auch symbolisch deutlich, dass der Mindestlohn insofern auf eine neue Grundlage gestellt werden soll. Obwohl letztlich nur Zahlen ersetzt werden, formuliert das Änderungsgesetz eine Neufassung des § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG.
Anders als der Mindestlohnkommission geht es dem Gesetzgeber also nicht um eine Anpassung, sondern um eine Erhöhung des Ausgangswerts für die Anpassung.
„Angemessener Mindestschutz“ neuinterpretiert
Darin liegt eine Kritik an der 2014 gewählten Höhe des Mindestlohns. Die „Weiterentwicklung“ soll „einen angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ gewährleisten, also ein Ziel, das sich bereits der Gesetzgeber von 2014 vorgenommen hatte. Damals war es politisch Schwerstarbeit, das Instrument des Mindestlohns gegen mächtige Akteure der Arbeitswelt einzuführen, die damit fremdelten.
Liest man allerdings genauer, positioniert sich das Änderungsgesetz gar nicht gegen die absolute Höhe, die 2014 gewählt wurde, sondern gegen den damaligen Maßstab. Ein neuer Start wird nun damit gerechtfertigt, dass der Begriff „angemessener Mindestschutz“ neu gefüllt wird: Künftig solle „der Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe bei der Mindestlohnhöhe stärker Berücksichtigung“ finden. Der Mindestlohn solle mehr als nur Armut und Belastungen der sozialen Sicherungssysteme durch „Aufstockungen“ vermeiden; er solle es auch ermöglichen, „über das bloße Existenzminimum hinaus am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben und für unvorhergesehene Ereignisse vorzusorgen“ sowie eine armutsvermeidende Altersrente zu erreichen. Indirekt wird damit auf die Zielsetzung eines angemessenen Lebensstandards (living wage) Bezug genommen, die völkerrechtlich das Maß der Dinge ist, und an der sich die Europäische Sozialcharta, die „Europäische Säule sozialer Rechte“ sowie die EU-Richtlinieninitiative für einen Europäischen Mindestlohnrahmen orientieren („Ziel angemessener Arbeits- und Lebensbedingungen, des sozialen Zusammenhalts und der Aufwärtskonvergenz“). Damit ist die Differenz zum Anpassungsmechanismus der Mindestlohnkommission jedenfalls groß genug, um den gesetzgeberischen Eingriff zu rechtfertigen.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die Erhöhung auf 12 Euro/h ihr Ziel auch nachhaltig zu erreichen vermag. Das setzt voraus, dass der Anpassungsauftrag der Mindestlohnkommission im Hinblick auf einen „angemessenen Mindestschutz“ sich ebenfalls an dem neuen Verständnis dieses Begriffs orientiert. Rechtssystematisch liegt das nahe. Diese Neuinterpretation der Aufgabenstellung könnte aber wohl effektiver wirken, wenn man sie expliziter und damit transparenter formulieren würde.
Ausreichende Übergangsfrist?
Angesichts der unechten Rückwirkung, die das Gesetz mit sich bringt, bleibt die Frage des Vertrauensschutzes: Anders als 2014 soll es keine Übergangsfrist für Tarifverträge geben, die unter dem neuen Niveau liegen.
Hier hätte es sich angeboten, die zweijährige Anpassungsperiode abzuwarten; entsprechend der bisherigen Praxis der Mindestlohnkommission war ja ohnehin zu erwarten, dass diese im Juni 2022 eine Anpassung ab Januar 2023 vorsehen würde. Der Regierungsentwurf meint allerdings wohl nicht ganz zu Unrecht, auch mit einer Umstellung ab Oktober 2022 sei „Arbeitgebern Zeit zur Umstellung der Lohnabrechnungen [eingeräumt] sowie den Tarifvertragsparteien Gelegenheit [gegeben], die Tarifwerke gegebenenfalls […] anzupassen“. Was die Umstellung für die Arbeitgeber angeht, so dürfte insofern auch kaum schützenswertes Vertrauen bestehen; schließlich kündigt der Koalitionsvertrag bereits seit November 2021 die Erhöhung auf 12 Euro/h an.
Anders kann das für Tarifparteien sein. Ob es Tarifverträge gibt, die Löhne zwischen 10,45 und 12,00 Euro/h vorsehen, und die im Zeitraum von Oktober bis Dezember auslaufen, ohne dass die Verhandlungen noch vorgezogen werden können, wird man möglicherweise noch erfahren – diese Tarifparteien wären es jedenfalls, deren Verfassungsbeschwerde am Ende am ehesten noch Erfolgsaussichten haben könnte.
Die wichtigeren Baustellen liegen woanders
Nicht immer sind im Wahlkampf die dringlichsten Projekte am plakattauglichsten. Mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro bleiben die eigentlichen Baustellen des MiLoG – Kontrolle und Durchsetzung – leider unberührt. Sowohl die Evaluation des BMAS als auch die internationale Diskussion sehen hier die eigentlichen Schwächen des deutschen Mindestlohns. Angesichts dieser riesigen Lücke des Änderungsgesetzes ist die Mindestlohnerhöhung mit der gleichzeitigen Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung am Ende wahrscheinlich zu teuer erkauft.