Extraterritoriale Einbürgerungen als Hegemonialinstrument
Zur systematischen Verleihung der russischen Staatsangehörigkeit als Mittel der Destabilisierung anderer Staaten
Die Hegemonialbestrebungen Russlands (bzw. seines Präsidenten Wladimir Putins) haben ihren vorläufigen Höhepunkt in der offenen militärischen Invasion der Ukraine gefunden: Nachdem Russland am 21.02.2022 die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt hat, marschierten russischen Truppen am 24.02.2022 in die Ukraine ein. Russland wird nicht müde, sein Verhalten zu rechtfertigen und als völkerrechtskonform darzustellen. Hierzu stützt es sich unter anderem darauf, dass ein substanzieller Anteil der Bevölkerung im Donbas die russische Staatsangehörigkeit besitzt. Tatsächlich hat Russland in den letzten Jahren zahlreichen Menschen im – nach russischer Diktion – ›Nahen Ausland‹ die russische Staatsangehörigkeit verliehen und dadurch seine Einflusssphäre ausgeweitet.
Das jetzige russische Vorgehen in der Ukraine wurde seit 2019 durch eine systematische Einbürgerungspraxis Russlands im Donbas vorbereitet. Russland hat weit vor seinem Einmarsch in die Ukraine das Staatsangehörigkeitsrecht als Mittel der Außenpolitik instrumentalisiert. Durch seine massenhafte, regional verdichtete, extraterritoriale Verleihung der Staatsangehörigkeit hat Russland gegen das Interventionsverbot verstoßen und die Ukraine damit – schon lange vor dem Einmarsch russischer Truppen – in ihrer territorialen Souveränität verletzt.1)
Kern der Praxis: die Staatsangehörigkeit
Die Staatsangehörigkeit bestimmt hinsichtlich der Erdbevölkerung den Teil, der zu einem Staat gehört. Zutreffend definiert Art. 2 lit. a Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (European Convention on Nationality; SEV Nr. 166) die Staatsangehörigkeit anhand ihrer Funktion: Sie ist »das rechtliche Band zwischen einer Person und einem Staat und weist nicht auf die Volkszugehörigkeit einer Person hin«. Die Staatsangehörigkeit definiert das Staatsvolk eines jeden Staates. Aufgrund ihrer engen Verbindung mit diesem staatskonstitutiven Merkmal, wird das Staatsangehörigkeitsrecht oft als eine der letzten Bastionen der staatlichen Souveränität angesehen, in die das Völkerrecht nicht vordringt. Diese vermeintliche völkerrechtliche Regellosigkeit macht sich auch Russland seit 2002 zunutze, indem es seine Staatsangehörigkeit systematisch und massenhaft an außerhalb des russischen Staatsgebiets wohnhafte Menschen verleiht und hierdurch die betreffenden Domizilstaaten destabilisiert. Diese russische Einbürgerungspraxis wird oft als passportisation oder – eingedeutscht – als Passportisierung bezeichnet. Obgleich das Schlagwort einprägsam ist, darf nicht vergessen werden, dass es um die Verleihung der Staatsangehörigkeit und nicht allein um die Aushändigung eines Reisepasses (passport) geht.
Politisches Störgefühl
Massenhafte, regional verdichtete, extraterritoriale Einbürgerungspraktiken erwecken international ein politisches Unbehagen. Dies zeigte sich unter anderem bei den Plänen Österreichs, welches 2017 die Absicht äußerte, Bewohner Südtirols in großem Stil einzubürgern. Dies rief deutliche Kritik Italiens hervor. Inzwischen hat Österreich von diesen Plänen Abstand genommen. Gleichwohl kommen extraterritoriale Einbürgerungspraktiken immer wieder vor.2)
Russland hat es durch eine extensive Einbürgerungspolitik vollbracht, dass in bestimmten Regionen außerhalb des russischen Staatsgebiets die Mehrheit der Bevölkerung die russische Staatsangehörigkeit besitzt. Dies betrifft namentlich die Gebiete Transnistrien (Moldawien), Abchasien und Südossetien (Georgien) sowie Donezk und Luhansk (Ukraine). Auch auf der völkerrechtswidrig annektierten Krim leben inzwischen mehrheitlich russische Staatsangehörige.
Aufgrund der mehrheitlich russischen Bevölkerung könnte man sagen, dass die obig genannten Regionen jedenfalls personell betrachtet ›russisch‹ sind. Es verwundert daher nicht, dass Russland entsprechende Verlautbarungen äußert – und zwar schon vor der aktuellen Eskalation. Zugleich macht Russland immer wieder geltend, dass es seine eigenen Staatsangehörigen auch außerhalb des eigenen Staatsgebiets beschützen werde. Dies ist zudem sowohl in Art. 61 Abs. 2 der russischen Verfassung als auch Art. 7 Abs. 1 des russischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (RUS-StAG)3) festgeschrieben. Diese innerstaatlich festgeschriebene Schutzpflicht und die vermeintliche Schutzbedürftigkeit der Menschen ist einer der Stränge, durch die Russland versucht sein Eingreifen zu legitimieren.
Der Schutz eigener Staatsangehöriger ist für sich genommen ein legitimes Anliegen und wird auch von westlichen Staaten oftmals geltend gemacht. Das Problem im Falle Russlands liegt jedoch in der Konnexität von massenhaften, regional verdichteten, extraterritorialen Einbürgerungen und entsprechenden Schutzbekundungen. Hierdurch wird die staatliche Handlungsfreiheit des Domizilstaates – Schutzgut des Interventionsverbots – beeinträchtigt. Russland stellt durch seine Schutzankündigungen militärische Gewalt für den Fall in Aussicht, dass der jeweilige Domizilstaat (also z.B. die Ukraine) die russischen Staatsangehörigen nicht – nach russischem Verständnis – angemessen behandelt. Wie ernst diese Ankündigungen der Vergangenheit waren, zeigt die aktuelle russische Invasion der Ukraine mehr als deutlich.
Der Anfang: Russlands Einbürgerungspraxis in Georgien seit 2002
Ein kurzer Blick in die Geschichte offenbart, dass das russische Vorgehen einem etablierten Muster folgt, welches durch eine systematische Ausweitung der Einflusssphäre mithilfe massenhafter Einbürgerungen geprägt ist.
Russland bürgert seit 2002 massenhaft Menschen in Staaten des sogenannten ›Nahen Auslands‹ ein. Diese Politik wurzelt in einer 2002 vorgenommen Änderung des RUS-StAG. Art. 14 RUS-StAG ermöglicht eine Einbürgerung in einem vereinfachten Verfahren. Insbesondere ist nach Art. 14 Abs. 4 RUS-StAG für ehemalige Staatsangehörige der Sowjetunion die Voraussetzung eines fünfjährigen Aufenthalts auf russischem Staatsgebiet ausgesetzt.
Nachdem die innerstaatliche Rechtmäßigkeit entsprechender Einbürgerungen hierdurch hergestellt war, begann Russland 2002, massenhaft Menschen in den georgischen Regionen Abchasien und Südossetien einzubürgern. Auch in diesem Fall spielte das Geschehen in separationswilligen Regionen, die sich selbst als unabhängige Staaten betrachten und eigene ›Staatsangehörigkeiten‹ verliehen. Mangels Staatsqualität der Regionen wurden diese ›Staatsangehörigkeiten‹ international aber zurecht nicht anerkannt. Die Krux an der russischen Einbürgerungspraxis: Russland zwang seine Staatsangehörigkeit den betreffenden Menschen nicht auf. Vielmehr erfolgten die Einbürgerungen freiwillig, obgleich ein gewisser Druck seitens der russischen Seite bestand. Infolge dieser Einbürgerungspraxis leben in Abchasien und Südossetien weit überwiegend russische Staatsangehörige (man muss von über 80 % ausgehen), obwohl diese Regionen völkerrechtlich Teil Georgiens sind. Die damit einhergehenden Spannungen gipfelten 2008 im sogenannten Fünf-Tage-Krieg (Kaukasuskrieg 2008) und bestehen bis heute fort.
Die Wiederholung: Russlands Einbürgerungspraxis in der Ukraine seit 2019
Das gleiche Muster verfolgte Russland auch in den Regionen Donezk und Luhansk, indem es seit 2019 massenhaft seine Staatsangehörigkeit an Bewohner dieser ukrainischen Regionen verleiht. Möglich wurde dies durch eine entsprechende Gesetzesänderung. Mit Gesetz vom 27.12.2018 wurde Art. 29 Abs. 1.1 RUS-StAG eingefügt. Durch diese Vorschrift wird der russische Präsident ermächtigt, Kategorien ausländischer Staatsangehöriger und staatenloser Personen festzulegen, die zur Beantragung der russischen Staatsangehörigkeit im vereinfachten Verfahren nach Art. 14 RUS-StAG berechtigt sind. Durch Dekret Nr. 183 vom 24.04.2019 wurden die Einwohner der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk entsprechend berechtigt. Seitdem sind hunderttausende russische Staatsangehörigkeiten verliehen und damit einhergehend russische Reisepässe ausgehändigt worden. Die Vorteile liegen für die betroffenen Menschen oft auf der Hand: Mit dem russischen Reisepass erhalten sie einen Reisepass, der international anerkannt ist, anders als die ›Reisepässe‹, die von den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgegeben werden. Zudem verleiht Russland nicht nur Reisepässe, sondern gewährt – einer Staatsangehörigkeit entsprechend – auch gewisse soziale und politische Rechte.
Zur Völkerrechtswidrigkeit der russischen Praxis
Das geltende Völkerrecht ist nicht indifferent gegenüber dem Staatsangehörigkeitsrecht, sondern setzt gewisse Vorgaben hinsichtlich der Verleihung der Staatsangehörigkeit. Zwar verbleibt den Staaten ein weiter Spielraum, allerdings hat Russland diesen im Falle der massenhaften, extraterritorialen Einbürgerungen überschritten.
Generell gilt: Die Staatsangehörigkeit darf losgelöst von einer Beziehung zum Staatsgebiet verliehen werden. Ein generelles Verbot extraterritorialer Einbürgerungen enthält das geltende Völkerrecht nicht. Dies zeigt sich exemplarisch an dem (unangefochtenen) Abstammungsprinzip (ius sanguinis), welches es Staaten erlaubt, ihre Staatsangehörigkeit an die Kinder ihrer Staatsangehörigen zu verleihen, völlig unabhängig von Geburts- oder Wohnort.
Auch das oft proklamierte Erfordernis eines sogenannten genuine link – besser ausgedrückt einer vernünftigen Verbindung – ist nicht verletzt: Dieser völkerrechtlichen Voraussetzung für die Verleihung der Staatsangehörigkeit ist durch eine subjektive Verbindung zwischen Russland und den eingebürgerten Menschen genüge getan.4) Schließlich basieren die russischen Einbürgerungen nach Art. 14 Abs. 4 RUS-StAG (i.V.m. Dekret Nr. 183) auf einem Antrag der betroffenen Personen, also einer freiwilligen Willensbekundung dem russischen Staat zugehören zu wollen.
Gleichwohl verstößt die extraterritoriale Einbürgerungspraxis Russlands in gewissen Fällen gegen das Völkerrecht, namentlich das völkerrechtliche Interventionsverbot. Dieser völkerrechtliche Verbotssatz ist rechtlich nicht ganz einfach zu fassen.5) Grundlegend ist Voraussetzung einer völkerrechtswidrigen Intervention, dass in den domaine réservé eines anderen Staates eingegriffen wird und diesem Eingriff Zwangscharakter zukommt.
Im Falle der russischen Einbürgerungspraxis sind Georgien bzw. die Ukraine in ihrer territorialen Souveränität verletzt. Diese umschreibt das umfassende Herrschaftsrecht über ein bestimmtes Gebiet und gehört grundsätzlich zum domaine réservé.
Massenhafte, regional verdichtete, extraterritoriale Einbürgerungen führen möglicherweise – bzw. von Russland wohl gezielt herbeigeführt – dazu, dass die betreffende Region mehrheitlich von Personen bewohnt wird, die die Staatsangehörigkeit eines konkreten anderen Staates (in casu Russland) besitzen. Derartige Situationen bergen die Gefahr, dass Bestrebungen entstehen bzw. erstarken, welche das betreffende Gebiet der Hoheitsgewalt des einbürgernden Staates – als neuer Heimatstaat der Personen – unterstellen wollen. Damit allerdings die territoriale Souveränität tangiert ist, muss das Herrschaftsrecht über das jeweilige Gebiet durch den einbürgernden Staat angezweifelt werden – so wie im Falle der Regionen Donezk und Luhansk geschehen und durch die Anerkennung dieser sogenannten Volksrepubliken durch Russland am 21.02.2022 manifestiert. Insbesondere wenn sich die Verleihung der Staatsangehörigkeit als Unterstützung einer separationswilligen Gruppe darstellt, liegt es nahe, dass hiermit zugleich die territoriale Souveränität angezweifelt wird. Auch ein Blick auf die Friendly Relations Declaration (UNGA, Resolution 2625 v. 24.10.1970) unterstützt dieses Ergebnis, schließlich bestimmt diese: »[N]o State shall organize, assist, foment, finance, incite or tolerate subversive, terrorist or armed activities directed towards the violent overthrow of the regime of another State, or interfere in civil strife in another State.« Die Unterstützung von Separatisten, die sich völkerrechtswidrig abspalten wollen, ist mit diesen Beispielen vergleichbar. Durch die massenhafte Verleihung der russischen Staatsangehörigkeit hat Russland die Regionen Abchasien und Südossetien sowie Donezk und Luhansk in ihren Separationsbestrebungen unterstützt und sich hierdurch in die inneren Angelegenheiten Georgiens bzw. der Ukraine eingemischt.
Dem russischen Verhalten kommt ferner Zwangscharakter zu: Russland wollte Georgien bzw. die Ukraine zur Aufgabe ihrer territorialen Herrschaftsansprüche über die betreffenden Regionen in unverhältnismäßiger Art und Weise bewegen. Anschaulich ist hierbei ein Vergleich zu etablierten Fallgruppen des Interventionsverbots. Anerkannt sind unter anderem folgende Fallgruppen: das Hervorrufen bzw. Aufwiegeln von inneren Unruhen mit dem Ziel des Umsturzes des Regimes, die vorzeitige Anerkennung eines Gebildes als Staat und die Unterstützung von Aufständischen. In all diesen Fallgruppen geht es im Kern um die Destabilisierung eines Staates. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit an Bewohner abtrünniger Regionen wie Südossetien und Abchasien sowie Donezk und Luhansk ist hiermit vergleichbar. Die massenhafte Verleihung der Staatsangehörigkeit an Personen, die in einem fremden Staat wohnen und Abspaltungsbestrebungen betreiben, bewirkt eine Destabilisierung des betreffenden Staates, namentlich Georgiens bzw. der Ukraine. Ziel ist, wie z.B. bei der vorzeitigen Anerkennung eines Gebildes als Staat, dass der Domizilstaat die Herrschaft über das betreffende Territorium verliert. Die jeweiligen Staaten sind in ihrer territorialen Souveränität verletzt – und zwar schon weit vor dem Einmarsch russischer Truppen.
Fazit
Russland hat seit Jahren die Ukraine destabilisiert, unter anderem durch eine massenhafte Verleihung der russischen Staatsangehörigkeit in den Regionen Donezk und Luhansk. Auch hierdurch hat es die jetzige Invasion vorbereitet und versucht, eine Legitimation für diese zu schaffen. Allerdings verstößt schon jene als passportisation bekannt gewordene Praxis Russlands in Abchasien und Südossetien sowie Donezk und Luhansk gegen das Interventionsverbot.
References
↑1 | Zu den entsprechenden Maßstäben siehe P. R. Hoffmann, Völkerrechtliche Vorgaben für die Verleihung der Staatsangehörigkeit, 2022, S. 259–276. |
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↑2 | Vgl. hierzu P. R. Hoffmann, Völkerrechtliche Vorgaben für die Verleihung der Staatsangehörigkeit, 2022, S. 147–152. |
↑3 | Eine deutsche Übersetzung findet sich bei M. Lorenz, Russische Föderation (2021), in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe und Kindschaftsrecht: mit Staatsangehörigkeitsrecht, Bd. XVII, 242. EL, S. 11–31. |
↑4 | Vgl. hierzu P. R. Hoffmann, Völkerrechtliche Vorgaben für die Verleihung der Staatsangehörigkeit, 2022, S. 229–232, 249–254. |
↑5 | Aufschlussreich aber M. Athen, Der Tatbestand des völkerrechtlichen Interventionsverbots, 2017. |