03 December 2021

Mehr Menschenrechte wagen

Hört beim Geld die Freundschaft zu den Menschenrechten auf?

In den letzten Wochen entdeckten GRÜNE und Freie Demokraten Gemeinsamkeiten nicht nur in ihrer ökoliberalen Klientel (traditionell Besserverdienende und nun auch Erstwähler*innen), sondern befanden sich auch gesellschaftspolitisch als kompatibel. Dazu gehöre die besondere Verpflichtung zu Freiheitsrechten als Teil der DNA beider Parteien. Zusammen genommen mit dem starken Bekenntnis der SPD zu den sozialen Menschenrechten war die Erwartung geweckt, die neue Ampel-Regierung würde nicht nur eine „Klima-Regierung“, sondern auch eine „Menschenrechts-Regierung“. In Wirklichkeit verdient die Ampel gemessen am Koalitionsvertrag (KoV) diesen Titel aber nur teilweise. Da, wo Menschrechtsschutz ins Geld geht, fällt die Bilanz ebenso mager aus wie dort, wo die verschiedenen politischen Ideologien der Parteien zur Rolle des Staates kollidieren. Dies wird besonders im Bereich der sozialen Menschenrechte (deren Realisierung oft nachgesagt wird, kostspielig zu sein) und dem Themenfeld Unternehmen und Menschenrechte (dem viele Wirtschaftsiberale als übergriffige Regulation der Unternehmensfreiheit ansehen) deutlich.

Ausweitung von Freiheitsrechten

Aber zunächst die positiven Dinge. Insbesondere Freiheitsrechte werden im KoV merklich gestärkt. Genannt als nur drei Beispiele aus vielen seien etwa die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, die Abschaffung des § 219a StGB oder die kontrollierte Abgabe von Cannabis (KoV, SS. 12, 116, 87). Ein solcher Paradigmenwechsel hin zur Stärkung der Freiheitsrechte liegt auch ganz auf der Linie der Vereinten Nationen (VN), deren Menschenrechtsausschuss Deutschland in der Vergangenheit wiederholt für Versäumnisse im Bereich der bürgerlichen und politischen Rechte gerügt hat, etwa für Haftbedingungen, Überwachungsmaßnahmen oder Verbote, im öffentlichen Dienst religiöse Symbole zu tragen (Para. 32 ff.; 42 ff; 44).

Der Zusammenhang von Menschenrechten und Klimawandel

Menschenrechte und Klimaschutz sind eng verbunden – das haben unisono das Bundesverfassungsgericht, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechtbank Den Haag jüngst betont. Der VN Menschenrechtsrat hat vor kurzem sogar eine Resolution für ein Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt beschlossen.

Die im KoV benannte Klimapolitik, die zweifelsohne ehrgeiziger ist als die der GroKo, wird die Menschenrechte schützen, die durch den Klimawandel gefährdet sind (und das sind direkt oder indirekt natürlich fast alle). Die Ampel will sich bei den VN zusätzlich für die „Konkretisierung und Durchsetzung” des neuen Rechts auf eine saubere Umwelt einsetzen (KoV, S. 147). Das klingt zunächst einmal vielversprechend. Der Teufel liegt aber im Detail: wollen die Koalitionäre eine politische oder rechtsverbindliche Verankerung? Es bleibt vage, wohl auch weil eventuelle finanzielle und administrativen Kosten eines solchen Rechtes schwer abzuschätzen sind und auch weil Rechte der dritten Generation, also Gruppenrechte, wie ein Recht auf Umwelt es wäre, ideologisch besonders umstritten sind. Im Wahlprogramm hatten die GRÜNEN jedenfalls noch vollmundig von „verbindlichen“ Schutzmechanismen für vom Klimawandel betroffenen Menschen gesprochen und „Klimaklagen“ befürwortet (WP Grüne, 222). Auch eine ebendort geforderte internationale Gerichtsbarkeit für Verbrechen gegen die Umwelt taucht im KoV nicht auf, obwohl die Debatte durch den Entwurf für einen Straftatbestand „Ökozid“ im Rom-Statut international gerade Fahrt aufnimmt.

Menschenrechte vulnerabler Gruppen

Auch im Bereich vulnerabler Gruppen gilt: was nicht allzu viel Geld kostet, ging den Partnern leicht von der Hand. Kinderrechte will die Ampel im Grundgesetz (GG) verankern und damit ihren Stellenwert gegenüber anderen Rechtsgütern erhöhen. Angemessen ist, dass man sich dabei an den Vorgaben der VN Kinderrechtskonvention orientieren will. Aber das ist leichter gesagt als getan, hatte doch schon die GroKo dasselbe Versprechen aus ihrem Koalitionsvertrag (S. 21) nicht eingelöst. Auch für die Ampel wird es schwer, die nötige Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Im Bundestag mit den Stimmen der Linken mag es klappen, im Bundesrat gegen die aktuell unionsgeführten Länder wird es deutlich schwieriger – ob sich das ändert, werden die Landtagswahlen kommendes Jahr zeigen.

Auch für die LSBTIQ* Community gibt es überall dort gute Nachrichten, wo es wenig Geld kostet. Immerhin soll ein „finanziell unterlegt[er]“ nationaler Aktionsplan entstehen – auch wenn unklar, wer was mit wieviel Geld unterlegt. Trotzdem verdient die kommende Koalition in punkto LSBTIQ*-Rechte einiges Lob, gerade weil die GroKo diese stiefmütterlich behandelt hatte. In der EU geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen und Lebenspartnerschaften sowie Regenbogenfamilien sollen z.B. in allen EU-Staaten rechtlich vollwertig anerkannt werden. Man will sich international für eine neue VN-Konvention basierend auf den Yogyakarta-Prinzipien einsetzen. Auch hier wird die Umsetzung im Angesicht weit verbreiteter Homophobie – nicht nur im globalen Süden, sondern zunehmend auch in Osteuropa – schwierig, aber ein starkes Eintreten Deutschlands ist nichtsdestotrotz ein wichtiges Signal. In Deutschland sollen Patchwork- und queere Familien rechtlich gestärkt werden. So soll das “kleine Sorgerecht” auf bis zu zwei weitere Erwachsene übertragbar sein und Verantwortungsgemeinschaften über Liebes-Partnerschaften hinaus möglich werden (KoV, S. 101). Die Abkehr von der traditionellen Familie als alleiniges Leitbild der Familienpolitik ist damit besiegelt. Mit der Union wäre all das undenkbar gewesen.

Besondere Erwähnung verdienen die Pläne für Transpersonen. In der GroKo hatte die SPD entgegen ihrem 2017’er Wahlprogramm wohl aus Koalitionstreue noch gegen ein Selbstbestimmungsgesetz gestimmt, das das Transsexuellengesetz ersetzen wollte, obwohl das BVerfG dieses völlig veraltete Gesetz mehrfach gerügt hatte (siehe z.B. hier und hier) Auch von den VN hat Deutschland diesbezüglich sein menschenrechtliches Fett weg bekommen (Para. 24), weil das Gesetz Transsexualität möglicherweise pathologisiere und das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Gesundheit verletze. Zukünftig soll der Geschlechtseintrag im Personenstand nun durch bloße Selbstauskunft erfolgen und die erheblichen Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen, die gerade für junge Menschen oft nicht leistbar sind, von der Gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden (KoV, S. 119). Auch soll ein Verbot von Konversionsbehandlungen an Erwachsenen geprüft werden (KoV, S.120). In all diesen Punkten war es einfach übereinzukommen, denn hier gab es keine großen ideologischen Gegensätze und auch die finanziellen Kosten der geplanten Regelungen sind überschaubar. Und so kommt das Gesetz, das im Frühjahr noch krachend scheiterte, nun eben doch.

Menschenrechte und Wirtschaft

Bei diesem Thema treffen in besonderem Maße ideologische Welten aufeinander. Die SPD hatte sich im Wahlprogramm für eine Weiterentwicklung des Lieferkettengesetzes der GroKo ausgesprochen (SPD WP, S. 61) und die GRÜNEN hatten sich in der letzten Legislatur im Bundestag in mehreren Anträgen und in ihrem Wahlprogramm für eine Verschärfung des Gesetzes eingesetzt (u.a.: BT Drucksachen 19/30543 und 19/30544; WP GRÜNE S. 82 f.). Die FDP hingegen hatte das Gesetz im Bundestag stets abgelehnt. Zwar spricht sie sich in ihrem Wahlprogramm (WP FDP, S. 55) für eine europäische Regelung aus, aber sowohl eine Haftung in der Lieferkette über „den Bereich der direkten Kontrolle“, die Begründung neuer zivilrechtliche Haftungsansprüche als auch die „Schaffung weiterer Dokumentationspflichten“ lehnt sie ab. Viel Raum für ein wirksames Lieferkettengesetz bleibt dann nicht. Die Ampel unterstützt zudem eine EU Lieferkettenichtlinie, die auf den Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (VN-Leitprinzipien) basiert.

Insgesamt soll das aktuelle deutsche Lieferkettengesetz aber „unverändert umgesetzt“ und nur „gegebenenfalls verbessert“ werden. Eine Verschärfung ist demnach vom Tisch. Bezüglich der geplanten EU-Richtlinie sollen explizit „kleinere und mittlere Unternehmen nicht überfordert“ werden, was eine Verwässerung des Anwendungsbereichs andeuten könnte. Das wäre bedauerlich, denn die VN-Leitprinzipien nehmen auch kleinere Unternehmen nicht von der Sorgfaltspflicht aus, sondern verpflichten die Staaten, diese Unternehmen bei der Umsetzung der Sorgfaltspflicht, die nach Art und Größe des Unternehmens ohnehin variiert, zu unterstützen.

Unbeantwortet bleiben auch Fragen einer zivilrechtlichen Haftung von Unternehmen für Tochtergesellschaften und Zulieferer. Das bisherige Lieferkettengesetz begründet ausdrücklich keine zivilrechtliche Haftung und erfasst mittelbare Zulieferer überhaupt nur bei substantiierter Kenntnis der Sorgfaltspflicht (§ 3 Abs. 3; § 9 Abs. 3 LieferkettenG). Die GRÜNEN sahen vor der Wahl eine zivilrechtliche Haftung noch als „Kern” eines LieferkettenG an (WP GRÜNE, S. 82). Die finanziellen Auswirkungen auf Unternehmen waren den Freien Demokraten aber wohl doch zu unkalkulierbar.

Auch eine Positionierung zu dem aktuell im VN Menschenrechtsrat verhandelten völkerrechtlichen Vertrag zu Wirtschaft und Menschenrechten lässt der KoV schmerzlich vermissen. Sowohl die GRÜNEN (WP GRÜNE, S. 83) als auch die SPD (WP SPD, S. 61) setzten sich vor der Wahl noch hörbar dafür ein, Deutschland möge die Initiative unterstützen. Ob das Schweigen hierzu im KoV nun eher Zustimmung oder Ablehnung bedeutet, bleibt abzuwarten. Auch hier wird wohl das Geld entscheiden. Jedenfalls sind die entscheidenden Ministerien – Wirtschafts- und Arbeitsministerium sowie das BMZ und das Auswärtige Amt – nun in sozialdemokratischen und grünen Händen.

Soziale Menschenrechte

Soziale Rechte verlangen für ihre Umsetzung verstärkt positives staatliches Handeln. Deswegen wird ihrer Realisierung oft nachgesagt, rightly or wrongly, mit erheblichen Kosten verbunden zu sein. Die dringendste Baustelle in der Umsetzung des Sozialpaktes war in den letzten Jahren die fehlende deutsche Ratifizierung des Fakultativprotokolls, was eine individuelle Beschwerdemöglichkeit geschaffen hätte. Im Bundestag wurden seit 2010 sage und schreibe fünf Anträge zur Ratifizierung abgelehnt, sowohl solche der SPD (damals noch in der Opposition) im Jahr 2010 als auch solche der GRÜNEN in den Jahren 2012, 2015 und 2018 und zuletzt 2021 durch die LINKE. Die GroKo beteuerte gebetsmühlenartig die geplante Ratifizierung, bis sie jüngst verlautbarte, „aus Zeitgründen“ sei dies nicht mehr möglich. Es liegt nun an der Ampel, den Ratifizierungsprozess nicht zu einem Warten auf Godot werden zu lassen.

In der nationalen Umsetzung des Sozialpaktes geht es aber immerhin teilweise voran. So können die Liberalisierung der Drogenpolitik oder die Erleichterung des Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen (KoV, S.116) nicht nur als eine Stärkung bürgerlicher Freiheitsrechte, sondern zugleich auch als Umsetzung des sozialen Rechts auf Gesundheit verstanden werden. Zudem wird der Mindestlohn bekanntermaßen auf 12 Euro steigen, was das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen stärkt. Auch den Vorschlag für eine EU-Richtlinie über angemessene armutsfeste Mindestlöhne will die Ampel unterstützen. Allerdings fehlen im KoV Ausführungen, wie die Einhaltung des Mindestlohns umfassend überprüft und durchgesetzt werden soll. Eigentlich überraschend, denn schon die GroKo hatte dies als Schwachstelle ausgemacht (Para. 54), für die es auch internationale Kritik hagelte (Para. 36 f.).

Auch fehlen Ausführungen im KoV, wie atypische Beschäftigungen (Minijobs, Leiharbeit, etc.) in sichere Arbeitsverhältnisse überführt werden sollen. Diese prekären Beschäftigungsverhältnisse müsste die Regierung aber verbessern, um das Recht auf Arbeit und das Recht auf faire Arbeitsbedingungen wirksam umzusetzen. Trotz der erfreulichen Reformversprechen des KoV fehlen somit noch konkrete Pläne, um Deutschlands Verpflichtungen zum Recht auf Soziale Sicherung nachzukommen (Para. 46 f.).

Beim Thema Wohnen wurde Deutschland angesichts hoher Mieten mittlerweile sogar international aufgefordert (Para. 54 f.), mehr bezahlbare Wohneinheiten zur Verfügung zu stellen und Wohnungslosigkeit zu bekämpfen. Die Pläne zum Bau von 400.000 Wohnungen pro Jahr, die Verlängerung der Mietpreisbremse und das Ziel, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden (KoV, S. 91), sind insofern richtig und wichtig. Um dies allerdings wirksam zu machen, bedürfte es in dem von der Ampel angekündigten Aktionsplan (KoV, S. 91) aber unbedingt auch einer bundesweiten Statistik zur Wohnungslosigkeit. Denn bisher fehlen noch, wie von der GroKo selbst eingeräumt, umfassende Daten.

Eine weitere verpasste Chance: die Verankerung sozialer Menschenrechten als subjektive, einklagbare Rechte im GG bleibt weiter allein dem BVerfG überlassen (vgl. zum Recht Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und zum Recht auf schulische Bildung). Während andere Staaten wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte neben bürgerlichen und politischen Rechten in ihren Verfassungen garantieren, entwickelt sich der deutsche Verfassungstext nicht über 1949 hinaus. Die GRÜNEN hatten in ihrem Wahlprogramm noch die Einführung eines Grundrechts auf Wohnen (WP GRÜNE, S. 130) gefordert. Dies hätte ein Meilenstein in der verfassungsrechtlichen Absicherung sozialer Menschenrechte sein können. Die ideologischen Unterschiede – Stichwort freier Markt oder Sozialstaat – waren hier waren hier wohl zu stark für den großen Wurf.

Licht und Schatten

Der Koalitionsvertrag hat in vielen Bereichen die Menschenrechte gestärkt – überall da, wo sich widerstreitende Parteiideologien hinsichtlich der Rolle des Staates gegenüber seinen Bürger