Für eine evidenzbasierte, rationale Kriminalpolitik
Die aktuelle gesellschaftliche Debatte über Taten wie die Tötung zweier Menschen und Verletzung zweier weiterer Menschen in Aschaffenburg ist verständlicherweise emotional aufgeladen. Jedes Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen ist nachvollziehbar und wird von uns geteilt.
Als Strafrechtswissenschaftler:innen sehen wir uns verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass die Debatte aber darüber hinaus von populistischen Instrumentalisierungen und verzerrten medialen Darstellungen geprägt ist. Statt evidenzbasierter Erkenntnisse dominieren derzeit emotionale Reaktionen und politische Reflexe. Ein sachlicher, wissenschaftlich fundierter Umgang mit Kriminalität ist jedoch essenziell, um wirksame, nachhaltige und verfassungskonforme Lösungen zu entwickeln.
Beispielsweise zeigt die Forschung, dass soziale Integration eine der wichtigsten Präventivmaßnahmen gegen Kriminalität ist. Dennoch wird als Reaktion auf die Tat in Aschaffenburg aktuell der Familiennachzug für Geflüchtete infrage gestellt, obwohl dies Vereinsamung und soziale Instabilität verstärken kann, was wiederum das Risiko von Kriminalität erhöhen könnte. Über Herausforderungen bei Integration und Kapazitäten muss im ausländerrechtlichen Kontext diskutiert werden, die wahren Probleme benannt und damit Lösungen erreichbar gemacht werden. Eine Verknüpfung mit Straftaten dagegen erschwert an dieser Stelle eine rationale Auseinandersetzung.
Als weiteres Beispiel für problematische Forderungen sei die genannt, Personen mit Aufenthaltsberechtigung nach der Begehung von zwei Straftaten abzuschieben – selbst wenn es sich dabei um Bagatelldelikte wie das Schwarzfahren nach § 265a StGB handelt. Nicht nur ist etwa die Strafwürdigkeit dieser und anderer vergleichbarer Delikte ohnehin bereits umstritten, eine derartige Form der Sanktionierung ist auch mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fragwürdig.
Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass Kriminalstatistiken oft unsachgemäß genutzt werden. Ein häufiges Problem ist die Gleichsetzung registrierter Straftaten mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung. Polizeiliche Kontrollmechanismen und veränderte Anzeigebereitschaft, aber auch andere Faktoren, beeinflussen die Zahlen oft stärker als eine reale Zunahme der Kriminalität oder eine subjektive Wahrnehmung von Kriminalität, gerade auch mit Blick auf die Medienberichterstattung und die Debatten in den sozialen Medien. Selektiv ist oft die Darstellung bestimmter Delikts- und Personengruppen, wie es sich in der derzeitigen Debatte spiegelt. Kriminalität ist aber keine Folge der Staatsangehörigkeit.
Eine sachgerechte Analyse muss kontextbezogen sein, und die Suche nach Lösungen bedarf auch immer einer evidenzbasierten Ursachenforschung.
Wir fordern deshalb eine durch Rationalität und Evidenz geprägte Kriminalpolitik. Die Debatte sollte sich von populistischen Verzerrungen lösen und wissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen.
Dazu gehören:
- Eine rationale, empiriebasierte Analyse
- Ein sachlicher Umgang mit Kriminalstatistiken
- Die Berücksichtigung kriminologischer Erkenntnisse bei Gesetzesvorhaben
- Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit im Strafrecht
- Die Trennung von Straf- und Aufenthaltsrecht
Eine evidenzbasierte, verfassungskonforme Kriminalpolitik ist unabdingbar, um sowohl Sicherheit als auch Rechtsstaatlichkeit nachhaltig zu gewährleisten.
Prof.’in Dr. Susanne Beck, LL.M. Universität Hannover
Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier, Universität Hannover
Prof.’in Dr. Anna H. Albrecht, Universität Potsdam
Prof. Dr. Kai Ambos, Universität Göttingen
Ass. iur. Büşra Akay, Doktorandin, Universität zu Köln
Prof.‘in Dr. Stefanie Bock, Universität Marburg
Dr. Nicole Bögelein, Universität zu Köln
Prof. Dr. Dominik Brodowski, LL.M., Universität des Saarlands
Prof. Dr. Jens Bülte, Universität Mannheim
Prof. Dr. Jochen Bung, Universität Hamburg
Prof. Dr. Boris Burghardt, Universität Marburg
Prof. Dr. Mark Deiters, Universität Münster
Prof.’in Dr. Kirstin Drenkhahn, Freie Universität Berlin
Jun.-Prof. Dr. Aziz Epik, LL.M., Universität Hamburg
Prof. Dr. Bijan Fateh-Moghadam, Universität Basel
Prof.’in Dr. Julia Geneuss, LL.M., Universität Potsdam
Prof.’in Dr. Ingke Goeckenjan, Universität Bochum
Prof. Dr. Klaus Günther, Universität Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Stefan Harrendorf, Universität Greifswald
Prof. Dr. Dr. h.c. Bernd Heinrich, Universität Tübingen
Prof.‘in Dr. Katrin Höffler, Humboldt Universität Berlin
Ass. iur. Sabine Horn, Universität zu Köln
Prof. Dr. Andreas Hoyer, Universität Kiel
PD‘in Dr. Victoria Ibold, Universität Halle-Wittenberg
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Prof. Dr. Florian Jeßberger, Humboldt Universität Berlin
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Prof. Dr. iur. Dipl.Psych. Stefanie Kemme, Universität Münster
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Prof. Dr. Dr. Milan Kuhli, Universität Hamburg
Ass. iur. Lubahn Greppler, Celina S., Doktorandin, Universität zu Köln
Prof.’in Dr. Grischa Merkel, Universität Greifswald
Prof. Dr. Carsten Momsen, Freie Universität Berlin
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Prof. Dr. Henning Müller, Universität Regensburg
Hon.-Prof. Dr. Michael Nagel, Rechtsanwalt
Prof. Dr. Frank Neubacher, M.A., Universität zu Köln
Prof. ’in Dr. Laura Neumann, Universität Mannheim
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Dr. Maximilian Nussbaum, Universität Hannover
Prof. Dr. Erol Pohlreich, Universität Frankfurt a.d.O.
Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius Prittwitz, Universität Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Jens Puschke, Universität Marburg
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Dr. Yann Romund, Universität Hannover
Prof. Dr. Henning Rosenau, Universität Halle-Wittenberg
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Dr. Leonie Schmitz, Universität zu Köln
Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Universität Frankfurt a.M.
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PD’in Dr. Georgia Stefanopoulou, Universitäten Hannover / Leipzig
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Prof. Dr. Markus Wagner, Universität Bonn
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Timotheus Winterstein, Doktorand, Universität zu Köln
Prof. Dr. Petra Wittig, Rechtsanwältin
Prof. Dr. Gina Rosa Wollinger, HSPV Nordrhein-Westfalen
Prof.’in Dr. Liane Wörner, LL.M. Universität Konstanz
Universitätslehrer Dr. Benno Zabel, Universität Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Sascha Ziemann, Universität Hannover
Prof. Dr. Frank Zimmermann, Universität Freiburg
Prof. Dr. Till Zimmermann, Universität Düsseldorf
Daher für diese sinnvolle Initiative!
Ich kann diesen sehr sachgerechten Beitrag nur voll und ganz unterstützen!
Danke dafür.
Ich unterstütze diesen Beitrag voll und ganz und empfehle Herrn Merz von
seiner Kandidatur zurück zu treten, Mit ihm sage ich ein Lügendebakel nach der Wahl voraus
Volle Zustimmung! Ergänzung:
Die Politik benötigt für ihre anerkannte Zielsetzung evidenzbasierter Kriminalpolitik laufend eine verlässliche empirisch-kriminologische Dunkelfeldforschung. Die muss sich aber rechtlich für unverzichtbare Vertraulichkeitszusagen auf ein nach Reichweite und einzubeziehenden Personen geklärtes Zeug nisverwigrungsrecht stützen können. Da alle in der Politik dies seit einem halben Jahrhundert trotz Mahnungen betroffener Forschender und des BVerfG (obiter dictum in Sachen Stemmler mit Beschlagnahme vertraulicher Dateien) ignorieren, darbt die Dunkelfeldforschung. Ebenso nötig ist der Ausbau statt des Abbaus kriminologischer Lehrstühle und derartiger Forschung. Die Politik hat hier eine Bringschuld!
Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag mitsamt Ergänzung!
Beate Ehret, MOTRA, Hochschule Fresenius, Wiesbaden
Dass die Juristen in diesem Echo der 1930er ihre Stimme erheben und ihrer Verantwortung gerecht werden, tut gut.
Danke dafür.
Dank, für diese klare und fundierte Stellungnahme! Es berührt mich und macht Mut, dass Sie all den vielen, behauptet mehrheitsfähigen unsachlichen, m.E. gefährlichen Aussagen, Ihre professionelle wissenschaftliche Haltung entgegen stellen.
Moin in die Runde, vielen Dank für die Unterhaltung dieses blogs im Allgemeinen und für den vorliegenden, aktuellen Beitrag im Besonderen. Als (Natur)Wissenschaftler teile ich alle unter den Punkten 1 bis 5 formulierten Ansprüche. Ich beobachte allerdings leider regelmäßig (wie Sie im Aufhänger für den Beitrag ebenfalls darlegen), dass im politischen Betrieb getätigte Aussagen von diesem wissenschaftlichen Anspruch mitunter weit abweichen. Dies geschieht vermutlich zumeist in der Absicht, Wähler:innen über Stimmungen einzufangen. Man kann diese Vorgehensweise in vielen Bereichen beobachten, sei es in puncto Klimawandel, kriegerische Krisen innerhalb und außerhalb Europas oder eben Migration. Ob oder inwieweit die einzelnen politischen Akteur:innen sich zu den verschiedenen Themen wissentlich populistisch und eben nicht evidenzbasiert äußern, vermag ich nur zu vermuten.
Wie auch immer, ich komme zum Punkt bzw. direkt zu meiner Frage:
Welche Möglichkeiten sehen Sie, die breite Bevölkerung mit der wissenschaftlichen Realität zu erreichen? Der Eindruck ist, dass aufgrund der heimeligen Blasen, in denen wir uns im Rahmen der heute üblichen Kommunikationskultur und -Struktur gerne einrichten, einander zwischen diesen Blasen nur schlecht erreichen. Wie kann dies aufgelöst werden? Ich glaube, dass dies eine zentrale Frage ist, die uns wahrscheinlich alle umtreibt, unabhängig von der Disziplin, in der wir als Wissenschaftler:innen unterwegs sind.
Beste Grüße
ich stimme Ihnen zu: hierbei hilfreich sind Bürgerräte, die längere Zeit einer Gruppe von Bürger*innen auch einen intensiven wissensbasierten Input geben können.
ebenso können Initiativen wie “DemokratieForum: Akademie für politische Übung Waldeck-Frankenberg” helfen, Bürger*innen politisch “aufzuklären” und gemeinsam vor Ort Themen aufzuarbeiten.
ein mündiger Bürger muss sich selbst aufklären, aufklären können…
Schön mal wieder vom alten Dunkelfeldforscher Artur Kreuzer etwas zu hören (die jungen Leute haben uns vergessen) und dank an die Kolleginnen für die Initiative, Problem ist, dass mehr denn je die Universitäten nichts mehr zu tun haben, mit den Stadt- und Landgesellschaften in denen sie stehen und dass, wir Kolleginnen – aus guten Gründen – mit den Parteien, weil wir selten Mitglieder sind nichts mehr zu tun haben: jeder für sich und Gott gegen alle. Auch ihr habt euch isoliert und die StrafverteidigerVereinigungen verschlafen ihren gesellschaftlichen Auftrag: trotzdem weitermachen, den Apfelbaum nicht vergessen.
Als Wissenschaftlerin an der Grenze zwischen Sozial- und Naturwissenschaft ist mir besonders daran gelegen rational und evidenzbasiert emotiv und gesellschaftlich-verankerte Themen zu beleuchten. Es erleichtert mich ungemein diesen Beitrag und über diese Initiative zu lesen. Als Vorstand des Arbeitskreises Psychische Gesundheit und Flucht im Netzwerk Fluchtforschung sehen wir auch den prekären Zusammenhang zwischen Gesundheit und populistischen medial-politischen Diskursen und wollen diese wissenschaftlich noch besser verstehen. Mein Appell ist einer an die transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen solch tollen Initiativen und anderen akademischen Verbindungen (es ist so bereichernd auch die Kommentare hier zu lesen). Es wäre mir ein großes Anliegen Antworten auf die hier zuvor gestellten Fragen, wie Gesellschaft besser erreicht werden kann, um den Überhitzungen mit Abkühlung begegnen zu können, zu finden. Nochmals Herzlichen Dank!
danke hierfür. zum Thema mehr rationales Wissen und Empirie in der Politik zu nutzen: wie oft werden gerade von rechter und rechtsextremer Seite so etwas wie Expertenregierungen gefordert? und gleichzeitig dann aber Wissenschaftliche Rück- und Wortmeldungen ignoriert oder gar als pure woke meinungsmache defamiert?