23 August 2024

Finanzverfassungsrechtliches Mikado

Zum jüngsten Haushaltsentwurf der Ampel-Koalition und der Konstitutionalisierung der Haushaltspolitik

Am vergangenen Freitag einigten sich die Spitzen der Ampel-Koalition (erneut) auf einen Bundeshaushaltsentwurf für das kommende Jahr 2025. Dem voran gingen nicht nur zähe politische Debatten innerhalb der Koalition. Auch das Verfassungsrecht spielte – mal wieder – eine hervorgehobene Rolle für die Haushaltspolitik der Bundesrepublik. Im Verlauf der Debatte um den nun vorgesehenen Entwurf, der im Laufe des Jahres vom Bundestag beschlossen werden soll, zeigt sich ein weiteres Mal der übermäßige Fokus haushaltspolitischer Erwägungen auf verfassungsrechtliche Normen.

Schuldenbremsenneutralität anstatt politischer Zweckmäßigkeit

Die politische Neueinigung über einige Aspekte des Haushaltsentwurfs wurde notwendig, nachdem Bundesfinanzminister Christian Lindner infolge des vor einigen Wochen beschlossenen Haushaltsentwurfs sowohl ein verfassungsrechtliches Gutachten als auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums zum Haushaltsentwurf in Auftrag gegeben hat. Letzteres trifft dabei vor allem wirtschaftliche und politische Erwägungen.

Zum einen ging es um Investitionen in die Bahn. Im ursprünglichen Entwurf waren Direktzuschüsse an die Infrastruktursparte der Deutschen Bahn, DB InfraGO, vorgesehen. Diese werden in Höhe von 4,5 Milliarden Euro durch eine Eigenkapitalerhöhung ersetzt. Darüber hinaus erhält die Bahn ein Darlehen des Bundes in Höhe von 3 Milliarden Euro.

Die Verwendung einer Eigenkapitalerhöhung und von Darlehen anstatt direkter Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt haben dabei keineswegs politische oder wirtschaftliche Gründe. Vielmehr ergeben sie sich im Lichte der rechtlichen Maßgaben der Schuldenbremse. Darlehen und Eigenkapitalerhöhungen gelten unter bestimmten Voraussetzungen als finanzielle Transaktionen im Sinne des § 3 Artikel 115-Gesetz, das die Ausführung von Art. 115 Abs. 2 GG regelt, der zentralen Norm der Schuldenbremse für den Haushalt des Bundes.

Finanzielle Transaktionen werden gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Artikel 115-Gesetz nicht in die für die Schuldenbremse relevanten Einnahmen und Ausgaben einberechnet. Diesen steht nach Konzeption des Gesetzgebers ein werthaltiger Rückzahlungsanspruch gegen, der die jeweilige Transaktion im Sinne einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vermögensneutral erscheinen lässt.

Finanzverfassungsrechtliches Mikado

Setzt der Haushaltsgesetzgeber allerdings anstatt direkter Zuschüsse aus dem Haushalt Finanzierungsinstrumente wie die Eigenkapitalerhöhung oder Darlehen ein, bedeutet dies wirtschaftlich schlechtere Konditionen für die Bahn. Dies führt im schlechtesten Fall zu einer Erhöhung der Trassen- oder Ticketpreise, da hinreichend eigene Einnahmen zur Renditensteigerung generiert werden müssen, um einen werthaltigen Gegenanspruch für den Bund in hinreichendem Maße zu garantieren. Eben diese Maßnahme hat DB InfraGo nun infolge der Haushaltseinigung angekündigt.

Bemerkenswert dabei ist – neben den rein wirtschaftlichen Nachteilen, die die Bahn durch die Ausgestaltung als finanzielle Transaktion hat –, dass die Umwandlung der Direktinvestitionen in finanzielle Transaktionen vorrangig dem Ziel diente, die Schuldenbremse einhalten zu können. Das politische Kapital, das innerhalb der Koalition notwendig war, um die erneute Einigung herbeizuführen, wird also für die Einhaltung der Schuldenbremse geopfert, während wirtschaftliche Zweckmäßigkeitserwägungen nur sekundär Beachtung finden. Die Konstitutionalisierung der Haushaltspolitik durch die Schuldenbremse verschiebt den Fokus so von wirtschaftlichen und politischen Erwägungen für eine angemessene Finanzierung einzelner Politikbereiche stark auf die Einhaltung rechtlicher Maßgaben.

Lässt man dies außer Betracht und bewertet die Umwandlung von Direktzuschüssen in finanzielle Transaktionen im Sinne des § 3 Art. 115-Gesetz rein finanziell aus Sicht des Bundes, bleibt darüber hinaus zweifelhaft, ob eine faktische Einsparung durch die Maßnahme entsteht. Die Bahn bleibt nämlich ein bundeseigenes Unternehmen mit herausgehobener Bedeutung, das – wenn die finanzielle Situation dies erfordert – vermutlich auch in Zukunft Zuwendungen des Bundes zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage erfährt. So dienen die nun an die Bahn vergebenen Darlehen vor allem der Ablösung älterer, finanziell nachteiliger Darlehen.

Darauf weist auch das Gutachten des Beirats des BMF hin, das anbringt, im Ergebnis finde „ein echter Schuldendienst, der durch die Schienenbetreiber bzw. -benutzer finanziert wird, nicht statt“, da der Bund gezwungen sein könnte, „alte Darlehen und die darin vereinbarten Zinsen durch neue Darlehen“ abzulösen (S. 2). Die Ausgestaltung der Investitionen als Eigenkapitalerhöhung bzw. Darlehen anstatt direkter Zuschüsse führt schließlich also weder zu einer effektiv verbesserten Wirtschaftssituation der Bahn noch des Bundes, hält dafür aber die verfassungsrechtlichen Maßgaben des Staatsschuldenrechts ein. Eine restriktivere Überprüfung des Begriffs der finanziellen Transaktion, namentlich dessen, ob der aus der Transaktion resultierende Gegenanspruch hinreichende Werthaltigkeit besitzt, wie es der Beirat in seinem Gutachten andeutet, würde wohl daran scheitern, dass sich das BVerfG in dieser Frage tief in rein betriebswirtschaftlichen Erwägungen zur Wirtschaftslage des Transaktionspartners verlieren müsste. Diese wären einer vorhersehbaren rechtlichen Auslegung nur schwer zugänglich – ein bei staatsschuldenrechtlichen Regelungen altbekanntes Problem, denkt man beispielsweise an Debatten rund um den Begriff der Investition oder der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts des Art. 115 Abs. 1 GG aF.

Während die Koalition ihr vermutlich letztes politisches Kapital – Grünenvorsitzender Omid Nouripour spricht schon von einer Übergangskoalition nach der Merkel-Ära – damit verschwendet, finanzverfassungsrechtliches Mikado zur Einhaltung einer wirtschaftswissenschaftlich willkürlich festgelegten Höhe an Verschuldung zu betreiben, reißt die Bahn Jahr für Jahr ihre Pünktlichkeitsziele. Nun wäre es selbstredend naiv, die Misere der Bahn allein an finanzverfassungsrechtlichen Normen festmachen zu wollen; zweifelhaft erscheint aber zumindest deren positiver Beitrag.

Die Camouflage der Ökonomie als Recht

Der starke verfassungsrechtliche Fokus birgt weiterhin die Gefahr, im Kern wirtschaftliche oder politische Argumente als rechtliche zu camouflieren, um ihre Notwendigkeit in der politischen Debatte hervorzuheben. So stellt das Gutachten des wissenschaftlichen Beirats des BMF überwiegend politische bzw. ökonomische Erwägungen an. Das verfassungsrechtliche Gutachten von Johannes Hellermann ging – abgesehen von der Umwidmung bestehender KfW-Ermächtigungen – einhellig von der verfassungsrechtlichen Machbarkeit der zu begutachtenden Maßnahmen aus. Das Beiratsgutachten fiel bezüglich aller Maßnahmen kritischer aus, aber vor allem eben in wirtschaftlicher Hinsicht. In der politischen Debatte wurden diese beiden Gutachten jedoch oftmals gleichbehandelt.

Es ist allzu verständlich, dass die Koalition und insbesondere das Bundesfinanzministerium nach dem Urteil des BVerfG vom 15. November 2023, mit dem das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz von 2021 für nichtig erklärt wurde, bei zukünftigen Bundeshaushalten Vorsicht walten lassen will, um nicht erneut einen verfassungswidrigen Haushalt aufzustellen. Dass es einer solchen Vorsicht im Rahmen der Königsdisziplin des Parlaments überhaupt bedarf, ist Ergebnis der starken Verrechtlichung der Staatsschuldenpolitik, deren feingliedrige Dogmatik politischen sowie wirtschaftlichen Erwägungen über das Für und Wider einer jeweiligen Ausgabe die Sicht versperrt. Ob der durch Kreditermächtigungen ausgegebene Euro nun netto freiheitsschonend ist, weil er beispielsweise CO2-arme Infrastruktur ausbaut und so der Klimakrise entgegenwirkt, oder freiheitsschädlich, weil die aufgenommene finanzielle Verpflichtung einem kommenden Haushaltsgesetzgeber Freiräume nimmt, ohne einen spürbaren sachlichen Vorteil zu ermöglichen, ließe sich vernünftigerweise nicht rechtlich entscheiden, sondern nur politisch.

Glaubhafte Fiskalregeln – Vertrauen durch Recht anstatt Politik

Gleiches wird durch eine Passage in der neuen Haushaltseinigung deutlich, die in der Debatte um Fiskalregeln des Öfteren zu finden ist. In der Einigung ist die Rede von „glaubhaften Fiskalregeln“. Die bloße – gerichtlich überprüfbare – Einhaltung der Rechtsnormen des Staatsschuldenrechts reicht offenbar nicht aus. Die Fiskalregeln müssen darüber hinaus glaubhaft eingehalten worden sein; anders gesagt muss auf sie vertraut werden können. Vertrauen ist aber im politischen System der Bundesrepublik unter dem Grundgesetz nicht rechtlich, sondern genuin politisch. Es wird politisch hergestellt: Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Bundesregierung durch das Bestimmen der Richtlinien anführt, genießt das Vertrauen der Abgeordneten des Bundestages, die ihn wählen. Demgegenüber sollen „glaubhafte“ Fiskalregeln Vertrauen durch Recht dort herstellen, wo es politisch nicht erreicht werden kann.

Ein solcher haushaltspolitischer Ansatz, der die Legitimation seiner Entscheidungen in hohem Maße an rechtlichen Maßgaben orientiert, entleert den Sinn und Zweck des Haushaltes als politische Geschäftsgrundlage einer jeden Bundesregierung. Dieser Ansatz ist dem Haushaltsgesetzgeber aufgrund des aktuell geltenden Staatsschuldenrechts in der Interpretation des BVerfG selbstredend nicht vorzuwerfen; de lege ferenda aber notwendigerweise zu reflektieren.

Der Autor dankt Ruth Weber für hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen des Beitrags.


SUGGESTED CITATION  Märtin, Lukas: Finanzverfassungsrechtliches Mikado: Zum jüngsten Haushaltsentwurf der Ampel-Koalition und der Konstitutionalisierung der Haushaltspolitik, VerfBlog, 2024/8/23, https://verfassungsblog.de/finanzverfassungsrechtliches-mikado/, DOI: 10.59704/f5994368819b7023.

2 Comments

  1. Pyrrhon von Elis Fri 23 Aug 2024 at 15:12 - Reply

    Ob die Schuldenbremse überhaupt reflektiert werden sollte, ist eine Frage politischen Ermessens, die nur von den Parteien beantwortet werden kann.

    Allerdings wird die hier von ihnen verwendete Argumentationsfigur, die früher gemeinhin als “Konstitutionalisierung” bezeichnet wurde, niemals aus dem Diskurs verschwinden, weil es durch sie möglich ist, politische Ermessensentscheidungen als notwendig darzustellen. Das gilt nicht nur im Haushaltsrecht – diese Argumentationsfigur dürfte insbesondere im Antidiskriminierungsrecht in Anlehnung an eine überdehnte Interpretation von Art. 3 Abs. 3 GG sowie in Fragen des Wohnungsbaus im Kontext von Art. 14 Abs. 2 GG virulent werden.

    Ich weiß nicht mehr, wer es schrieb, allerdings hieß es mal: “Die Verfassung beantwortet nicht jede Frage, die an sie gestellt wird”. Das zu akzeptieren ist für manche Bereiche allerdings scheinbar schwer.

  2. Weichtier Sat 24 Aug 2024 at 08:19