Falsch verstandene Effektivität vor Rechtsstaatlichkeit?
Das Eckpunktepapier zur Modernisierung des Strafverfahrens
Die im Mai 2019 durch das Kabinett beschlossenen „Eckpunkte zur Modernisierung des Strafverfahrens“ kündigen die nächste punktuelle Reform der Strafprozessordnung an. Neben einem Ausbau staatlicher Eingriffsbefugnisse, insbesondere in Form der erweiterten DNA-Analyse, wird sie voraussichtlich erhebliche Beschränkungen der Beschuldigten- und Verteidigungsrechte enthalten. Der Entwurf verfolgt damit den seit längerer Zeit von Politik und Strafjustiz bespielten Topos der Beschleunigung und Effektivierung, hinter dem sich zumeist die Bekämpfung unbequemen Verteidigungsverhaltens verbirgt. Die geplanten Änderungen knüpfen insoweit nahtlos an die Novelle aus dem Sommer 2017 und die kontroversen Forderungen der seit 2016 stattfindenden Strafkammertage an. Dass Beschuldigte ihre Rechte aktiv ausüben, wird offenbar zunehmend als unliebsames Hindernis wahrgenommen, das es im Namen des Rechtsstaates zu beseitigen gilt. Diese Tendenz ist besorgniserregend, machen doch gerade diese Elemente das rechtsstaatliche Verfahren aus. Das gilt umso mehr, als derzeit in ganz Europa populistische Strömungen zum Angriff auf Verfassung und Rechtsstaat blasen.
Einschnitte im Beweisantragsrecht
Das Beweisantragsrecht ist Kern des Strafprozesses, wesentliches Werkzeug der Verteidigung und eines der wichtigsten Gestaltungsmittel des Beschuldigten. Auf die 2017 vorgenommenen Einschnitte folgt nun bereits der nächste Schlag. So soll es in Zukunft leichter werden, Beweisanträge abzulehnen, während sich zugleich die Anforderungen an das Stellen von Beweisanträgen erhöhen. Ansatzpunkt ist dabei vor allem der Ablehnungsgrund der sogenannten Prozessverschleppung aus § 244 Abs. 3 S. 2 StPO. Danach ist ein Antrag abzulehnen, wenn er ausschließlich eine (wesentliche) Verzögerung des Verfahrens bezweckt. Das Eckpunktepapier stellt fest, dass „der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht in der juristischen Praxis lediglich ein Schattendasein fristet“. Das ist auch gut so. Anstatt aber zufrieden mit der geringen Anzahl von in Verschleppungsabsicht gestellten Beweisanträgen zu sein, wird nun paradoxerweise ein künstlicher Bedeutungszuwachs der Regelung angestrebt und zu einer großzügigeren Anwendung aufgerufen. Um dies zu erreichen, sollen die normativen Voraussetzungen für die Annahme der Verschleppungsabsicht abgesenkt werden.
Wie schon die vorangegangenen Einschränkungen des Beweisantragsrechts wird auch dieses Vorhaben mit „missbräuchlich gestellten Beweisanträgen“ begründet. Dieses Narrativ ist selbst Teil des Problems: Beweisanträge werden nicht gestellt, um das Verfahren zu verzögern, sondern um das (Tat-)geschehen zu beleuchten und ggf. nichtzutreffende Vorwürfe gegen den Angeklagten zu entkräften. Sie tragen so zur Wahrheitsfindung bei und stellen zugleich eines der wenigen Mittel dar, über die der Beschuldigte verfügt, um seine grundgesetzlich verankerte Stellung als Subjekt des Verfahrens wahrzunehmen. Dass ein gründlicher Prozess, in welchem auch der Angeklagte von seinen Rechten Gebrauch macht, länger dauern kann, mag vielen nicht schmecken. Gesetzgeberische Versuche, Strafverfahren zu Lasten des Beschuldigten abzukürzen, sind aber völlig fehl am Platz. Wer hinter Beweisanträgen eine bloße Verzögerungstaktik wittert, ist schon von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Konsequenterweise wurde für die diesbezügliche Passage des Eckpunktepapiers die Überschrift „Vereinfachung des Beweisantragsrechts“ gewählt. Einfacher wird es damit vielleicht, eine Verurteilung herbeizuführen. Das Beweisantragsrecht selbst wird hingegen komplizierter und restriktiver.
Rückbau des Ablehnungsrechts
Auch die schon 2017 geänderten Regelungen zur Ablehnung von Richtern wegen Befangenheit sollen erneut zurückgeschraubt werden. Konkret sieht das Eckpunktepapier vor, dass der abgelehnte Richter die Verhandlung künftig zwei Wochen lang und sogar bis zur Urteilsverkündung fortsetzen kann, ohne über das Ablehnungsgesuch zu entscheiden. Außerdem sollen bestimmte Gesuche künftig präkludiert sein, wenn sie nicht rechtzeitig nach Mitteilung der Gerichtsbesetzung gestellt werden. Das ist nicht nur unnötig, sondern auch gefährlich. Denn das hier beschworene Schreckgespenst der serienmäßigen und völlig unfundierten Ablehnungsgesuche, die nur gestellt werden, um den Richter zu ärgern, hat keine Entsprechung in der Realität. Und missbräuchlich gestellte Anträge können ohnehin seit jeher sofort als unzulässig verworfen werden, dafür braucht es keine Gesetzesänderung.
Warum die Befangenheitsvorschriften dennoch solch wiederholten Angriffen ausgesetzt sind, offenbart die Begründung des Vorschlags: „Die Möglichkeiten, Hauptverhandlungen durch – statistisch gesehen – in aller Regel unbegründete Befangenheitsanträge zu obstruieren, sollen verringert werden“, heißt es dazu im Eckpunktepapier. Nach dieser Sichtweise stellen für unbegründet erachtete Anträge eine Obstruktion der Verhandlung dar – dabei besteht eine Verhandlung gerade aus dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Ansichten. Besorgt ein Angeklagter, ein Richter könnte ihm gegenüber befangen sein, ist es sein gutes Recht, die für ein faires Verfahren gebotene Überprüfung zu beantragen. Dass die Gerichte solche Gesuche dann häufig ablehnen, kann jedenfalls nicht die schrittweise Abschaffung dieses Verteidigungsmittels rechtfertigen.
Die geplante Neuregelung lässt sich auch als Signal an die Justiz deuten, Befangenheitsanträge weniger ernst zu nehmen. Die beabsichtigten Änderungen würden die bereits mit der letzten StPO-Reform begonnene Verdrängung der Ablehnungsgesuche aus der Hauptverhandlung und hinter die Kulissen weiter vorantreiben. Die Möglichkeiten des Beschuldigten, das Verfahren aktiv mitzugestalten, würden sich hingegen verringern. Die Aussicht, mehrere Verhandlungswochen unter einem potentiell befangenen Richter durchzuführen, erscheint nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Vorwegnahme der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch höchst problematisch. Sollte sich ein Gesuch später entgegen aller gesetzgeberischen Prognosen doch als begründet entpuppen, erweisen sich die nun sinnlos gewordenen Verhandlungstage zudem alles andere als effizient.
Ausweitung von Eingriffsbefugnissen
Die strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen sind bereits seit einiger Zeit einem deutlichen Wandel unterworfen. Die kommende Reform soll diesbezüglich die umstrittene erweiterte DNA-Analyse einführen und den Katalog der Taten, die zu einer Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) Anlass geben, um den Einbruchsdiebstahl erweitern.
Der Umgang mit DNA-Material ist aufgrund der massiven Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen bislang relativ streng geregelt. Zurzeit wird einerseits versucht, entsprechende Befugnisse in das Gefahrenabwehrrecht einzuführen, andererseits findet eine stufenweise Ausweitung im Strafverfahrensrecht statt. Seit der StPO-Reform 2017 ist beispielsweise die Verwertung sogenannter Beinahetreffer aus Reihenuntersuchungen erlaubt. Der nun vorgelegte Vorschlag erweitert die Feststellungen, die anhand des DNA-Materials getroffen werden dürfen.
Hintergrund ist, dass Spuren § 81e Abs. 1 S. 1 StPO zufolge ausschließlich zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters, der Abstammung und des Geschlechts sowie zum Abgleich mit Vergleichsmaterial genutzt werden dürfen. Das bedeutet, dass eine DNA-Spur am Tatort daraufhin überprüft werden kann, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammt, ob der Spurengeber mit dem Opfer verwandt war oder ob sie mit der DNA eines Verdächtigen übereinstimmt – nicht aber auf andere inhaltliche Merkmale wie Erbkrankheiten, ethnische Herkunft oder mögliches Aussehen des Spurengebers. Die DNA wird also verglichen, aber mit Ausnahme des Geschlechts nicht ausgelesen. Künftig soll es die Möglichkeit geben, aufgefundenes, sichergestelltes oder beschlagnahmtes Material auch im Hinblick auf konkrete Merkmale wie die Haar-, Augen- und Hautfarbe sowie das Alter auszuwerten.
Das ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Zunächst stellt die Bestimmung dieser Merkmale vom Labortisch aus einen gewichtigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Untersuchten dar. Zwar sind einige dieser Eigenschaften normalerweise von außen für jedermann erkennbar. Die Erkenntnisse werden hier aber eben nicht von außen gewonnen, sondern durch ein invasives Auswerten ansonsten nicht zugänglicher genetischer Daten. Zudem müsste dazu – anders als bei der bloß vergleichenden Analyse – auf den sogenannten codierenden Teil der DNA zugegriffen werden, der die erblichen Informationen enthält. In diesem Bereich des Genmaterials befinden sich nicht nur die Informationen zum Aussehen, sondern zum gesamten Erbmaterial und damit potentiell auch zu Risiken erblicher Krankheiten, charakterlichen Veranlagungen, Herkunft oder Lebenserwartung.
Das Bundesverfassungsgericht hatte bislang festgehalten, dass eine Analyse solange nicht in den absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeit eingreift, wie sie nur den nicht-codierenden Anteil der DNA betrifft. Es sprechen also gute Gründe dafür, dies anders zu sehen, soweit der codierende Anteil ausgewertet wird. Außerdem stellt sich die Frage, ob die Untersuchung überhaupt effektiv auf die neuen Merkmale beschränkt werden kann. Wenn ein derartiger Zugriff technisch auch Einblicke in die weiteren dort gespeicherten Informationen ermöglicht, ist eine isolierte Bewertung einzelner Erhebungsmerkmale kaum durchführbar. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die genmolekulare Analyse stets nur mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet. Obwohl die generierten Profile also bloße Möglichkeiten darstellen und die Fehlerquote mit der Komplexität steigt, werden sie die Ermittlungen ganz entscheidend lenken.
Auch die technischen Überwachungsbefugnisse werden weiter ausgebaut. Der Katalog der Anlasstaten für TKÜ-Maßnahmen soll um den Einbruchsdiebstahl in eine Privatwohnung erweitert werden. Damit wird auch der Anwendungsbereich Quellen-TKÜ, die unter Einsatz von Staatstrojanern stattfindet, schon kurz nach ihrer Einführung erweitert. Dieses Vorgehen verdeutlicht die Mechanismen und Gefahren der Inneren Sicherheit als politisches Programm: Die Legalisierung der äußerst umstrittenen Staatstrojaner wurde mit der Bekämpfung terroristischer Straftaten begründet und sollte auf schwere Kriminalität beschränkt bleiben. Etwa zur gleichen Zeit wurde die Ausrufung einer (inzwischen weitgehend verpufften) öffentlichen Hysterie über Wohnungseinbrüche im Sommer 2017 dazu genutzt, den Strafrahmen des entsprechenden Straftatbestandes anzuheben. Zwei Jahre später liegt ein Reformentwurf vor, der die Aufklärung von Einbrüchen mithilfe von Staatstrojanern ermöglichen würde. Die Ausweitung technischer Befugnisse und eine strafrechtliche Symbolpolitik permanenter Gesetzesverschärfungen greifen hier ineinander und produzieren eine stetige Erhöhung des staatlichen Interventionspotentials.
Rechtsstaatliche Verfahrensabläufe statt Abfertigung von Beschuldigten
Die geplanten Änderungen des Beweisantrags- und Befangenheitsrechts sind nicht nur überflüssig und einem rechtsstaatlichen Verfahren abträglich, sie zeugen auch von einer gefährlichen Sicht auf den Strafprozess, der ständig beschleunigt, vereinfacht und effektiviert werden soll. Ein Strafverfahren dient aber nicht dem Abfertigen von Beschuldigten, es ist keine vor der Verurteilung zu absolvierende Formalität. Es wird nicht „effektiver“, wenn der Beschuldigte sich weniger verteidigt und schneller verurteilt wird. Der Erfolg eines Prozesses besteht vielmehr in einem fairen und rechtsstaatlichen Ablauf. Hierzu tragen weder die Beschneidung von Beschuldigten- und Verteidigungsrechten noch die Ausweitung von Eingriffsbefugnissen bei.
Hierbei handelt es sich lediglich um die Legalisierung des bereits seit Gründung der Bundesrepublik erfolgenden Umgangs mit dem sogenannten Rechtsstaat und genauer um die Legalisierung des immer offenkundigeren Verfassungsbruchs als Regel. Zum Verständnis genügen einige Beispiele:
1. In Deutschland existiert seit 1943 kein Straftatbestand des Amtsmissbrauchs mehr und kein Deutscher Bundestag hat diesen Straftatbestand wieder eingeführt.
2. In Deutschland existiert, bis auf den Stimmenkauf, kein Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung.
3. In Deutschland existiert kein Straftatbestand der Folter.
4. In Deutschland existieren keine Organisations- und Ausführungsgesetze für den Rechtsweg gegen den Gesetzgeber und gegen Gerichte (öffentlich-rechtliche Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art), obwohl Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 GG diesen der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuweist.
5. Öffentlich-rechtliche Forderungen werden gesetzeswidrig entgegen § 13 GVG durch die Zivilgerichte zwangsbeigetrieben. Rechtsmittel sind ohne Belang.
6. Einkommen- und Lohnsteuern werden auf der Grundlage des von Adolf Hitler persönlich erlassenen und heute noch dessen Unterschrift tragenden Einkommensteuergesetzes vom 16.10.1934 eingezogen, obwohl das Urteil des Tribunal Général de la Zone Francaise d’Occupation in Rastatt vom 06.01.1947 bindend das gesamte nationalsozialistisch geprägte (Un-)Recht als nicht verfassungsgemäß zustande gekommen festgestellt hat, unter besonderer Betonung, daß die vom Tribunal Général geltend gemachten rechtlichen und tatsächlichen Entscheidungsgründe für alle deutschen Gerichte und Verwaltungsinstanzen bindend sind.
7. Ein Finanzbeamter, der Steuern im Veranlagungs- und/oder Einspruchsverfahren bewusst falsch festsetzt, begeht keine Rechtsbeugung (BGHSt 24, 326