Falsches Vertrauen
Die Rechtstaatlichkeit der Türkei ist in den letzten Wochen erneut unter starken Beschuss gekommen. Auch aus Deutschland war Kritik zu vernehmen, konkrete Konsequenzen blieben allerdings aus. Der Demontage des Rechtsstaates durch die türkische Regierung ist mit einem Stopp von Auslieferungen aus Deutschland Rechnung zu tragen. Was passiert, wenn der im Auslieferungsrecht geltende Grundsatz gegenseitigen Vertrauens nicht fortlaufend kritisch geprüft und vor dem Hintergrund aktueller Umstände sowie Entwicklungen hinterfragt wird, hat der Fall Maja T. – ein „deutsch-ungarischer Justiz-Skandal“– eindrücklich gezeigt.
Opposition, Repression und Protest
In der Türkei finden seit Wochen Proteste statt. Diese richten sich gegen die am 19. März 2025 erfolgte Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters und Oppositionskandidaten für das Präsidentenamt Ekrem İmamoğlu. Wenige Tage nach dessen Festnahme wurde auch der Anwalt des inhaftierten Oppositionspolitikers kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen. Parallel ist am 21. März 2025 der gesamte Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer durch gerichtliche Anordnung seines Amtes enthoben worden. Hintergrund dessen war eine öffentliche Aufforderung der Anwaltskammer, den Tod zweier kurdischer Journalisten in Nordsyrien zu untersuchen.
Die türkische Justiz agiert erkennbar unter politischer Steuerung durch die Regierung, wenn sie gezielt gegen die Opposition vorgeht. Schon seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 wurde unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer wieder mit umfassenden Repressionen auf jegliche Form von Opposition reagiert. Hunderte von Journalisten, Anwälten, Akademikern und Aktivisten wurden inhaftiert. Nun wird versucht, die türkische Anwaltschaft zu delegitimieren. Die türkische Justiz setzt dies um und lässt sich damit weiter politisch instrumentalisieren.
In Deutschland wurde die türkische Regierung – trotz ihrer außenpolitischen Bedeutung als strategischer Partner – von Politikern scharf kritisiert. Von einem „Staatsstreich“ und der „Angst vor Wahlen“ ist die Rede. Die Bundesregierung verkündete über einen Sprecher des Auswärtigen Amtes, die Festnahme İmamoğlus sei ein „schwerer Rückschlag für die Demokratie“.
Demontage des Rechtsstaats
Dabei zeigt sich ein Muster: Regierungskritische Äußerungen werden als angebliche „Terrorpropaganda“ sowie andere Verhaltensweisen als vermeintliche Unterstützung einer kriminellen Vereinigung strafrechtlich verfolgt.
Der noch immer inhaftierte Ekrem İmamoğlu stand am Tag seiner Festnahme kurz vor der Ernennung zum Präsidentschaftskandidaten. Zwischenzeitig wurde er trotz der andauernden Haft von seiner Partei nominiert. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Korruption, Bestechung, Erpressung, Bedrohung eines Staatsanwalts sowie die Unterstützung einer Terrororganisation – namentlich der PKK – vor. Sein Anwalt wiederum soll jetzt im Verdacht der Geldwäsche stehen.
Beim Einsatz der Istanbul Anwaltskammer für die Untersuchung des Todes der Journalisten im syrischen Kriegsgebiet, in denen die türkische Armee operiert, ging es in der Sache um die Kontrolle der Gewährleistung von Menschenrechten. Praktisch handelte es sich schlicht um die Beteiligung an der öffentlichen Diskussion. Seitens der türkischen Staatsanwaltschaft wurde dies wegen “Terrorpropaganda” mit der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren sowie des Amtsenthebungsverfahrens quittiert.
Repressionen gegen Oppositionelle in der Türkei sind schon seit Jahren bekannt. Auch, dass die Unabhängigkeit der Justiz im Bereich der politischen Meinungsäußerung fraglich ist. Mit der Absetzung des Vorstands der Istanbuler Rechtsanwaltskammer erreicht die Einflussnahme der türkischen Regierung auf die Justiz und insbesondere die Anwaltschaft einen neuen Höhepunkt. Besonders besorgniserregend ist der darin zum Ausdruck kommende Frontalangriff auf rechtsstaatliche Grundpfeiler.
Anwaltschaft als unabhängiger Garant der Rechtsstaatlichkeit
In der Türkei kann bereits seit Jahren beobachtet werden, dass Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit der Prozess gemacht wird. Meist mit dem Verdacht der Unterstützung einer Terrororganisation begründet, geraten die anwaltlichen Vertreterinnen und Vertreter in den Fokus, die politisch unliebsame Mandantschaft gegen die staatliche Verfolgung verteidigen. Oft ist die Folge, dass ebenjene sodann ihrerseits verfolgt werden. In dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri sind neben Ekrem İmamoğlu und einst Deniz Yücel auch zahlreiche Anwaltskolleginnen und -kollegen inhaftiert.
Neben der Einschränkung der Pressefreiheit, etwa durch Angriffe auf Journalisten, und Repression gegen die Opposition ist dies einen weiteren Indikator für den – schlechten – Zustand des dortigen Rechtsstaats. Die Straf- und Amtsenthebungsverfahren gegen den Kammervorstand wurden dabei gerade deshalb eingeleitet, weil er den ihm obliegenden Aufgaben nachgekommen ist. Sie sind Ausdruck staatlicher Einmischung in die anwaltliche Berufsausübung.
Die Anwaltschaft dient als unabhängiger Garant der Rechtsstaatlichkeit und rechtsstaatlicher Verfahrensführung; durch die Rechtsanwaltskammern wird eine Überwachung der Anwaltschaft gerade durch staatsferne Kontrollorgane gewährleistet. Die anwaltliche Selbstverwaltung ist wiederum Teil der Sicherung einer freien Advokatur, welche – so für die hiesige Rechtsordnung bereits 1962 das Bundesverfassungsgericht– „der Rechtspflege selbst“ dient. Wenn der Staat hier eingreift und über die Berufsausübung der Anwaltschaft bestimmt, betrifft dies daher nicht nur die Berufsinteressen. Es ist ein Eingriff in die Unabhängigkeit der Rechtspflege insgesamt.
Grenze der Rechtshilfe erreicht
Angesichts erodierender Rechtstaatlichkeit der Türkei müssen in Deutschland jetzt auf justizieller Ebene konkrete Konsequenzen gezogen werden. Außenpolitischer Druck auf die Türkei blieb sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene bislang aus. Mit der fortdauernden Auslieferung von Verfolgten in die Türkei liefert die deutsche Justiz Menschen aber wortwörtlich der dortigen, dergestalt politisch instrumentalisierten Justiz aus, deren Überwachung durch die Anwaltschaft nicht mehr in freier, also von staatlichem Druck unabhängiger, Weise gewährleitet ist.
Regelmäßig werden auf ein entsprechendes Ersuchen hin Menschen in Deutschland verhaftet und in die Türkei ausgeliefert, damit sie sich dort einem Strafverfahren stellen (Rechtshilfe für Zwecke der Strafverfolgung) oder eine bereits verhängte Strafe verbüßen (Vollstreckungshilfe). Nach der letzten Auslieferungsstatistik des Bundesjustizamtes wurden im Jahr 2022 insgesamt 66 Auslieferungsersuchen aus der Türkei erledigt; über 100 weitere Auslieferungsersuchen waren zum Stichtag noch anhängig. Gemessen an der Anzahl der gestellten Auslieferungsbegehren zählt die Türkei damit zu den „Top 10“ der ersuchenden Staaten gegenüber Deutschland.
Knapp zwei Drittel der erledigten Auslieferungsverfahren sind durch eine ablehnende Entscheidung zum Abschluss gekommen, wobei sich der Aufschlüsselung der Statistik nach Deliktsgruppen entnehmen lässt, dass rund zwei Drittel dieser Ablehnungen Auslieferungsersuchen betrafen, welchen der Vorwurf des Terrorismus zugrunde lag. Hintergrund dessen dürfte sein, dass schon seit Längerem auch im Auslieferungsverkehr davon ausgegangen wird, dass jedenfalls wenn es um Vorwürfe von Straftaten mit politischem Hintergrund geht, in der Türkei kein rechtsstaatliches Strafverfahren gewährleistet ist. Oftmals sind die den türkischen Auslieferungsersuchen zugrundeliegenden Vorwürfe identisch zu denen, welche nunmehr auch einer (weiteren) Oppositionsfigur einen der vielen Plätze in türkischer Haft verschafft haben.
Gegenseitiges Vertrauen?
Im Rechtshilfeverkehr gilt der Grundsatz, dass dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes Vertrauen entgegenzubringen ist. Auslieferungen von und in die Türkei finden grundsätzlich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (EuAlÜbK) i.V.m. dem Zweiten Zusatzprotokoll vom 17.03.1978 zu dem vorbezeichneten Abkommen statt.
Über die Frage der Zulässigkeit einer Auslieferung haben die Oberlandesgerichte zu entscheiden. Eine Auslieferung kann dann bei Vorliegen eines Auslieferungshindernisses i.S.v. § 73 IRG abzulehnen sein. Auslieferungshindernisse sind insbesondere dann anzunehmen, wenn die dem Verfolgten gewährten Grund- oder Verfahrensrechte in ihrem Kernbereich verletzt sind (BVerfG Beschluss v. 6.9.2016 – 2 BvR 890/16). Dies setzt allerdings regelmäßig „außergewöhnlichen Umstände” voraus.
Nachdem in der Türkei nach dem Putschversuch 2016 der Ausnahmezustand verhängt wurde, ist aufgrund der dortigen justiziellen und politischen Entwicklungen von den hiesigen Oberlandesgerichten ein Auslieferungshindernis angenommen worden. Konkret wurden die anzunehmenden Auswirkungen dessen (auch) auf die Haftbedingungen in der Türkei als ein i.S.v. § 73 S. 1 IRG i.V.m. Art. 3 MRK entgegenstehendes Hindernis anerkannt. In Art. 3 MRK ist das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung geregelt, welches insbesondere auch die Wahrung gewisser Mindeststandards an Hafträume und -umstände umfasst, die auch im damals von der Türkei angenommenen Notstandsfall nach Art. 15 Abs. 1 MRK zu wahren sind.
Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch zeigten in den vergangenen Jahren immer wieder auf, dass in der Türkei Folter und unmenschliche Behandlung von Gefangenen stattfinden, insbesondere gegen politische Gefangene. In vielen Fällen werden Personen nach ihrer Inhaftierung schwer misshandelt, um Geständnisse und Angaben zu weiteren Personen zu erzwingen. Durch die Vereinten Nationen und den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist die Türkei für diese Praktiken wiederholt gerügt worden. Jedenfalls aufgrund von anzunehmender Überbelegung der dortigen Haftanstalten aufgrund von Zehntausenden Verhaftungen infolge des Putschversuches, sah die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung die Wahrung rechtsstaatlicher Mindestbedingungen damals nicht gewährleistet.
Wert von Zusicherungen des ersuchenden Staates
Derartige Auslieferungshindernisse werden argumentativ regelmäßig mit Verweis auf eingeholte Zusicherungen des ersuchenden Staates ausgeräumt. Dabei handelt es sich um mittels Verbalnoten im Wege des diplomatischen Verkehrs übermittelte, völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen, die jedoch von den Behörden selbst ausgestellt werden.
So muss etwa die Wahrung von elementaren Beschuldigtenrechten, wie die Möglichkeit sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen oder umfassende Akteneinsicht zu erhalten, bei bestehenden Zweifeln im konkreten Einzelfall staatlich zugesichert werden. Aber auch die Möglichkeit für Angeklagte, bei einer gegen sie geführten erstinstanzlichen Gerichtsverhandlung persönlich anwesend zu sein, kann Gegenstand dessen sein. Hinsichtlich der Wahrung der Haftbedingungen im ersuchenden Staat ist regelmäßig eine Überprüfungsmöglichkeit zuzusichern. Der jeweils zuständigen deutschen Auslandsvertretung ist die Möglichkeit einzuräumen, den Verfolgten nach erfolgter Auslieferung durch einen Mitarbeiter zu besuchen und sich vor Ort über die bestehenden Verhältnisse zu informieren.
Bisher wird davon ausgegangen, dass diese Zusicherungen hinsichtlich der Ausgestaltung von Strafverfahren und etwaiger Haftbedingungen geeignet sein können, rechtstaatliche Bedenken zu entkräften. Das Bundesverfassungsgericht lässt solchen Zusicherungen gewissermaßen einen Vertrauensvorschuss zukommen.
Fehlende Garantie rechtsstaatlicher Verfahrensführung
Dieses – schon seit 2016 fragwürdige – Vertrauen in den türkischen Staat und die dortige Justiz ist angesichts der jüngsten Angriffe auf die Anwaltschaft aber erschüttert. Auch sofern hinsichtlich der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze im Hinblick auf die Haftbedingungen (noch) keine Anhaltspunkte für konkrete Zweifel bekannt sind, steht zumindest in Fällen der Rechtshilfe für Zwecke der Strafverfolgung ein Verstoß gegen die übergeordneten Wertungen des in § 73 IRG niedergelegten ordre public in Frage.
Die orde public ist verletzt, wenn die fragliche Rechtshilfeleistung den von allen Rechtsstaaten anerkannten Grundsätzen widerspricht. Wird beispielsweise das Anwesenheitsrecht in einer gegen den Verfolgten zu führenden erstinstanzlichen Gerichtsverhandlung seitens des türkischen Staates zugesichert, bleibt fraglich, wer diese Zusicherung durchsetzt: Die Wahrung der Rechte der Beschuldigten ist in einem Strafprozess originäre Aufgabe der Strafverteidiger, also der Anwaltsseite. Wenn nun aber diejenigen demontiert werden, denen die Gewährleistung solcher Zusicherungen im konkreten Einzelfall vor Ort obliegen würde, können diese keine belastbare Entscheidungsgrundlage für deutsche Gerichte sein. Das gilt umso mehr, wenn das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz ohnehin angeschlagen ist.
Vgl. „Fall Maja T.“
Als Mahnung dient der bekannte Fall der Antifaschistin Maja T. Das Kammergericht Berlin hatte hier im Juni 2024 die Auslieferung mangels Auslieferungshindernisse für zulässig erklärt; die Auslieferung erfolgte unmittelbar am selben Tag. Insbesondere stünden die Haftbedingungen in dem EU-Land Ungarn der Auslieferung nicht entgegen. Das Kammergericht ließ zur Annahme menschenrechtskonformer Haftbedingungen eine allgemein gehaltene Garantieerklärung Ungarns genügen.
Wie das Bundesverfassungsgericht im Nachgang entschieden hat, hätte das Kammergericht die Auslieferung aufgrund der Vielzahl der vorliegenden Anhaltspunkte für systemische und allgemeine Mängel für unzulässig erklären müssen. In dem auf die Verfassungsbeschwerde hin ergangenen Beschluss vom 24.01.2025 (2 BvR 1103/24) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass sich das Kammergericht angesichts der konkreten Anhaltspunkte nicht auf eine allgemeine Erklärung seitens Ungarns hätte verlassen durfte. Für Auslieferungen in die Türkei kann angesichts der bekannten Missstände dort nichts anderes gelten.
Der Fall Maja T. zeigt auch auf anderer Ebene auf, weshalb etwaige Zusicherungen der ersuchenden Staaten besonders kritisch zu überprüfen sind. Ist nämlich die Auslieferung erst einmal erfolgt, bestehen keine Möglichkeiten mehr im Falle von Nichteinhaltung bzw. – wie hier – revidierender Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Auslieferung ungeschehen zu machen: Maja T. befindet sich trotz der festgestellten Unzulässigkeit der Auslieferung weiterhin in ungarischer Haft. Eine Rückführung nach Deutschland ist nicht möglich und die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts bleibt damit praktisch wirkungslos.
Notwendige Konsequenzen
Eine freie und unabhängige Anwaltschaft ist keine externe Überwachung eines Rechtsstaates – sie ist Grundvoraussetzung. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei lassen erneut ganz erhebliche Zweifel an der Unabhängigkeit der türkischen Justiz besorgen. Zusicherungen der Türkei, die bislang Zweifel regelmäßig – jedenfalls argumentativ – entkräften konnten, sind spätestens heute jedoch nicht mehr geeignet, Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit von Strafverfolgung und Strafvollstreckung in der Türkei zu erschüttern.
Eine konsequente Aussetzung von Auslieferungen in die Türkei würde der Rechtsstaatlichkeit beider Länder dienen. Die Oberlandesgerichte müssen die Frage, ob derzeit eine Auslieferung in die Republik Türkei zulässig sein kann, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen justiziellen Umstände dort bewerten. Da als Entscheidungsgrundlage regelmäßig Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes herangezogen werden – aktuell noch der (zwischenzeitlich überholte) Lagebericht zu Rechtsstaatlichkeit und Haftbedingungen in der Türkei vom 12. Juli 2022 – ist aber auch die höhere justizielle und politische Ebene gefragt.