Freiheit der (Auslands-)Wahl: Musste Deutschland der Türkei die Durchführung des Verfassungsreferendums gestatten?
Seit Montag dieser Woche sind rund 1,4 Millionen in Deutschland lebende türkische Staatsangehörige aufgerufen, in dem umstrittenen Verfassungsreferendum abzustimmen. Die Bundesregierung hatte die Durchführung der Wahl in Konsularvertretungen und eigens für das Referendum eingerichteten Wahllokalen mit dem expliziten Hinweis darauf erlaubt, dass Deutschland zu seinen demokratischen Grundsätzen stehe und sich die Entscheidung in eine Tradition früherer Genehmigungen türkischer Wahlen in Deutschland und dem europäischen Ausland eingliedere. Das türkische Wahlrecht sieht eine Briefwahl nicht vor: Das türkische Verfassungsgericht hatte 2008 entschieden, dass die Briefwahl verfassungswidrig sei, da sie das Wahlgeheimnis und den Grundsatz der freien Wahlen nicht ausreichend sicherzustellen vermöge (hier und hier).
Was bedeutet der Verweis auf die “demokratischen Grundsätze” und die “lange Kontinuität”, Wahlen auf deutschem Boden zu erlauben? Handelt es sich hierbei um rein politische Kulanz, um eine Tendenz, eine völkerrechtliche Praxis zu begründen, oder gar um eine völkerrechtliche Pflicht? Oder hatte im Gegenzug die Türkei die Pflicht, Deutschland um eine solche Genehmigung zu ersuchen? Und hätte eine Versagung der Genehmigung Konsequenzen jenseits einer erneuten Schlechtwetterphase in den deutsch-türkischen Beziehungen gehabt?
In der Bundespressekonferenz führte der Sprecher des Auswärtigen Amtes dazu aus: “Es ist in der Tat so, dass das Völkerrecht einem Staat völlige Freiheit bei der Entscheidung darüber gewährt, ob er es zulässt, zulassen kann und unter welchen Bedingungen er es zulässt, dass hoheitliche Handlungen eines anderen Staates auf seinem Staatsgebiet stattfinden können. Ein Wahlvorgang ist, wenn Sie so wollen, ein ganz besonders edler hoheitlicher Vorgang. Deshalb unterliegt dieser einer völkerrechtlichen Genehmigungspflicht durch den Gaststaat. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern das gilt überall auf der Welt.”
Durchführung von Wahlen als genehmigungspflichtiger Hoheitsakt auf fremdem Staatsgebiet
Völkerrechtlich unbestritten ist, dass die Ausübung von Hoheitsgewalt auf fremdem Territorium die Einwilligung des betroffenen Staates erfordert: Dies schlägt sich etwa darin nieder, dass die militärische Präsenz in einem fremden Staat ohne dessen Einwilligung verboten ist, sowie darin, dass die Einreise eines fremden Staatsoberhaupts, soweit dieses in amtlicher Eigenschaft handelt, untersagt werden kann. Schwierigkeiten bereitet dabei weniger das Grundprinzip, nach dem die Ausübung von Hoheitsgewalt auf fremdem Staatsgebiet grundsätzlich unter einem Einwilligungsvorbehalt steht, als vielmehr die Frage danach, welche Akte als Akte fremder Hoheitsgewalt zu verstehen sind.
Wahlen sind, so das Bundesverfassungsgericht, das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat. In Wahlen und Abstimmungen üben Bürgerinnen und Bürger unmittelbar Staatsgewalt aus: Auch wenn die Natur des Wahlrechts immer wieder Gegenstand rechtswissenschaftlicher Kontroversen gewesen ist, so ist in der kollektiven Willensäußerung eines Staatsvolkes durch eine Abstimmung ebenso ein Hoheitsakt zu sehen wie in der Äußerung oder Handlung eines durch das Staatsvolk konstituierten Staatsorgans (vgl Breuer, S. 191 mwN). Dabei dürfte es einen Unterschied machen, ob Einzelne im privaten Raum etwa per Briefwahl abstimmen (die Bundesrepublik sieht in der Briefwahl explizit keinen Hoheitsakt) oder ob der gesamte Wahlakt einer größeren Zahl fremder Staatsangehöriger öffentlich auf fremdem Boden stattfindet. Sieht man im Wahlakt einen Hoheitsakt, wie es die Bundesregierung vertritt, dann ist seine Durchführung nach Völkerrecht ohne Weiteres genehmigungspflichtig.
Keine Ausnahme nach dem Recht der diplomatischen und konsularischen Beziehungen
Etwas Anderes, mithin ein Anspruch darauf, den eigenen Staatsbürgern die Wahlteilnahme in Auslandsvertretungen zu ermöglichen, ergibt sich nicht aus den Wiener Übereinkommen über diplomatische oder konsularische Beziehungen. Die Konventionen nennen in ihrem jeweiligen Katalog über diplomatische bzw. konsularische Aufgaben die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen in den Auslandsvertretungen weder explizit noch bieten sie Anknüpfungspunkte für eine entsprechende Auslegung (Art. 3 WÜD, Art. 5 WÜK). Dies wird durch einen Blick auf die Europäische Konsularkonvention von 1967 bestätigt, die unter der Ägide des Europarates entstanden, aber nie in Kraft getreten ist: Demnach wäre ein Konsularbeamter berechtigt gewesen, im Zusammenhang mit Volksabstimmungen und Wahlen Stimmzettel der wahlberechtigten Staatsangehörigen entgegenzunehmen (Art. 8 lit. b). Die Erläuterungen zur Konvention heben die Neuartigkeit dieser Regelung hervor (Nr. 56: “innovation”). Ein Anspruch des Entsendestaates gegenüber dem Empfangsstaat, die Durchführung von Wahlen oder Abstimmungen in seinen Vertretungen zu dulden, ist dem geltenden Gesandtschaftsrecht somit nicht zu entnehmen.
Die Durchführung von Wahlen in Auslandsvertretungen ist damit im Grundsatz ebenso genehmigungspflichtig wie außerhalb von ihnen. Denn bei Gesandtschaftsräumen handelt es sich nicht etwa um ausländisches Gelände, das sich außerhalb des Staatsgebiets des Gastlandes befindet. Vielmehr ändert die diplomatische bzw. konsularische Nutzung eines Grundstücks nichts daran, dass es dem Hoheitsgebiet des Empfangsstaates zugeordnet bleibt. Würde in einer Auslandsvertretung ohne Zustimmung des Empfangsstaates eine Wahl durchgeführt, ließe sich dies indes nicht ohne Weiteres unterbinden: Ein Verstoß gegen Artikel 41 Abs. 3 WÜD bzw Artikel 55 Abs. 2 WÜK, die die Nutzung von Gesandtschaftsräumen für andere als diplomatische bzw. konsularische Zwecke grundsätzlich untersagen, rechtfertigt wohl kaum eine Durchbrechung des Prinzips der Unverletzlichkeit diplomatischer oder konsularischer Räumlichkeiten.
Keine Ausnahme aus menschenrechtlichen Verpflichtungen
Auch aus menschenrechtlicher Perspektive ergibt sich nach geltendem Recht kein zwingendes Gebot, ausländischen Staatsangehörigen, die sich im eigenen Hoheitsgebiet aufhalten, die Stimmabgabe zu ermöglichen. Zwar garantieren Art. 25 IPBürgR sowie Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK das Recht, an Wahlen teilzunehmen. Ungeachtet der Frage, ob Abstimmungen wie das türkische Referendum überhaupt von den jeweiligen Normen erfasst sind (Art. 3 ZP I ist dem Wortlaut nach auf Wahlen zu gesetzgebenden Körperschaften begrenzt; die allgemeine Bemerkung zu Art. 25 IPBürgR erwähnt dagegen ausdrücklich auch Referenden), trifft die korrespondierende Pflicht, die Teilnahmemöglichkeit der eigenen Staatsangehörigen an Wahlen zu sichern, aber nicht den Aufenthaltsstaat, sondern in erster Linie den Heimatstaat. Zwar sind menschenrechtliche Verpflichtungen erga omnes Verpflichtungen, zu deren Umsetzung alle Vertragsstaaten menschenrechtlicher Verträge beitragen müssen (für den IPBürgR vgl etwa Allgemeine Bemerkung Nr. 31). Daraus lässt sich aber keine konkrete Verpflichtung für die Genehmigung einer Auslandswahl ableiten. Denn andere Wege, die Teilnahme der eigenen Staatsangehörigen an der Wahl durch innerstaatliches Recht zu sichern – etwa durch Briefwahl oder Stellvertreterwahl – bleiben ja unberührt. Zudem ist das Wahlrecht weder nach Art. 25 IPBürgR noch nach Art. 3 ZP I zur EMRK schrankenlos gewährleistet. Vielmehr sind Beschränkungen des Wahlrechts zulässig, sofern sie nicht diskriminierend und unangemessen (Art. 2 i.V.m. Art. 25 IPBürgR) bzw. nicht unverhältnismäßig (EGMR zu Einschränkungen des Art. 3 ZP I EMRK) sind. Mit Blick auf die EMRK ist nach der Spruchpraxis der Kommission, die durch den EGMR bestätigt wurde, schon der Heimatstaat aus Art. 3 ZP I EMRK nicht verpflichtet, seinen im Ausland lebenden Staatsangehörigen die Beteiligung an Wahlen im Wege eines Brief- oder Konsulatsstimmrechts zu gewähren. Damit kann es erst recht keine Pflicht des Aufnahmestaates geben, die Beteiligung an Wahlen zu sichern.
Möglicherweise zeichnet sich hier allerdings ein Wandel ab. Angesichts der zunehmenden Mobilität von Menschen und der Bedeutung des Wahlrechts, die auch durch eine wachsende Zahl internationaler Standards zur Durchführung von Wahlen, wie sie etwa der Wahlbeobachtung zugrunde gelegt werden, zum Ausdruck kommt, schaffen immer mehr Staaten Wege, ihre im Ausland wohnhaften Staatsangehörigen an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen zu lassen, sei es durch Briefwahl, sei es durch Stimmabgabe in diplomatischen und konsularischen Vertretungen. Dies kann als vertragsanwendende Übung (Art. 31 Abs. 3 (b) WVK) verstanden werden, wobei es derzeit (noch?) an einer konsistenten Praxis fehlen dürfte. Eine mögliche Verpflichtung, auch im Ausland lebenden Staatsangehörigen die Wahlbeteiligung zu ermöglichen, träfe aber zunächst den Heimatstaat und würde noch nichts darüber sagen, wie eine solche Pflicht im Einzelnen auszugestalten wäre. Eine Pflicht des Empfängerstaates zur Duldung oder Genehmigung fremder Wahlen auf eigenem Staatsgebiet ließe sich daraus also nicht ohne Weiteres ableiten.
Mögliche Ausnahme aus dem Prinzip der Gegenseitigkeit
Eine Duldungspflicht könnte sich indes aus dem Prinzip der Gegenseitigkeit ergeben, das im Völkerrecht gerade zur Begründung von Völkergewohnheitsrecht im bilateralen Verhältnis eine Rolle spielt. Demnach müsste ein Staat, der seinen auf dem Territorium eines anderen Staates lebenden Angehörigen die Beteiligung an Wahlen oder Abstimmungen durch Stimmabgabe in seinen Gesandtschaftsgebäuden gewährt, dulden, dass ebendieser Staat ebenso verfährt, seine Staatsangehörigen also gleichfalls in seinen Auslandsvertretungen wählen lässt. Darauf hat auch die Bundesregierung verwiesen: Da die Bundesrepublik ausländischen Staaten die Abhaltung von Wahlen in ihren diplomatischen und konsularischen Vertretungen grundsätzlich erlaube, könne sie im Wege der Gegenseitigkeit die entsprechende Erlaubnis für die Abwicklung deutscher Wahlen in deutschen Auslandsvertretungen verlangen. Umgekehrt kommt die Gegenseitigkeit aber nicht zum Zuge: Deutschland ermöglicht seinen im Ausland lebenden Staatsangehörigen die Beteiligung an Wahlen nur im Wege der Briefwahl. Ein Anspruch darauf, in Gesandtschaftsgebäuden auf deutschem Territorium Wahlen und Abstimmungen durchzuführen, erwächst aus dieser Praxis folglich nicht.
Die bisherige Praxis der Bundesrepublik
Ein Grund dafür, dass das Völkerrecht bei der Frage, ob Wahlen und Abstimmungen auf fremdem Territorium durchgeführt werden dürfen, so zurückhaltend ist, mag in der Angst der Staaten liegen, in innenpolitische Konflikte anderer Staaten hineingezogen zu werden, wenn die bei ihnen lebenden Ausländer in entsprechenden Kampagnen mobilisiert und politisiert werden. So jedenfalls argumentierte die Bundesregierung im Jahr 1981. Damals war ihr erst im Nachhinein bekannt geworden, dass die in Deutschland lebenden Iraner in den Vertretungen ihres Heimatstaates an einem Referendum teilgenommen hatten und die in Deutschland lebenden Norweger auf gleiche Weise an den norwegischen Regionalwahlen beteiligt worden waren. Daraufhin stellte die Bundesregierung in einer Rundnote klar, dass sie der Durchführung von Wahlen und Abstimmungen in den Auslandsvertretungen auf deutschem Gebiet nicht zustimme. Diese ablehnende Haltung hat sie mittlerweile aufgegeben: Nunmehr ist sie grundsätzlich bereit, die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen in den diplomatischen und konsularischen Vertretungen des Entsendestaates (und nur dort) zu gestatten, verlangt aber, dass im Vorfeld die ausdrückliche Zustimmung der Bundesregierung eingeholt wird, und behält sich vor, diese Zustimmung mit Auflagen zu versehen. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung in der Vergangenheit Anträge der Türkei, nationale Wahlen in ihren deutschen Auslandsvertretungen durchzuführen, abgelehnt, jüngst aber auch wiederholt erlaubt.
Dass die Bundesregierung nunmehr auch der Durchführung des Verfassungsreferendums in den Räumen der türkischen Auslandsvertretungen (und darüber hinaus) zugestimmt hat, ändert nichts daran, dass sie dazu rechtlich nicht verpflichtet war. Es ist vielmehr der freien Entscheidung der Bundesrepublik überlassen, ob sie es erlaubt, dass ausländische Staatsangehörige an Wahlen und Abstimmungen ihres Heimatstaates teilnehmen, indem sie in dessen Vertretungen auf deutschem Gebiet ihre Stimme abgeben.
Diese Freiheit dürfte indes begrenzt sein: So könnte sich für den Fall, dass im Wege einer Abstimmung materielle Standards des zwingenden Völkerrechts (etwa der Extremfall der Wiedereinführung der Sklaverei) verletzt zu werden drohen, die Freiheit, die Durchführung einer solchen Abstimmung zu versagen, in eine Versagungspflicht wandeln. Im Hinblick auf das türkische Referendum ist diese notwendig sehr hohe Hürde aber zweifelsohne nicht erreicht, auch wenn die Venedig-Kommission gewarnt hat, durch die Verfassungsänderung drohe ein “gefährlicher Rückschritt für die Demokratie” in der Türkei und die Entwicklung hin zu einem autoritären Präsidialsystem.
Damit bleibt es dabei: Die Bundesregierung durfte, musste der Durchführung des türkischen Verfassungsreferendums in Deutschland aber nicht zustimmen.
Kleine Anmerkung: Nicht die Teilnahme an einer Wahl durch den Wähler ist Hoheitsakt, sondern die hoheitliche Kontrolle der Wahl sind Hoheitsakte. So erklärt sich, weshalb die Durchführung von Briefwahlen keiner Genehmigung bedürfen.
Unabhängig davon, ob die Wahl als Hoheitsakt seitens der Wähler oder seitens der die Wahl kontrollierenden Staatsorgane qualifiziert wird, dürfte wesentlich sein, ob die (hoheitlichen) Auswirkungen des Wahlaktes als im In- oder Ausland stattfindend eingeordnet werden.
Stellt man auf den Wahlzweck ab, wird man in beiden Fällen eine reine Auslandskonseqzenz annehmen müssen, sieht man hingegen den (politisch unliebsamen) Organisations(real)akt bereits als Hoheitsakt an, sehen die Dinge natürlich anders aus.
Gänzlich unangreifbar ist eine Qualifikation als Hoheitsakt in Abhängigkeit der gewählten Organisationsform allerdings nicht, zumal weder Hoheitsgewalt der Bundesrepublik auf ihrem Territorium geschmählert, noch die innerstaatlichen Einwirkungsmöglichkeiten des anderen fremden Staates erweitert werden.