‚EU-Ausländer’ bleiben trotz Einbürgerung: Der EuGH macht es möglich!
Stellen Sie sich vor, Sie machen als deutscher Staatsbürger von Ihrem Freizügigkeitsrecht als Unionsbürger Gebrauch und arbeiten für einige Jahre in einem anderen Mitgliedstaat. Dort verlieben Sie sich in einen Drittstaatsangehörigen und heiraten diesen. Das hat zur Folge, dass dieser nun als Familienangehöriger i.S.d. Art. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG gilt und ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Aufnahmestaat erhält, dass er vielleicht zuvor dort nicht (mehr) hatte. Und wenn Sie nun mit ihrem Ehegatten nach Deutschland zurückkehren wollen? Dann gilt erst einmal deutsches Aufenthaltsrecht, denn über den Aufenthalt eines drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Deutschen in Deutschland kann das Unionsrecht an sich keine Aussage treffen. Andererseits schützt das Unionsrecht die Freizügigkeit, und zwar auch den realen Gebrauch von ihr. Wäre nun – rein fiktiv – das deutsche Recht in Fragen des Ehegattennachzugs zu Deutschen besonders streng (z.B. in punkto Deutschkenntnisse o.ä.), dann wäre es mit der Freizügigkeit so eine Sache. Sie würden sich eine Rückkehr in die Heimat zweimal überlegen. Vielleicht würden Sie sich in den Drittstaatsangehörigen gar nicht erst verlieben (soweit so etwas möglich ist), um Ihr Liebesleben nicht mit der Rückkehroption nach Deutschland in Konflikt zu bringen. Vielleicht bleiben Sie sogar von Anfang an zu Hause, denn verlieben kann man sich immer. So gesehen könnte man tatsächlich sagen, dass es sich hemmend auf den Gebrauch der Freizügigkeit auswirken könnte, wenn die Freizügigkeitsrichtlinie mit ihren Schutzvorschriften – auch zugunsten von Familienangehörigen – auf Personen, die nach Gebrauchmachen ihres Freizügigkeitsrechts in ihre Heimat zurückkehren wollen, nicht anwendbar wäre.
Ausgangspunkt: ‚Recht auf Rückkehr’
Dieser Gefahr wollte der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 begegnen. Im dem Fall ging es um einen in Spanien ansässigen Nigerianer namens O., der eine Niederländerin geheiratet hatte. Diese – vom Gerichtshof liebevoll „Referenzperson des O.“ genannt – müsse in ihre Heimat in jedem Fall zusammen mit ihrem Ehemann zurückkehren können. Andernfalls bestünde eine „Art von Hindernis für die Ausreise aus dem Herkunftsmitgliedstaat“ (Rdnr. 49). Daraus folgerte der Gerichtshof, dass für Unionsbürger, die in einem anderen EU-Staat mit einem Drittstaatsangehörigen eine Familie gegründet haben, die Freizügigkeits-Richtlinie bei der Rückkehr entsprechend anwendbar ist. (Rdnr. 61). Dieses überzeugende Ergebnis begründet der Gerichtshof überdies mit einem Gleichheitsargument: Es wäre sinnwidrig, die Anwendbarkeit der Richtlinie in solchen Fällen davon abhängig zu machen, ob der Betroffene mitsamt seinem Ehegatten in den Heimatstaat zurückkehren will oder in einen wiederum ganz anderen Mitgliedstaat weiterzieht. Freizügigkeitsgebrauch soll mit anderen Worten das ‚Recht auf Rückkehr’ auch mit einem hinzugetretenen Familienangehörigen beinhalten.
Eine Luxemburger Erfindung: der Inländer mit Freizügigkeitshintergrund
So weit, so gut. In der vergangenen Woche hat der Europäische Gerichtshof, aufbauend auf die entsprechenden Schlussanträge des GA Bot, diese Doktrin weiterentwickelt. In diesem Fall ging es um eine Spanierin, die im Vereinigten Königreich seit 1996 lebte und auch die britische Staatsbürgerschaft erworben hatte – unter Beibehaltung der Heimatstaatsangehörigkeit. Einige Jahre nach Erwerb der britischen citizenship lernte sie den algerischen Staatsangehörigen Lounes kennen, der als sog. ‚overstayer’ illegal im Land war (sein sechsmonatiges Besuchervisum war abgelaufen), und dies im Zeitpunkt der Eheschließung bereits seit fast vier Jahren. Hätte nun eine (gemeinsame) Rückkehr nach Spanien angestanden, wäre die o.g. Doktrin klar zur Anwendung gekommen und zwar ganz unabhängig vom zwischenzeitlichen Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit. Hätten die spanischen Behörden das spanische Aufenthaltsrecht mit seinen Regularien dagegen ins Feld geführt, hätte das Ehepaar sich auf die entsprechende Anwendung von Art. 3 der FreizügigkeitsRL gegenüber dem Heimatstaat der Frau berufen können. Deren Aufenthalt in Großbritannien hätte dazu geführt, dass sie als spanische Bürgerin vom spanischen Staat wie der Bürger eines anderen Mitgliedstaats behandelt werden müsste, so wie im Fall von 2014 die Niederlande in Bezug auf die „Referenzperson“ im Ergebnis verfahren musste. Im Grunde hat der Gerichtshof hier, indem er aus der Perspektive eines Mitgliedstaats die Rechte aus dem Freizügigkeitsregime auf eine bestimmte Gruppe der eigenen Staatsangehörigen erstreckt hat, hier eine neuartige Kategorie erfunden: den Inländer mit Freizügigkeitshintergrund.
Im aktuellen Fall wollte das Ehepaar aber gar nicht nach Spanien zurückkehren, sondern in Großbritannien bleiben. Das hindert den Gerichtshof aber nicht, die gleichen Grundsätze anzuwenden, da hier die Ehefrau die britische Staatsangehörigkeit erworben hatte. Herr Lounes, dem als Drittstaatsangehörigen trotz der Ehe mit einer Britin nicht (bzw. nicht so ohne weiteres) ein Aufenthaltsrecht in Großbritannien zusteht (allein schon infolge seines Vorverhaltens), soll nach Ansicht des Gerichtshofs nun auch in den Genuss eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts kommen. GA Bot hat die Übertragbarkeit der Rückkehr-Doktrin auf den hiesigen Fall recht kühn behauptet und gewissermaßen eine virtuelle ‚Rückkehr’ der Ehefrau in ihre neue Heimat angenommen. Indem sie zur Britin geworden ist, habe sie „ihren Willen zum Ausdruck gebracht“, in Großbritannien in derselben Weise zu leben, wie sie es in ihrem Herkunftsstaat getan hätte, und zwar „durch Knüpfung nachhaltiger und fester Bindungen […].“ (Rdnr. 83). Hiergegen ließe sich freilich einwenden, dass es in der Entscheidung von 2014 um die reale Ermöglichung des Aufenthalts (mit Ehepartner) in der alten Heimat ging, wohingegen es im jetzigen Fall um den Verbleib (mit Ehepartner) in der neuen Heimat ging; dieser hätte freilich an sich nicht in Frage gestanden, wäre es nicht zum Staatsangehörigkeitserwerb gekommen (denn dann wäre die FreizügigkeitsRL von vornherein weiter anwendbar gewesen).
Hier hinkt die Vergleichbarkeit der beiden Fallkonstellationen und hier stellt sich die Frage, ob dies nicht als Einbürgerungs-‚Risiko’ vom Betroffenen nicht zu tragen ist. Aus Sicht der britischen Behörden, die von einer rein innerstaatlichen Rechtsfrage ausgingen, war der Verlust der unionalen Freizügigkeitsrechte ja nur Folge einer freien Entscheidung, nämlich der, nunmehr Bürgerin des britischen Staatsverbands zu sein. Die von GA Bot angeführte Rottmann-Doktrin, wonach Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats wegen der Auswirkungen auf den Unionsbürgerstatus zur Anwendbarkeit des Unionsrechts führen, offenbart indes, dass infolge des Ineinandergreifens von Staatsangehörigkeitsrecht, nationalem Aufenthaltsrecht und Freizügigkeitsrecht hier keine staatliche domaine reservé mehr vorliegt. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass die Auswirkungen in der Konstellation des Lounes-Falls unannehmbar sind. Hier sind gute Gründe für eine (neuerliche) Ausweitung des Anwendungsbereichs der Freizügigkeits-Richtlinie gefragt.
Grenzen der Übertragbarkeit: ‚Voll’-Integration als Freizügigkeitshindernis?
Der Gerichtshof hat, anders als der Generalanwalt, nicht die Analogie zur Rückkehr-Doktrin in das Zentrum der Entscheidungsründe gestellt, sondern den Aspekt der Integration. Ratio des Freizügigkeitsregimes sei es, „die schrittweise Integration des betreffenden Unionsbürgers in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates zu fördern“ (Rdnr. 56), weshalb nach fünf Jahren ununterbrochenen Aufenthalts der Unionsbürgers ein Daueraufenthaltsrecht für sich und seine Familienangehörigen erwirbt (vgl. bei uns: §§ 4a FreizügG/EU, 9a AufenthG).
Dass die Einbürgerung die ‚Krönung’ individueller Integration verkörpert – eine verbreitete, wenn auch nicht unbestrittene Auffassung – findet auch der Gerichtshof, weshalb es widersprüchlich sei, dass sich die Rechte des Einzelnen zum Zusammenleben mit einem Familienangehörigen „verringern, je besser er in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaates integriert ist und je mehr Staatsangehörigkeiten er besitzt.“ (Rdnr. 59).
Der ‚Widerspruch’ erweist sich freilich bei näherem Hinsehen als unmittelbare Folge der vom Betroffenen gewünschten Voll-Integration in den Staatsverband des Aufnahmelandes; das Freizügigkeitsregime indes will an sich die Integration unterhalb dieser Schwelle steuern, also die von ‚EU-Ausländern’, wie man die Bürger anderer EU-Staaten umgangssprachlich gerne nennt.
Der Umstand indes, dass die Ehefrau auch noch die spanische Staatsangehörigkeit besitzt, schlägt hier nun jedenfalls in der Sache durch, ohne dass der Gerichtshof dies expliziert: Denn im Grunde soll der britische Staat verpflichtet sein, sie als Spanierin zu behandeln; GA Bot jedenfalls hat betont, dass man diesen Aspekt nicht „unberücksichtigt lassen“ könne (Rdnr. 38).
Dass der Verzicht auf die spanische Staatsbürgerschaft im Falle des Brexit-Vollzugs tatsächlich auch den gänzlichen Verlust der Unionsbürgerrechte mit sich brächte (es sei denn, man dächte darüber nach, aus dem Unionsrecht für diesen Fall den Fortbestand der individuellen Unionsbürgerrechte auch ohne Zwischenschaltung des diese vermittelnden Mitgliedstaats zu folgern), darf als besondere Ironie dieses Falls betrachtet werden.
Die gleichheitsrechtliche Komponente tritt schließlich hinzu: Im Vergleich zu Personen mit der gleichen Vorgeschichte, die sich nun aber in einem dritten Mitgliedstaat niederlassen möchten, wäre Frau García Ormazábal benachteiligt, trotz identischen Freizügigkeitshintergrunds. Mithin ist es nach Ansicht des Gerichtshofs nicht einzusehen, dass der Fall anders zu behandeln wäre, wenn das spanisch-britisch/algerische Paar nun beschlösse, etwa nach Frankreich zu ziehen. Umgekehrt soll eine diskriminierende Gleichbehandlung vorliegen: Denn behandelt zu werden, wie ein britisch-spanischer Doppelstaater ohne Freizügigkeitshintergrund (vgl. Rdnr. 54), erachtet der Gerichtshof offenbar auch für sinnwidrig.
Entscheidend ist indes in der Gesamtargumentation des Gerichtshofs, dass das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht in seiner praktischen Wirksamkeit eingeschränkt werden darf. Auch hier sind allerdings gewisse Zweifel angebracht. Kehren wir zurück zu unserer Ausgangsfrage: Stellen Sie sich vor, Sie beabsichtigen als Deutscher in einen anderen Mitgliedstaat zu gehen. Würden Sie sich realistischerweise davon abhalten lassen in Hinblick darauf, dass die ‚vollen’ Freizügigkeitsrechte (auch und gerade in Hinblick auf zwischenzeitlich geehelichte Drittstaatsangehörige) und die ‚vollen’ Bürgerrechte des Aufnahmemitgliedstaates sich am Ende ausschließen?
Am Ende geht es wohl auch um etwas ganz anderes, und das hat GA Bot dankenswerterweise offengelegt: die „bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Ausgestaltung des Unionsbürgerstatus“ weiterzuführen (Rdnr. 8). Zu diesem Zweck wird ein weiter Schutzzweck des Art. 21 Abs. 1 AEUV angenommen und die Richtlinie primärrechtskonform, wenngleich über den Wortlaut hinaus, ,ausgelegt’. Dies ist wenig überzeugend, zumal die Rückkehr-Fälle vom Sachverhalt her ganz anders gelagert sind, konstruktiv kühn (dabei sicher nicht ultra vires) und in Hinblick darauf, dass eine Einbürgerung wohl mehr ist als einfach nur gesteigerter Freizügigkeitsgebrauch, auch im verfolgten Ziel nicht ganz konsistent. Das Freizügigkeitsrecht droht seine Konturen zu verlieren. Die 2014 erfolgte Anerkennung der Möglichkeit, als Inländer infolge vorangegangenen Freizügigkeitsgebrauchs in den Genuss der Freizügigkeitsrechte gelangen zu können, wurde gleichwohl vertieft und bestärkt und das ist sicherlich auch zu begrüßen. Karl Valentin lehrte: „Der Fremde ist nur in der Fremde fremd.“ Das stimmt so jedenfalls nicht mehr.
Ein zuerst illegaler Drittstaatler soll in Großbritannien durch Eheschließung mit einer aus der EU Eingebürgerten allein aus der Einbürgerung weniger weitere Aufenthaltsrechte erlangen können.
Wenn nur aus einer neuen Staatsbürgerschaft weniger weitere Aufenthaltsrechte folgen sollen, können sich Aufenthaltsrechte bei einem Umzug in der EU weniger verschlechtern. Damit können hier eventuell selbst aus EU-Freizügigkeit weniger weitere Aufenthaltsrechte folgen.
Wenn aus EU-Freizügigkeit weniger weitere Aufenthaltsrechte folgen können, wie können aus einer EU-Freizügigkeit weitere Aufenthalsrechte für eine Staatsbürgerschaft folgen?
sollen,
Gibt es auch eine Übersetzung ?
Was will mir der Autor jetzt sagen?
Muss ich jetzt erst Verfassungsrechtler werden, damit ich das verstehe ?
@Bernhard: In einem Blog zu Verfassungsrecht wäre das womöglich ein hilfreicher Ansatz, ja.
@Reinwatz: Danke für deine Hilfreiche Antwort.
Ggf. kannst du mir noch sagen, was ‚EU-Ausländer’ trotz Einbürgerung bleiben `?
Die EU will einfach nicht akzeptieren, dass die Staatsbürgerschaft die Grundlage aller Bürgerrechte ist – auch der EU-Rechte.
Wäre durch die unterschiedliche Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG nicht eine Verletzung des Gleichheits- bzw. Nichtdiskriminierungsgebot der Europäischen Grundechtecharta gegeben? Als Bsp: wenn Ich als Deutsche Staatsbürgerin mit meinem Drittstaatsangehörigen Ehemann in einem Drittstaat lebe und einen Kurzurlaub (kein Aufenthalt) mit meinen Ehepartner in Deutschland verbringen möchte, sind verschiedenste Dokumente zur Visumbeantragung erforderlich (z.B. Flugticket, Reiseversicherung, Nachweis über finanzielle Mittel, Unterkunftsnachweis, etc.). Der Antrage könnte nach Bewertung ggf. abgelehnt werden. Sollte Ich meinen Urlaub allerdings in Österreich verbringen, wäre die Visumvergabe durch die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG gedeckt und es bestünde ein Recht auf beschleunigte und unentgeltliche Visumvergabe. Meines Erachtens kommt dies einer Schlechterstellung durch den Staat dessen Staatsbürger man ist gleich und wäre nicht mit der Grundrechtecharta vereinbar.