Förderschulzuweisung unter verfassungsrechtlichem Legitimationszwang
Der durch die Verfassungsreform 1994 in das Grundgesetz aufgenommene Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG bestimmt, dass niemand „wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf“. Ob die Zuweisung eines Schulkindes an eine Sonder- bzw. Förderschule eine Benachteiligung im Sinne dieses Artikels darstellt, war von Anfang an ein Streitthema in der Verfassungsrechtswissenschaft. In einem folgenreichen Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Oktober 1997 eine Diskriminierung im Fall der Sonderbeschulung eines Kindes verneint. Mit seiner Entscheidung hat das Gericht damals maßgeblich dazu beigetragen, das Sonderschulwesen in der Bundesrepublik in seinem Bestand zu festigen.
Zwar leugnete der Erste Senat nicht, dass in der gesonderten Beschulung eine Ungleichbehandlung der Schulkinder gerade ‚wegen‘ ihrer attestierten Behinderung liegt. Das Gericht war aber der Meinung, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG – anders als die in Satz 1 enthaltene Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts, der Abstammung, der ‚Rasse‘ etc. – nicht als absolutes Anknüpfungsverbot zu interpretieren sei. Von einer Benachteiligung im Sinne des Artikels könne nur gesprochen werden, wenn „ein Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt … nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird.“
Diese ‚Kompensation‘ der Ungleichbehandlung erkannte das Bundesverfassungsgericht in der besonderen Förderung, die Kinder und Jugendliche mit Behinderung auf der Förderschule erhalten. Der Erste Senat ging damals sogar so weit, das Sonderschulwesen „als eigenständige Schulform im gegliederten Schulwesen“ zu bezeichnen, die „zu Recht nicht in Frage gestellt“ werde. Zwar erkannte der Senat an, dass eine integrative Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung von der pädagogischen Wissenschaft ebenso wie von dem maßgebenden Gremien „überwiegend positiv beurteilt und als verstärkt realisierungswürdige Alternative zur Erziehung und Unterrichtung in Sonder- und Förderschulen befürwortet“ werde. Das Recht des Kindes auf Zugang zu einem integrativen Unterricht an der Regelschule stellte das Gericht dann aber unter den generellen Vorbehalt bereits „vorhandener Personal- und Sachmittel“ an der Regelschule, was einem praktischen Leerlaufen des Anspruchs gleichkam: Sind Personal- und Sachmittel für eine integrative Beschulung bereits vorhanden, ist die Schule also zur Aufnahme von Schülern mit Behinderung bereit und entsprechend darauf vorbereitet, muss das Zugangsrecht nicht mehr juristisch erstritten werden.
Ganz gleich, was man bereits aus systematischen und entstehungsgeschichtlichen Gründen zu der vom Senat vorgenommenen Differenzierung zwischen den Diskriminierungsmerkmalen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Satz 1 GG halten mag (dem verfassungsändernden Gesetzgeber ging es ersichtlich nicht darum, das Diskriminierungsverbot in Satz 2 im Ergebnis schwächer auszugestalten): Jedenfalls ist die Rechtsprechung des Sonderschulbeschlusses von 1997 vor dem Hintergrund der seit 2009 verbindlichen UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) sowie im Hinblick auf die heute wissenschaftlich nachgewiesenen negativen Effekte der gesonderten Beschulung nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Das Recht auf inklusive Schulbildung nach der UN-Behindertenrechtskonvention
Durch das vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates verabschiedete Gesetz vom 21.12.2008 hat die Bundesrepublik das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention [BRK]) aus dem Jahr 2006 ohne Vorbehalt ratifiziert. Damit sind die Verpflichtungen aus der BRK für die Bundesrepublik völkerrechtlich binden. Ihre Bestimmungen sind, wie der Zweite Senat in seinem Beschluss zur Zwangsbehandlung im Maßregelbezug von 2011 unter Verweis auf seine Görgülü-Rechtsprechung ausführt, auch als „Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte“ heranzuziehen.
Artikel 24 BRK enthält als zentralen Bestandteil das Recht von Menschen mit Behinderungen auf diskriminierungsfreien Zugang und gleichberechtigte Teilhabe im Bildungsbereich: Menschen dürfen nach Art. 24 Abs. 2 BRK nicht aufgrund ihrer Behinderung „vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ (lit. a); sie haben vielmehr ein Recht auf „Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen“ (lit. b). Die Vertragsstaaten sind zudem verpflichtet, ihnen „innerhalb des allgemeinen Bildungssystems“ die „notwendige Unterstützung“ zu gewähren, um „ihre erfolgreiche Bildung zu ermöglichen“ (lit. d; engl.: to facilitate their effective education) und dafür „angemessene Vorkehrungen“ (lit c.) zu treffen sowie entsprechende „individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen“ bereitzuhalten (lit. e). Alles, wie gesagt, innerhalb der „allgemeinen“ Schulen.
Es fällt auf, dass die amtliche deutsche Übersetzung, die neben der englischen und französischen Vertragsfassung Grundlage des Zustimmungsgesetzes war, die Begriffe „integrativ“ und „Integration“ verwendet, wohingegen die ursprüngliche englische Fassung von „inclusive“ bzw. von „inclusion“ spricht. Nach Art. 50 BRK ist aber die deutsche Konventionsfassung nicht verbindlich und damit – entsprechend der Regeln des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens – nicht maßgeblich. Daher ist davon auszugehen, dass der BRK das Konzept der ‚Inklusion‘ zugrunde liegt, was in der rechtswissenschaftlichen Literatur heute allgemein anerkannt ist. ‚Inklusion‘ geht dabei über die ‚Integration‘ hinaus, indem es die Notwendigkeit einer strukturellen Anpassung des Schulsystems an die unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern mit und ohne Behinderung hervorhebt: Der Unterricht soll, soweit dies pädagogisch möglich und sinnvoll ist, weitgehend gemeinsam, d.h. im selben Klassenraum unter Beteiligung aller Schüler, stattfinden und die Möglichkeit der individuellen Förderung sowie differenter Unterrichts- und Lernziele eröffnen.
Dies setzt voraus, dass an den allgemeinen Schulen die entsprechenden Bedingungen für den gemeinsamen Unterricht geschaffen werden. Auch hier spricht die BRK eine klare Sprache: Nicht nur fordert sie ausdrücklich den Zugang zu einem „hochwertigen“ inklusiven Unterricht. Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen haben vielmehr entsprechend Art. 24 Abs. 2 lit. c – e BRK einen gegenüber dem Niveau der Förderschule uneingeschränkten Anspruch auf angemessene sonderpädagogische Unterstützung und Förderung in einem inklusiven Lernumfeld. In der Praxis wird dies im Idealfall durch eine Senkung der Schülerzahlen und eine durchgängige pädagogische Doppelbesetzung (Co-Teaching) in den Integrationsklassen umgesetzt. Hierfür müssen die notwendigen Mittel bereitgestellt werden, wobei die Vertragsstaaten verpflichtet sind, möglichst zügig und konsequent und unter Einsatz aller verfügbaren Ressourcen zu handeln. Das gilt auch dann, wenn man den sogenannten Vorbehalt des progressiven (schrittweisen) Vorgehens nach Art. 4 Abs. 2 BRK für anwendbar hält (die Gegenauffassung haben Angelika Siehr und ich an anderer Stelle vertreten).
Die Aufrechterhaltung „einer abgespeckten Version des Sonderschulwesens“ (C. Geyer im Feuilleton der FAZ) ist jedenfalls nicht mit Art. 24 BRK vereinbar. Hierüber besteht, soweit erkennbar, auch in der Staats- und Völkerrechtswissenschaft, die sich zu dieser Frage geäußert hat, Einigkeit. Diskutiert wird lediglich darüber, ob ggf. ein Restbestand von gesonderten Fördereinrichtungen für etwa 10 bis 20 Prozent aller Kinder mit Behinderung weiterhin legitimierbar wäre, worauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. Die Zuweisung auf eine Förderschule gegen den Willen des Kindes bzw. seiner Eltern stellt grundsätzlich eine Diskriminierung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 24 BRK dar. Sie kann höchstens noch u.U. in besonderen Ausnahmefällen – sozusagen als ultima ratio – gerechtfertigt werden, bedarf dann aber einer überaus sorgfältigen und genauen Prüfung und Begründung.
Das deutsche Sonderschulsystem im internationalen Vergleich
Im Vergleich zu vielen anderen Staaten wie den USA, Kanada, Italien und den skandinavischen Ländern, in denen Kinder mit Behinderung teilweise schon seit langer Zeit an den allgemeinen Schulen unterrichtet werden, beinhaltet das nun geltende Recht auf inklusive Beschulung für Deutschland einen weitreichenden Umbau des Schulsystems und der Pädagogik. Nicht nur fällt bei uns die Quote der segregiert unterrichteten Förderschüler besonders hoch aus (sie wird im europäischen Vergleich nur von Belgien überboten!). Vielmehr ist das Sonder- und Förderschulwesen in Deutschland auch im weltweiten Vergleich besonders ausdifferenziert: Es gibt Förderschulen für die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache, soziale und emotionale Entwicklung, Hören und Kommunikation, Sehen, geistige Entwicklung und körperliche und motorische Entwicklung. Bundesweit werden derzeit – über fünf Jahre nach Inkrafttreten der BRK – weiterhin etwa 350.000 Schülerinnen und Schüler an gesonderten Schulen unterrichtet.
Die Persistenz des Sonderschulwesens in Deutschland hat historische Gründe, deren Ursprünge im Aufbau eines Hilfsschulwesens für schwer oder nicht „bildsame“ Kinder Anfang des 20. Jahrhunderts liegen. Das Sonderschulwesen hat sich über die Jahrzehnte immer weiter verfestigt und in der von der allgemeinen Pädagogik getrennten ‚Sonder-Pädagogik‘ als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin und Studiengang seinen professionspolitischen Niederschlag gefunden.
Dabei wird der Begriff ‚sonderpädagogischer Förderbedarf‘ in Deutschland überaus weit gefasst. Die überwiegende Zahl der Förderschüler besucht eine Schule wegen einer ‚Lernbehinderung‘ oder einer ‚sozial-emotionalen‘ Entwicklungsstörung; in diesen Fällen beruht die Sonderschulzuweisung hauptsächlich auf der Diagnose einer dauerhaften deutlichen Abweichung der Schulleistungen von den Durchschnittsleistungen Gleichaltriger oder auf eben besonderen Verhaltensauffälligkeiten wie Konzentrationsstörungen, aggressives Auftreten oder sonstigen Problemen in der Verhaltensentwicklung. In dieser Schülergruppe sind Kinder aus sozial schwachen Familien und Familien mit aktuellem Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert.
Diskriminierende Effekte der gesonderten Beschulung
Die Kritik an der gesonderten Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit attestierter Behinderung ist heute wissenschaftlich untermauert. Über 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen die Förderschule ohne qualifizierenden Abschluss und bleiben in der Regel ihr Leben lang auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen. Staaten mit einem inklusiven Schulsystem schneiden hier deutlich besser ab. Darüber hinaus bewirkt die Sonderbeschulung eine soziale Ausgrenzung dieser Kinder aus der ‚normalen‘ Gesellschaft mit anderen Kindern und Jugendlichen. Sie erleben ihre schulische (und damit auch einen Großteil ihrer sozialen) Umwelt unter Kindern mit gleichen Problemlagen und können soziale Kontakte zu anderen Kindern nicht aufbauen. Die reduzierten curricularen Anforderungen, die sich von vornherein nicht mehr am Lernniveau nicht-behinderter Schüler orientieren, führen teilweise zu einer klaren intellektuellen Unterforderung. Am wirkmächtigsten ist aber die soziale Stigmatisierung, die mit dem Besuch einer Förderschule in Deutschland einhergeht. Mit dem Besuch der Förderschule werden die betroffenen Kinder und Jugendlichen schon sehr früh auf das soziale und berufliche ‚Abstellgleis‘ gefahren. Wie verschiedene Studien zeigen, wird aus der Fremd- eine Selbstzuschreibung, die die soziale Ausgrenzung verstärkt und die jeweilige Problemlage in aller Regel deutlich verschärft.
Das Ergebnis, zu dem das Bundesverfassungsgericht in seinem Sonderschulbeschluss 1997 gelangte, erscheint vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse, wie es die UN-Behindertenrechtsexpertin Theresia Degener ausgedrückt hat, als „paradox: Gerade die Sondereinrichtungen, die wesentlich zur Isolation und Aussonderung behinderter Menschen beitragen, werden [vom Bundesverfassungsgericht] als Kompensationsmaßnahme zur Vermeidung einer Benachteiligung gewertet“.
Fazit
Nunmehr ist aber auch das Grundgesetz im Lichte der BRK auszulegen. Damit ist klar, dass die ‚Kompensationsrechtsprechung‘ des Ersten Senats von 1997 nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Denn die besondere Förderung von Menschen mit Behinderung ist nach der BRK inklusiv an den allgemeinen Schulen zu leisten. Die Zuweisung an die Förderschule ist grundsätzlich als eine Diskriminierung anzusehen, an deren ausnahmsweise Rechtfertigung hohe Anforderungen zu stellen sind.
Zuletzt sei noch ein Blick in die USA gestattet. Dort hatte sich die Behindertenrechtsbewegung in den 1960er und 70er Jahren den Zugang zu den allgemeinen Schulen erkämpft und damit eine entsprechende Bundesgesetzgebung angestoßen. So werden in den Vereinigten Staaten heute nur 5 Prozent (!) aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung an getrennten Bildungseinrichtungen unterrichtet; in Deutschland sind es noch immer zwischen 70 und 80 Prozent.
Dass die US-amerikanischen Bezirksgerichte den Anträgen der behinderten Schülerinnen und Schüler bzw. ihrer Eltern auf Zugang zu den allgemeinen Schulen nahezu ausnahmslos stattgaben, hat seinen Grund in der berühmten Brown-Rechtsprechung des Supreme Court: Getrennt ist eben nicht gleich(berechtigt); darauf hatte sich die Behindertenrechtsbewegung von Anfang an berufen. Die Überwindung des separat but equal-Grundsatzes sollte nun endlich auch das Bundesverfassungsgericht für das deutsche Schulwesen vollziehen.
Vielen Dank für den sehr interessanten Artikel.
Die Inklusion und der Kampf um dafür ausreichende Finanzierung beschäftigt uns auch in Hamburg sehr. Ich habe Ihren Beitrag in der Facebook-Gruppe “Hamburger-Bildungspolitik” geteilt.
(https://www.facebook.com/groups/116315328501930)
Der Rechtsanwalt und Schulpolitiker Walter Scheuerl vertritt dort eine andere Position. Wie beurteilen Sie das?
Hier der Beitrag von Walter Scheuerl:
“Der Verfasser jenes Blogs irrt. Denn die UN-BRK ist und war in dieser Hinsicht schon vor ihrer Formulierung in Deutschland längst umgesetzt, das Recht der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf an ungehinderter Teilnahme am staatlichen Schul- und Bildungssystem sogar einschließlich der gesetzlichen Schulpflicht seit Langem gelebte Wirklichkeit.
Was heute gerne vermengt wird, sind einfach-gesetzliche Wahlrechte zwischen bestimmten Schulformen, wie z. B. in § 12 HSchulG, und die gesellschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen, die mit dem Modewort „Inklusion“ verbunden werden. Mit der in Deutschland längst umgesetzten UN-BRK hat das nichts zu tun.
Weiterführend dazu:
Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung und das Modewort “Inklusion” – Hintergrundinformation v. 21.10.2011″
@Alexander Jebb. Danke für den Hinwei