Identitätspolitik als emanzipatorisches Instrument in der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch
Der 24.06.2022 war ein Tag voller großer Entscheidungen. So wurde im deutschen Bundestag nach jahrelangem Kampf beschlossen, § 219a StGB endlich vollkommen zu streichen. Umso tragischer war, dass am selben Tag in den USA das Grundsatzurteil Roe v. Wade aus dem Jahr 1973 aufgehoben wurde. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, bis dato ein Verfassungsrecht, existiert nun dort nicht mehr. Aus einer identitätspolitischen Perspektive wird sichtbar, wieso beide Ereignisse fundamental miteinander verknüpft sind – und wie bestimmte Positionen in öffentlichen Debatten durch strategische Delegitimierungsprozesse aus dem Diskurs verdrängt werden können. Die systematische Aberkennung von spezifischen identitätsrelevanten Forderungen spielte in der nun ergangenen Dobbs-Entscheidung eine entscheidende Rolle.
Der Blick in die USA: Was passiert, wenn identitätspolitische Bewegungen fundamental delegitimiert werden
Der Begriff der Identitätspolitik stammt aus den USA und wird heute vor allem verwendet, um politische Forderungen einiger ausgewählter Gruppen im Meinungsbildungsprozess zu delegitimieren. Anders ist nicht erklärlich, warum feministischen Gruppen und Antirassismus-Bewegungen Identitätspolitik vorgeworfen wird, Waffenträger*innen und Evangelikalen jedoch nicht. Die Markierung als „Identitätspolitik“ soll die Verknüpfung mit Betroffenheit hervorheben, um Personengruppen Objektivität abzusprechen, um das Gewicht ihrer Beiträge in der öffentlichen Deliberation zu mindern. Was passiert, wenn ein solches Vorgehen Struktur und Systematik hat, im politischen Mainstream angekommen ist, zeigen die USA derzeit eindrücklich.
Doch was ist unter dem Begriff der Identitätspolitik überhaupt zu verstehen? Der wörtliche Ursprung der Identitätspolitik (identity politics) liegt im Jahr 1977. Es war das Combahee River Collective aus Schwarzen und lesbischen Frauen, welche das Konzept der Identitätspolitik prägten, um, wie sie selbst schrieben, einen radikalen neuen Ansatz zu nutzen. Sie stellten die eigene Identität als Schwarze Frauen in den Mittelpunkt, um so auf Unterdrückungserfahrungen aufmerksam zu machen. Im historischen Ausgangspunkt ist Identitätspolitik also die Organisation einer bestimmten Gruppe aufgrund spezifischer Erfahrungen oder Perspektiven, wobei das Sichtbarmachen der eigenen Identität als Ziel verstanden wird. Welche Erfahrungen dabei im Vordergrund stehen, bleibt zunächst offen. Ein identitätsstiftendes Merkmal, beispielsweise Frau sein, dient einerseits als Zuschreibungskategorie, andererseits identifizieren sich Personen als Frauen. In Zuschreibungspraktiken werden Menschen von anderen als Frau behandelt, und zugleich werden gesellschaftliche Vorstellungen an das Frau sein geknüpft. Weitere Zuschreibungskategorie sind etwa race, Herkunft, Ethnie, sexuelle Orientierung oder soziale Herkunft. Wegen der Wirkmächtigkeit der Zuschreibungen regeln Diskriminierungsverbote die staatliche Anknüpfung an solche Kategorien. Doch können auch bestimmte Berufsgruppen (z. B. Anwält*innen/ Friseur*innen) oder Glaubensrichtungen durchaus identitätsstiftend wirken. Nicht jede identitätspolitische Positionierung entspricht also einer verfassungsrechtlichen Rechtsposition.
Durch Delegitimierung und Abwertung von Lebensrealitäten werden freilich nur bestimmte Perspektiven absichtsvoll aus dem Diskurs gedrängt, ihre Beiträge als nicht satisfaktionsfähig zurückgewiesen und einer inhaltlichen Auseinandersetzung für nicht würdig erklärt. Die Mehrheitsentscheidung in Dobbs streicht Frauen im ganz wörtlichen Sinne aus grundrechtlichen Positionen: Durch die originalistische Auslegung des Right to Privacy wird unmittelbar auf eine Zeit zurückgegriffen, in der Frauen oder Schwarze ebenso wenig wie LGBTIQ Bedeutung und Stimme in der politischen und rechtswissenschaftlichen Sphäre hatten. Dass das Recht auf Abtreibung, das Recht der Frau am eigenen Körper, damals keine Relevanz hatte, ist kaum eine Überraschung.
Offen ist aktuell noch, ob der jetzige Supreme Court künftig überhaupt Grenzen der Einschränkbarkeit von Abtreibungen anerkennen wird. Die Mehrheitsentscheidung in Dobbs verwendet zur Bestimmung der Verfassungsmäßigkeit des Mississippi-Gesetzes den rational basis-Test, der lediglich eine Art der Willkürkontrolle und gerade keine strict scrutiny an verfassungsrechtlichen Maßstäben vorsieht. Wegen der geringen Anforderungen an einen sachlichen Grund im rational basis-Test bleibt in der Realität fast jede Regelung bestehen. Dabei wird als einer der möglichen legitimen Gründe „respect for and preservation of prenatal life at all stages of development” angeführt, was zu einer zirkulären Argumentation mit einer petitio principii führt, denn ob es sich bereits um „life“ handelt, ist ja gerade die verfassungsrechtliche Frage.
Ausgangspunkt in Deutschland: Mediale und politische Aufmerksamkeit für § 219a StGB
Die aktuelle Debatte in Deutschland rund um § 219a StGB kann im Unterschied dazu als positives Beispiel von Identitätspolitik betrachtet werden. Es ist nicht zu unterschätzen, was für einen immensen Einfluss die von Kristina Hänel angestoßene Debatte um § 219a StGB für die aktuelle Entscheidung im Bundestag hatte. Die Allgemeinmedizinerin wurde 2017 in Gießen zu einer Geldstrafe verurteilt, doch anstatt diese zu zahlen und Schwangerschaftsabbrüche weiterhin im Stillen durchzuführen, wandte sie sich an die Medien und schaffte so gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Kriminalisierung von jenen, die rechtmäßig Schwangerschaftsabbrüche durchführen.
Kristina Hänel traf damit einen Nerv: Wie kann in einer liberalen Gesellschaft ein sogenanntes „Werbeverbot“ gerechtfertigt werden, das Ärzt*innen versagt, sachlich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren? Die Anzeigen, die auf Basis von § 219a StGB eine Vielzahl von Ärzt*innen kriminalisierten, richteten sich gegen jene Personen, die für die Ausführung des im grundrechtlichen Schutzkonzept enthaltenen staatlichen Versorgungsauftrags unerlässlich sind – Versorgungsauftrag einerseits, Kriminalisierung sachlicher Information andererseits.
Doch war es nicht allein dieser evidente Wertungswiderspruch, der die gesellschaftliche Debatte befeuerte. Immer mehr Ärzt*innen berichteten über ihre Erfahrungen mit Abtreibungsgegner*innen. Die Berichte jener Ärzt*innen, die trotz aller Anfeindungen weiterhin Schwangerschaftsabbrüche vornahmen und so die Gesundheit schwangerer Personen sicherstellten, lenkte den Blick auf den Missstand der mangelnden Versorgung. Schwangere Personen berichteten, dass sie nur mit immensem Aufwand Ärzt*innen für einen Abbruch finden konnten. Nach der oben angeführten Definition von Identitätspolitik waren demnach, neben den ungewollt schwangeren Personen, die Ärzt*innen selbst identitätspolitisch aktiv, die als (Abtreibungs-)Ärzt*innen spezifische Erfahrungen in den Diskurs einbrachten und politische Forderungen erhoben.
Der Diskurs um § 218 StGB: (Ungewollt) Schwangeren Personen zuhören
Die Streichung von § 219a StGB ist aus identitätspolitischer Perspektive freilich nur ein Anfang. Denn wenn wir Betroffenen zuhören, wird deutlich, dass die aktuelle Lage in Deutschland gänzlich unzureichend ist. Wegen der anhaltenden Stigmatisierung ungewollt schwangerer Person und der Tabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs durch § 218 StGB wird bereits seit Jahrzehnten die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gefordert (was nicht gleichzusetzen ist mit Deregulierung). Nach allen bekannten empirischen Studien lassen sich ungewollt Schwangere durch ein restriktives Abtreibungsrecht nicht von Schwangerschaftsabbrüchen abhalten. Relevant für die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch sind demgegenüber eine Vielzahl von Faktoren. Hier bedarf es weiterer Studien zur Entscheidungsfindung ungewollt Schwanger spezifisch zum deutschen Raum. Erste Daten weisen darauf hin, dass die Entscheidung für einen Abbruch aus höchst persönlichen Gründen erfolgt, die nur schwer zu beeinflussen sind. Das Alter der Schwangeren ist ein zentrales Kriterium: Sind sie älter und haben bereits Kinder, wird die Schwangerschaft häufiger beendet, ebenso, wenn Frauen besonders jung sind. Fragen der ökonomischen Sicherheit und die Stabilität der Partnerschaft sind gleichfalls von großer Bedeutung. Unerlässlich bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs ist, diese vielfältigen Gründe zu berücksichtigen, was nur möglich ist, wenn (ungewollt) schwangere Personen in der Debatte zu Wort kommen.
Doch wie können solche kollektiven Erfahrungen rechtlich Berücksichtigung finden? Zum einen tritt im Lichte eines materialen Gleichheitsverständnisses hervor, wie die in § 218 StGB postulierte „Austragungspflicht“ Rollenvorstellungen und geschlechtliche Hierarchisierungen zementiert. Die Strafausnahmegründe des § 218a StGB räumen der ungewollt Schwangeren unter bestimmten Voraussetzungen zwar die Möglichkeit ein, sich für einen Abbruch zu entscheiden, die grundsätzliche Rechtspflicht zur Austragung bleibt dabei jedoch bestehen. Diese könne, so das Bundesverfassungsgericht, nicht „im Rahmen der Normalsituation einer Schwangerschaft“ ausgesetzt werden, vielmehr „müssen Belastungen gegeben sein, die ein solches Maß an Aufopferung eigener Lebenswerte verlangen, daß dies von der Frau nicht erwartet werden kann“ (BVerfGE 88, 203 (257). Schwangerschaft wird so als „Normalsituation“ konstruiert, unabhängig von der inneren Einstellung der Schwangeren. Neun Monate (ungewolltes) Schwangersein und Geburt können nach dieser Konzeptionierung legitimerweise von Schwangeren erwartet werden. Ein solches Verständnis von Schwangerschaft und idealem Frau-Sein ist mit einem materialen Gleichheitsverständnisses nicht in Einklang zu bringen, das Art. 3 Abs. 2 GG als Dominierungsverbot (Ute Sacksofsy) bzw. als Hierarchisierungsverbot (Susanne Baer) versteht. Ein solches materiales Gleichheitsverständnis ist zwar noch keineswegs herrschende Meinung in der Literatur, doch hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Nachtarbeitsverbot von 1992 bereits einen solchen Gleichheitsbegriff zugrunde gelegt (siehe zuletzt auch die Triage-Entscheidung).
Auch in der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind die kollektiven Erfahrungen Schwangerer zu berücksichtigen: So kann bereits angezweifelt werden, ob § 218 StGB Schwangerschaftsabbrüche tatsächlich verhindert und damit (in der Logik des Bundesverfassungsgerichts) dem Schutz des ungeborenen Lebens überhaupt zu dienen geeignet ist. Weitere, darüber hinausgehende Funktionen des § 218 StGB, wie die Erhaltung eines spezifischen Moralverständnisses, sind überhaupt nur schwer mit dem ultima ratio Gedanken des Strafrecht zu vereinbaren und verkennen zudem die fundamentale Bedeutung des Schwangerschaftsabbruchs als legitime Handlungsoption. Der Schwangerschaftsabbruch muss nämlich, im Lichte von sexueller und reproduktiver Gesundheit betrachtet, als Teilgehalt der Menschenrechte eingeordnet werden (so z.B. UN-Frauenrechtsausschuss, General recommendation Nr. 35 (2017), Bericht über die Lage im Hinblick auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte in der EU im Zusammenhang mit der Gesundheit von Frauen (2020/2215(INI), WHO, Abortion Care Guideline (2022)). Der strafrechtliche Rahmen des Schwangerschaftsabbruchs ist mit einem solchen menschenrechtsbasierten Zugang zu reproduktiven Rechten nur schwer zu vereinbaren. Solange schwangere Personen grundsätzlich wegen ihrer Entscheidung mit einem strafrechtlichen Unrechtsurteil des Staats konfrontiert werden, wird die fundamentale Bedeutung der Verbindung zwischen körperlicher Autonomie und der eigenen Identität verkannt.
Milder für die betroffenen Frauen und nach der Studienlage auch effektiver wäre es demgegenüber, ungewollte Schwangerschaften durch kostenlose Verhütungsmittel, Investitionen in Familienplanungsdienste und Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken. Außerdem kann beim Eintreten einer (ungeplanten) Schwangerschaft ein Zusammenhang zwischen Abtreibungen und der Erfahrung von partnerschaftlichen Gewalt festgestellt werden: Die Motivation, eine Abtreibung durchzuführen, kann mit dem Wunsch zusammenhängen, sich aus einer missbräuchlichen Beziehung lösen zu wollen. Eine Neuregelung könnte über grundlegende gleichstellungspolitische Maßnahmen die freie Entscheidung für eine Schwangerschaft erleichtern und so zugleich dem Staatsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG nachkommen. Das reproduktive Recht, sich für Kinder zu entscheiden, muss grundsätzlich auch für solche Personen ermöglicht werden, die sich etwa aufgrund finanzieller und beruflicher Überlegungen gegen Kinder entscheiden. Dabei sind bevölkerungspolitische Maßnahmen abzulehnen (siehe dazu Sacksofsky) ebenso wie Gesetze, die überkommene Rollenverteilungen verstärken.
Betroffenen in einem rechtswissenschaftlichen Diskurs Gehör zu schenken kann somit auch dogmatische Anknüpfungspunkte bieten. Wie in der Debatte über § 219a StGB könnten neue Perspektiven eröffnet werden, indem der Blick auf strukturelle Missstände gelenkt wird. Ein Festhalten am „Kompromiss“ von 1993 (der gar keiner war) aus Angst vor gesellschaftlicher Spaltung verkennt die Relevanz des Schwangerschaftsabbruchs und seine untrennbare Verknüpfung mit der gesellschaftlichen Stellung von Frauen. Die Möglichkeit, selbst über Reproduktion und den weiteren Verlauf des eigenen Lebens zu entscheiden, ist keine Nebensache. Die Frage, ob eine Schwangerschaft abgebrochen oder fortgeführt wird, kann das Leben fundamental verändern, Lebensplanungen umwerfen – es gibt kaum Entscheidungen, die privater und mehr mit der eigenen Identität verknüpft sind. Die immense Bedeutung dieser Entscheidung lässt sich daran ermessen, welche Risiken eingegangen werden, um Schwangerschaften zu beenden, selbst unter Bedingungen strikter Kriminalisierung. Die aktuelle deutsche Regelung ist keinesfalls neutral, sondern zementiert vielmehr die Erwartungshaltung der Austragung, ohne hinreichend evidenzbasierte Anhaltspunkte für eine tatsächlichen Schutz des ungeborenen Lebens zu bieten. Sie ist deswegen reformbedürftig, und alles spricht für eine Entkriminalisierung.