Geisterjagd auf das Gespenst des bösen Carl: Eine Anmerkung zu Max Steinbeis’ Turiner Beobachtungen
Neulich fielen mir zwei Sätze in die Hand, die ich vor ein paar Jahren geschrieben habe. Etwas kryptisch, dachte ich. Aber richtig.
Das dachte ich jetzt wieder, als ich Max’ Eindrücke von Gunther Teubners und Anna Beckers’ Turiner Konferenz über “Societal Constitutionalism” las (einen ausführlichen Konferenzbericht gibt’s in der F.A.Z. vom 23. Mai 2012). Christian Joerges beschwor da angesichts der europäischen Krise offenbar nicht nur rhetorisch den bösen Geist von Carl Schmitt herauf – das Auditorium hörte es auch gleich gewaltig poltern, und unversehens wähnten die versammelten Luhmannianer das Gespenst des Plettenberger Staatsrechtslehrers unter den Tagungsgästen, “als mitten in Joerges’ Vortrag hinein der Saal plötzlich von ohrenbetäubend lauten Hammerschlägen erschüttert wurde”.
Aber hat Schmitt den Kampf um die Deutungshoheit des europäischen Integrationsprojekts tatsächlich für sich entschieden? Läßt sich bei Carl Schmitt nachlesen, was wir über die Gefahren der Auflösung des Staatlichen im Supranationalen, über die politische Gestalt Europas und seine Krise jetzt wissen wollen?
Christian Joerges hat es schon vor einigen Jahren am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz unternommen, die verschlungenen Einflußlinien der von Schmitt vorgelegten Großraumtheorie auf das europäische Integrationsprojekt der Nachkriegszeit nachzuzeichnen. Dabei traten “Darker Legacies” zutage, die vielfach noch immer einer couragierten und differenzierten, methodisch anspruchsvollen und disziplinär reflektierten Untersuchung harren. (Siehe zu Joerges’ Projekt auch das Special Issue des German Law Journal “European Integration in the Shadow of Europe’s Darker Pasts: The Darker Legacies of Law in Europe revisited”).
Nicht nur Carl Schmitt beeinflusst als “Dunkler Erblasser” die heutige Gestalt eines prekär gewordenen technokratischen Exekutivföderalismus, wie er sich seit 1950 in Europa entwickelt hat – und entwickelt wurde. Von Rechtswissenschaftlern, Politikern, Richtern, Verwaltungsbeamten. Es lohnt sich der Blick auf die Europarechtler und Staatsrechtslehrer der 50er und 60er Jahre: auf Hans Peter Ipsen, Ernst Forsthoff – und, vergleichend, auf ihre Kollegen in Europa und der restlichen westlichen Hemisphäre. Dabei ist Historisierung angesagt, nicht Geisterbeschwörung. Das würde ich heute noch deutlicher postulieren als ich es hier getan habe.
Womit wir bei den beiden wiedergefundenen Sätzen wären, die ursprünglich in der F.A.Z. vom 19. Juli 2006 zu lesen waren:
“Vorsicht ist geboten, in Schmitts Texte nicht zu viel über gegenwärtige politische Konstellationen hineinzulesen. Doch er tritt uns dort entgegen, wo die Zukunft beginnt: bei der Beschäftigung mit der Geschichte.”
Foto:
Detail des Tympanon, Sainte-Foy de Conques (Aveyron): Der Teufel führt die Verdammten in den Schlund des Leviathan
Nick Thompson, flickr, Creative Commons