Für eine Zeitenwende im Abtreibungsrecht
Lektionen aus dem Rechtsvergleich
Am Ende des Symposiums wird sichtbar: Abtreibungen zu kriminalisieren bildet im Vergleich zu den ausgewählten Ländern nicht die Regel (I.). Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Entkriminalisierung jegliche faktischen Zugangshürden aus dem Weg räumt. Der Blick ins Ausland lohnt sich deshalb auch unabhängig von der Frage der Entkriminalisierung, um potentielle Fallstricke für die Versorgungslage zu analysieren (II.). Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bereitet jedoch, so legt der Rechtsvergleich nahe, den Weg, um strukturelle Hindernisse abbauen zu können. Eine bedeutende Rolle können dabei aktivistische Bewegungen spielen (III.).
I. Law in the books
Das Symposium legt drei grundsätzliche Regulierungstechniken offen: Entweder Länder beschränken den Schwangerschaftsabbruch in keiner Weise (Cluster 1), oder der legale Zugang zu Abtreibungen wird grundsätzlich über eine Frist außerhalb (Cluster 2) oder innerhalb (Cluster 3) des Strafrechts begrenzt. Es werden ausschließlich solche Länder in Cluster 3 eingeordnet, die zu keinem Zeitpunkt der Schwangerschaft auf das Strafrecht zurückgreifen.
Cluster 1: Keine Beschränkungen (Kanada und Südkorea)
Rechtlich nicht reglementiert sind Abtreibungen in Kanada und Südkorea. In Kanada entschied bereits 1988 der Supreme Court, dass der Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Grundrechte der schwangeren Person nicht beschränkt werden dürfe. Der Abbruch wird grundsätzlich als Gesundheitsleistung verstanden. Auch in Südkorea war die Intervention des nationalen Verfassungsgerichts ausschlaggebend: 2019 erklärte das südkoreanische Verfassungsgericht die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs für verfassungswidrig. Das ist bemerkenswert: Nicht nur, weil das Gericht erst 2012 dasselbe Gesetz für verfassungskonform gehalten hatte, sondern auch, weil in Südkorea das Lebensrecht des Fötus verfassungsrechtlich anerkannt wird.
Cluster 2: Fristenlösung ohne Rückgriff auf das Strafrecht (Island, Nordmazedonien, Südafrika)
Island, Nordmazedonien und Südafrika beschränken den Schwangerschaftsabbruch zwar mit gesetzlichen Fristen, alle Staaten verzichten jedoch auf das Strafrecht. Eine besonders progressive Regulierung findet sich in Island: Dort sind Abbrüche bis zum Ende der 22. Schwangerschaftswoche auf Verlangen der schwangeren Person möglich, danach aus medizinischen Gründen weiterhin zugänglich. Damit ist der Zugang umfassend abgesichert. In Nordmazedonien ist der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche zugänglich, es bestehen keinerlei unmittelbare Zugangshürden für die schwangere Person (keine Beratungsverpflichtung, keine Wartezeit). Sogar verfassungsrechtlich garantiert wird das Recht auf Abtreibung in Südafrika, das den Schwangerschaftsabbruch als reproduktive Gesundheitsleistung einordnet. Dennoch wird eine eher kurze Frist von 12 Wochen gewährt, auf eine Beratungsverpflichtung jedoch verzichtet. Ein interessanter Paradigmenwechsel: Südafrika bestraft nicht Personen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen (lassen) – sondern Personen, die den Zugang zu Abtreibungen behindern.
Cluster 3: Fristenlösung mit Rückgriff auf das Strafrecht (Uruguay, Tunesien, Indien, Argentinien)
Die wohl größte Ähnlichkeit zu Deutschland weist Uruguay auf: Der Abbruch ist innerhalb der ersten 12 Wochen nach mehreren verpflichtenden Beratungen und einer fünftägigen Wartezeit legal. Anders als in Deutschland wird der Abbruch jedoch erst strafrechtlich relevant, wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen. Die deutsche Regelungstechnik dreht das Regel-Ausnahme-Verhältnis hingegen um: Der Abbruch ist grundsätzlich strafbar. So auch in Tunesien: Der Abbruch wird als strafrechtliche Tötung gewertet, ist jedoch bis zum Ende des ersten Trimesters in anerkannten Einrichtungen legal möglich. Argentinien regelt Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche außerhalb des Strafrechts, ab der 15. Woche handelt es sich um eine Straftat. Weil im föderalen Argentinien Gesundheit Sache der Gliedstaaten ist, gibt es bei der Durchsetzung jedoch territoriale Unterschiede. Daneben verfolgte Indien 2021 zwar über eine Gesetzänderung das Ziel, die Würde und Autonomie der schwangeren Person abzusichern, nichtdestotrotz sind Abtreibungen auf Verlangen nicht möglich. Eine schwangere Frau kann einen Schwangerschaftsabbruch nur bei registrierten Ärzt*innen vornehmen lassen, die bestimmte Qualifikationen erfüllen, und auch nur dann, wenn das Leben oder die geistige oder körperliche Gesundheit der schwangeren Person gefährdet sind oder erhebliche Anomalien des Fötus vorliegen.
II. Law in action
Die rechtliche Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs sagt allerdings noch wenig über die faktische Situation der schwangeren Personen aus. So zeigen beispielsweise Kanada, Südafrika und Indien, dass progressive Gesetze, Verfassungen und Verfassungsinterpretation nicht zwangsläufig dafür sorgen, dass die Versorgungslage umfassend abgesichert ist. Grundsätzlich lassen sich drei Problemschwerpunkte erkennen, die den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch übergreifend erschweren: Missstände in den Versorgungsstellen (Problemschwerpunkt 1), Informationsdefizite (Problemschwerpunkt 2), sowie fehlende finanzielle Absicherung (Problemschwerpunkt 3). Dabei ist zu betonen, dass Zugangshürden in besonderem Maße marginalisierte und arme Menschen treffen (Stichwort: reproduktive Gerechtigkeit).
Problemschwerpunkt 1: Missstände in der Versorgungslage
Missstände im Bereich der Versorgungslage sind allgegenwärtig: Zu wenig praktizierende Ärzt*innen/medizinisches Personal (z.B. in Tunesien, Südafrika), zu wenig Abbruchsstellen im ländlichen Raum (z.B. in Nordmazedonien, Kanada, Island), Gehsteigbelästigungen (Kanada, Deutschland). Verschärft wird die prekäre Versorgungslage durch ein Weigerungsrecht (conscientious objection) für Ärzt*innen (z.B. in Uruguay, Argentinien). Nationale Leitlinien, wie das Weigerungsrecht auszuüben ist, sind hingegen eine Seltenheit (Südafrika). Zu reflektieren ist dabei, dass die Abbruchssituation durch Machtasymmetrien zwischen Ärzt*innen und Patient*innen bestimmt wird– immerhin ist die schwangere Person auf die ärztliche Leistung angewiesen (Uruguay).
Problemschwerpunkt 2: Informationsdefizite
Darüber hinaus bestehen auf zwei Ebenen Informationsdefizite. Einerseits hindert fehlende Sexualaufklärung die schwangeren Personen, ihre reproduktiven Rechte durchzusetzen (Kanada, Nordmazedonien, Südafrika). Andererseits herrscht bei den Ärzt*innen Unsicherheit über die konkrete Anwendung der rechtlichen Regulierungen (z.B. wie der Choice Act in Südafrika auszulegen ist) – auch in Deutschland. Verunsicherte Ärzt*innen könnten daher eher darauf verzichten, Abbrüche durchzuführen, um Strafverfolgung zu entgehen.
Problemschwerpunkt 3: Fehlende finanzielle Absicherung
Und natürlich spielen auch Fragen der Finanzierung eine bedeutende Rolle. Denn der Schwangerschaftsabbruch bleibt häufig eine private Leistung und wird nicht (Nordmazedonien) oder nur unter spezifischen Voraussetzungen (Island, Tunesien) von der Krankenkasse übernommen. Dies trifft insbesondere marginalisierte Gruppen: In Nordmazedonien können beispielsweise viele Roma aufgrund der hohen Kosten keine legalen Schwangerschaftsabbrüche durchführen lassen. In anderen Ländern sind Schwangerschaftsabbrüche als Kassenleistung kostenlos möglich (Argentinien, Südafrika, Island, Kanada, Indien)
III. Activism in law
Um die Situation von schwangeren Personen langfristig abzusichern, muss der Schwangerschaftsabbruch als Teil reproduktiver Rechte (und Gerechtigkeit) und damit als Gesundheitsdienstleistung anerkannt werden. Die erste zu nehmende Hürde ist dabei, so zeigt es der Rechtsvergleich, Abbrüche zu entkriminalisieren. Dadurch wird der Weg bereitet, um strukturelle Hürden langfristig abzubauen und stereotype Vorstellungen von Frausein/Mutterschaft entgegenzuwirken. Jede Reform, die den Schwangerschaftsabbruch zwar liberalisiert, gleichzeitig aber an der Kriminalisierung festhält, bestätigt schlussendlich die Illegalität des Abbruchs – außer eben unter ganz spezifischen Umständen. Gleichzeitig bedeutet die Streichung von § 218 StGB nicht, dass Fristen grundsätzlich versperrt wären (wie Island, Nordmazedonien und Südafrika zeigen).
Offensichtlich wurde allerdings auch, dass eine Entkriminalisierung nicht automatisch die Versorgungslage verbessert: Der Schwangerschaftsabbruch muss vielmehr effektiv und diskriminierungssensibel abgesichert werden, vor allem im ländlichen Raum. Dazu müssen das ärztliche Weigerungsrecht mit den reproduktiven Rechten der schwangeren Person austariert, umfassende Informationen zu Verhütung, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bereitgestellt und die Kosten für den Abbruch von der Krankenkasse übernommen werden. Island ist dafür ein positives Beispiel.
Was können wir sonst noch für die deutsche Debatte mitnehmen? Zum einen zeigt das Symposium, wie der Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafrechts reguliert werden kann – selbst wenn dem Fötus ein verfassungsrechtlicher Status zukommt (Südkorea). Auch vergangene Urteile des Verfassungsgerichts schließen Reformen nicht aus. Darüber hinaus wird deutlich, dass der Schwangerschaftsabbruch mit unterschiedlichen politischen und religiös-moralischen Ansichten und bevölkerungspolitischen Bestrebungen verwoben ist und bleibt. Wir brauchen politische Debatten, um dies langfristig zu reflektieren und scheinbar neutrale Grundannahmen des Abtreibungsrechts und reproduktiver Rechte insgesamt hinterfragen zu können. Der deutsche Diskurs ist an dieser Stelle besonders eingefahren, viel zu oft wird blank auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 verwiesen, um Reformbestrebungen abzutun.
Orientierung für einen Weg nach vorne bietet beispielsweise Südkorea. Das historische Urteil von 2019, das die Kriminalisierung des Abbruchs in einem U-Turn für verfassungswidrig erklärt, ist vor allem dem Aktivismus der Joint Action Reproductive Justice (2017) zu verdanken: Auf dem Weg zur angestrebten Gesetzesänderung wurde der Gegensatz von pro-choice vs pro-life aufgebrochen. Denn Reproduktion ist letztlich eine soziale Frage: Der Staat ist dafür verantwortlich, die sexuelle und reproduktive Gesundheit der Bürger*innen zu schützen und zu fördern. Gesellschaftlicher Druck über Massen- und regelmäßige Einzelproteste, Lobbying und öffentliche Debatten führten in Südkorea zu einer veränderten gesellschaftlichen Grundhaltung und ebneten so den Weg für das Urteil von 2019.
Auch in Argentinien hat massive aktivistische Mobilisierung die Gesetzesreform ermöglicht. Die Aktivist*innen fuhren eine zweigleisige Strategie: Einerseits lobbyierten sie im Gesetzgebungsprozess, indem sie sogar einen eigenen Gesetzesentwurf einbrachten. Andererseits strengten sie Verbesserungen „on the ground“ an, indem sie Beamt*innen fortbildeten, öffentlich aufklärten und den Zugang zu medikamentösen Abbrüchen erleichterten. Schlüssel der argentinischen Aktivist*innen war ihre Fähigkeit, diverse soziale Gruppen und Forderungen in eine einzige Organisationsstruktur zu bündeln: In über drei Jahrzehnten schlossen sich 300 klassen- und generationenübergreifende Bewegungen im ganzen Land zusammen.
Dieses enorme gesellschaftspolitische Potenzial sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn die Ampel-Regierung es weiterhin versäumt, die versprochene Kommission zur Prüfung der Entkriminalisierung einzusetzen. Und wir hoffen, dass sich die künftige Kommissionsarbeit mit diesem Symposium kritisch und kundig begleiten lässt.
Wir bedanken uns herzlich bei Doctors for Choice Germany, beim Freundeskreis Rechtswissenschaft und dem Büro für Gleichstellung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, deren großzügige Unterstützung dieses Symposium erst ermöglicht hat. Das Symposium wäre außerdem nicht ohne die großartige Arbeit der Autorinnen möglich gewesen.