Formlos verfassungsändernde ‘Staatspraxis’ und Gesetzesauslegung nach Parlamentsrede
Zum Mietendeckel-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute über die Normenkontrollen gegen das Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln, sog. Mietendeckel) entschieden. Das Gesetz ist nicht mit Wirkung für die Zukunft für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden, sondern rückwirkend für nichtig.
Der Senat ist der Auffassung, dass dem Land Berlin keine Gesetzgebungskompetenz für den Erlass von öffentlich-rechtlichen Mietpreisgrenzen zusteht. Er begründet diese Auffassung in zwei Schritten: Erstens handele es sich bei jedweden Regelungen zur Miethöhe für frei finanzierten Wohnraum um bürgerliches Recht, das bekanntlich der konkurrierenden Gesetzgebung unterfällt (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Im Kompetenztitel des Wohnungswesens, das bekanntlich der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder unterfällt (Art. 70 Abs. 1 GG), seien Mietpreisgrenzen darum nicht mehr enthalten. Mit Bezug auf die Miethöhe habe der Bund, zweitens, mit der sog. Mietpreisbremse (§§ 556d ff. BGB) von seiner Kompetenz abschließend Gebrauch gemacht.
Damit hat das Gericht die ungünstigste, verfassungspolitisch sowie praktisch folgenreichste Entscheidung getroffen, die in der Sache denkbar war.
Zum ersten Schritt
Unbestreitbar richtig ist: Der einfache Bundesgesetzgeber hat sich in der Nachkriegszeit politisch entschieden, im Bereich des frei finanzierten Wohnraums hinsichtlich der Preisbildung mit zunehmender Ausschließlichkeit auf das bürgerliche Recht in Gestalt des sog. sozialen Mietrechts zu setzen. Diese politische Entscheidung hat der Bundesgesetzgeber über die Jahrzehnte konsequent durchgearbeitet und die entsprechenden Regeln auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder angepasst.
2006 aber hat der verfassungsändernde Bundesgesetzgeber mit dem Kompetenztitel Wohnungswesen ausschließlich den Ländern die öffentlich-rechtlichen Instrumente zur Bewältigung der Probleme sozialer Wohnungsversorgung an die Hand gegeben. Damit geht eigentlich einher, dass seitdem die Länder auch die Autorität innehaben, politisch über den Einsatz dieser Instrumente zu entscheiden. Zu diesen gehörte lange anerkannt auch öffentlich-rechtliches Preisrecht in Gestalt von politisch bezifferten und damit vom Marktmechanismus entkoppelten Mietpreisgrenzen.
Das Bundesverfassungsgericht sagt nun in der Quintessenz: Indem sich der Bundesgesetzgeber politisch konsequent für das bürgerliche Recht entschieden hat, hat er zugleich den verfassungsrechtlichen Kompetenztitel des Wohnungswesens um Mietpreisgrenzen verkürzt (Rn. 180 ff.).
Das ist verfassungsrechtlich nicht vertretbar. Der Gehalt von Kompetenztiteln kann nicht durch die politische Ausrichtung der Aktivität des einfachen Bundesgesetzgebers geändert werden, und sei sie auch über längere Zeit konsequent durchgehalten. Der Gehalt von Kompetenztiteln kann nur durch förmliche Verfassungsänderung geändert werden. Das Gericht meint offenbar, es könne sich für diesen Zug auf die Relevanz der Staatspraxis für die Auslegung von Kompetenztiteln berufen. Relevanz der Staatspraxis bedeutet aber sicher nicht, dem einfachen Gesetzgeber im Wege der Gesetzesbegründung – nur da finden sich die Angaben zu politischen Alternativen und Kompetenztiteln – die Manipulation des Gehalts der verfassungsrechtlichen Kompetenztitel zu eröffnen.
Am Rande sei notiert: noch 1993 hatte der Bundesgesetzgeber eine Änderung des sozialen Mietrechts ausdrücklich auch auf den Kompetenztitel des Wohnungswesens gestützt. Und schon 13 Jahre später waren – nach Auffassung des Senats – sämtliche Regelungen zur Mietpreishöhe zum Kompetenztitel bürgerlichen Recht übersiedelt. Es scheint eine recht dynamische Sache zu sein, diese neue, formlos verfassungsändernde „Staatspraxis“.
Zum zweiten Schritt
Für den angeblich abschließenden Charakter der bürgerlich-rechtlichen Regeln des Bundes lässt das Bundesverfassungsgericht die einschlägige Vorschrift des BGB, die öffentlich-rechtliche Mietpreisgrenzen explizit anspricht (§ 558 Abs. 2 S. 2 BGB), erstaunlicher Weise außen vor. Dabei wäre eine Behandlung interessant gewesen: Einer Regelung, welche die Existenz von Mietpreisgrenzen jenseits des BGB voraussetzt, wird man eigentlich schwerlich einen abschließenden Charakter gegenüber jenen beilegen können. (Es ist behauptet worden, damit seien nur Preisgrenzen für öffentlich geförderten Wohnraum gemeint. Das ist aber historisch einfach falsch.)
Davon abgesehen lässt sich ein abschließender Charakter weder den bürgerlich-rechtlichen Regeln selbst noch den förmlichen Gesetzesmaterialien entnehmen. Darum muss das Gericht wesentlich mit protokollierten Äußerungen einzelner Parlamentarier argumentieren (Rn. 158). Nicht geringes Gewicht hat dabei eine Äußerung der Unions-Bundestagsabgeordneten Weisgerber (Schweinfurt), die in der Plenardebatte zur Mietpreisbremse eine „politische Verantwortungsübernahme des Bundes für die gesamte Wohnungspolitik“ reklamierte.
Die Legitimität einer solchen „politische Verantwortungsübernahme des Bundes“ für ein seit 2006 in die ausschließliche Kompetenz der Länder fallendes Problem sei dahingestellt. Jedenfalls ist der Zug des Senats methodisch nicht vertretbar. Denn, wie das Gericht an anderer Stelle selbst festhält (vgl. Rn. 106): Die subjektiven Vorstellungen einzelner Mitglieder der beteiligten Organe sind für die Ermittlung des objektiven Willens des Gesetzgebers nicht maßgeblich. Das muss jedenfalls dann gelten, wenn sich die einzelne Äußerung nicht im Gesetzestext niedergeschlagen hat, sich nicht einmal auf den Gesetzestext beziehen, sondern darauf, was man mit dem Gesetz Tolles erreiche.
Zur rückwirkenden Nichtigkeit
Das Gesetz wurde rückwirkend für nichtig erklärt. Das entspricht zwar dem gesetzlich vorgesehenen Regelfall für verfassungswidrige Gesetze (§ 95 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 78 S. 1 BVerfGG), entspricht aber nicht unbedingt der regelmäßigen Praxis. Eine Unvereinbarkeitserklärung mit Wirkung für die Zukunft (vgl. § 31 Abs. 2 S. 3 GG) erfolgt insbesondere dann, wenn das rückwirkende Außerkrafttreten der Rechtsnorm erhebliche Nachteile mit sich bringen würde, die die Nachteile der zeitweisen Geltung des Gesetzes überwiegen. Ohne die hier im Raum stehenden Nachteile – die potentiell katastrophalen Konsequenzen aus der Nachzahlungsverpflichtung, gerade in Zeiten von Corona – auch nur in einem Halbsatz zu würdigen, sah der Senat hierzu „keinen Anlass“ (Rn. 187). Dabei hat das Gericht in der Vergangenheit für weitaus weniger gewichtige Belange von der Nichtigkeitsfolge abgesehen, wie das Erfordernis einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung oder die Belange von Studienplatzbewerbern.
Das Schweigen des Senats zu den praktischen Folgen ist auch deswegen bemerkenswert, weil die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erging. Da hätte sich der Senat über die sozialen Härten informieren können. Und vielleicht hätte er sich doch einem qualifizierten Rechtsgespräch aussetzen sollen über die oben behandelten Punkte.
Die Entscheidung kam für die Beteiligten so überraschend wie für die Öffentlichkeit. Bis vorgestern war nicht einmal klar, welcher Senat (wann) entscheiden würde. Die Zuständigkeit lag bei beiden Senaten. Im Ersten Senat waren bis heute die Verfassungsbeschwerden der Vermieter anhängig. Man kann nur spekulieren, wie die Sache im Ersten Senat ausgegangen wäre, und wie es kam, dass letztlich der Zweite das Rennen gemacht hat.
Florian Rödl ist Verfahrensbevollmächtigter des Landes Berlin in dem Verfahren um den Mietendeckel vor dem Bundesverfassungsgericht.
Die Entscheidung war im Lichte der Rechtssprechung der letzten Jahre vor allem eines: vorhersehbar.
Wenn erst 2019 zur Mietpreisbremse, einzig auf Grundlage Bürgerliches Recht, entschieden wurde, dass Ausgestaltung des sozialen Mietrechts (mit einer Gesetzesbegründung, die bis auf den Wortlaut(!) der des MietenWoG gleicht) dem Bund obliegt, dann musste man wissen, dass die Wahrscheinlichkeit einer inkonsistenten Kehrtwende nicht groß war.
Ackermann hatte es kommen sehen, wenngleich er sich ein anderes Ergebnis gewünscht hat. Die theatralische Empörung, die hier nun aufgeführt wird – nun ja. Helfen tut es niemandem.
“Angesichts übereinstimmender Ziele und nur graduell von- einander abweichender Regelungsinhalte24 wirkt jeder Ver- such, die Berliner Regelung außerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zu verorten und sie auf diese Weise vor der Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG zu bewahren, gekünstelt, es sei denn, man stellt zugleich die Einordnung der bundesrechtlichen Mietpreisbremse als „bürgerliches Recht“ i. S. von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG in Frage. Das gilt insbesondere für die mit einigem Aufwand begründete These, der Mietendeckel sei öffentliches Miet- preisrecht, das ehemals dem Kompetenztitel „Wohnungs- wesen“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG unterfiel und mit dessen Abschaffung in der Föderalismusreform I 2006 gemäß der Grundregel des Art. 70 Abs. 1 GG in die Gesetzgebungs- kompetenz der Länder übergegangen sei.25 Das träfe aller- dings nur dann zu, wenn auch die BGB-Regelung des Miet- preisrechts in Wahrheit eine unter falscher Flagge segelnde Regulierung des Wohnungswesens wäre, die nunmehr den Ländern zugewiesen ist.”
Ackermann bis zum Schluss gelesen? Also insb. bis zur Frage des abschließenden Charakters der Mietpreisbremse?
Selbstverständlich. Die Erwiderung von Gerhard Wagner fand ich dann jedoch etwas überzeugender. Aber ich glaube das ist hier gar nicht der Punkt, oder?
Die Autoren hier argumentieren ja gerade ganz zentral mit dem Gehalt des Kompetenztitels Wohnungswesen. Und das trägt eben einfach nicht, wie selbst der Landeskompetenz-Befürworter Ackermann feststellte.
Dass das Gericht sich nach der Entscheidung zur Mietpreisbremse mit impliziter Kompetenzbestätigung durch Bürgerliches Recht nicht selbst schachmatt setzen würde, war doch relativ erwartbar, meine ich.
Wenn die Entscheidung nicht einstimmig (mit Fr. Wallrabenstein) ergangen wäre, hätte ich etwas mehr Verständnis für die Gegenargumente. So aber war die Sachen eben klar.
Im zweiten Teil des Beitrags (“Zum zweiten Schritt”) geht es doch explizit um die methodischen Mängel, die der Beschluss hinsichtlich der Frage des abschließenden Charakters der Mietpreisbremse aufweist. Insoweit haben Gather/Rödl und Ackermann m. E. einen guten Punkt. Dass das BVerfG erst einen objektiven Maßstab (Rn. 106) postuliert, um dann auf einzelne Aussage von Abgeordneten zu rekurrieren (Rn. 158), irritiert schon erheblich.
Den Verweis darauf, dass die Entscheidung 8:0 hinsichtlich des Ergebnisses und damit mit der Stimme von Frau Wallrabenstein ergangen sei, habe ich in den letzten beiden Tagen schon häufiger gelesen. Warum leiten Sie hieraus Unverständnis für die Gegenargumente ab? Argumente können nach einer Auseinandersetzung in der Sache – wie hier von Gather/Rödl erfolgt – weniger oder eben mehr überzeugend sein. Ein pauschaler Verweis auf das “klare” Abstimmungsergebnis am BVerfG langweilt mich ehrlich gesagt. Noch dazu ist es ja kein Geheimnis, dass man in Karlsruhe – auch mit Blick darauf, sich nicht selbst der eigenen Legitimation zu berauben – in den allermeisten Fällen “mit einer Stimme” spricht.
“Die in §§ 556d, 558 Abs. 3 Sätze 2, 3 BGB enthaltene Ermächtigung der Landes- regierungen, Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten auszuweisen und so eine verschärfte bundesgesetzliche Preis- kontrolle zu erreichen, verlöre jeden vernünftigen Sinn, wenn die Länder befugt wären, ganz unabhängig davon ihr eigenes Preisrecht für Wohnraummietverhältnisse zu schaffen.” schreibt Gerhard Wagner treffend zum abschließenden Charakter der Mietpreisbremse.
Aber der Reihe nach:
Der Verweis auf die Klarheit des Ergebnisses ist unter anderem deshalb nicht