Gelebte Demokratie
Ein Brief aus Atlanta
Heute wählen die USA, wofür sie stehen. Während sich Menschen im ganzen Land vor den Wahllokalen versammeln, schaut die Welt auf die Vereinigten Staaten. Oft richtet sich der Blick von außen eher auf das Kuriose der USA, wir sind da keine Ausnahme. Bei all diesen Eigenarten mag es illusorisch wirken, dass sich die USA selbst noch immer als Leitstern der Demokratie verstehen. Für manche bestätigt der Trumpismus und die ihn treibende Ideologie weißer Vorherrschaft nur eine vermeintlich größere Wahrheit: dass die USA nie als multiethnische Demokratie gedacht gewesen seien und sich dieser Idee auch nie verpflichtet hätten.
Dies wäre jedoch ein nur unvollständiges und ungerechtes Bild des Landes und seiner Menschen. Vor allem übersieht es den langjährigen Kampf der Amerikaner:innen, ihr zwar nicht perfektes, aber zumindest immer weniger unperfektes demokratisches System weiter auszubessern. Dieser Kampf um die Demokratie ist Teil des Gründungsmythos der USA. Und er wird mit neuer Dringlichkeit geführt, seit Trump 2016 zum ersten Mal Präsident wurde. Trumps Aufstieg und seine ständigen Angriffe auf Amerikas Institutionen und Demokratie haben zahlreiche Amerikaner:innen mobilisiert, die derzeit unermüdlich auf zwei Ziele hinarbeiten: Menschen zur Wahl zu motivieren und die Integrität des Wahlverfahrens zu schützen.
Um uns den Kampf um die Demokratie von innen anzusehen, sind wir letztes Wochenende nach Atlanta, Georgia gereist. Georgia war früher eines der Zentren der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die 1965 den Voting Rights Act erkämpfte. Lange Zeit war der südöstliche Bundesstaat eine republikanische Hochburg – bis 2020, als Biden mit nur 11.000 Stimmen Vorsprung gewann. Das hat Georgia zu einem entscheidenden Swing State gemacht. Für viele Demokraten in Georgia hat sich seitdem die Bedeutung ihrer Stimme grundlegend gewandelt: War die Wahl zuvor wegen des verzerrenden Electoral College bestenfalls ein symbolischer Akt, kann sie nun über das Schicksal des gesamten Landes entscheiden – und damit über Weltpolitik.
Demokratie als Hürdenlauf
Für die freiwilligen Helfer:innen der Demokraten in Georgia bedeutet der neue Einfluss als Swing State auch mehr Verantwortung. Sie wissen, welchen Unterschied ein paar Tausend Stimmen machen können. Ihre Arbeit begann nicht heute, am Wahltag – sondern Monate, sogar Jahre zuvor. Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens können die Amerikaner:innen bereits seit mehreren Wochen wählen, über 75 Millionen Stimmen wurden so schon abgegeben. Die heutigen Stimmzettel sind also nur der letzte Schritt in einem viel längeren Wahlverfahren. Zweitens ist es wirklich nicht einfach, in Georgia zu wählen. Im Jahr 2020 unterzeichnete der republikanische Gouverneur ein Gesetz, das die Wähler:innen verpflichtet, einen Führerschein oder Reisepass vorzulegen: beides Dokumente, die viele – oft marginalisierte – Wähler:innen nicht besitzen. Außerdem gibt es jetzt eine kürzere Frist zur Beantragung der Briefwahlunterlagen und pro Bezirk weniger Wahlurnen für die vorzeitige Stimmabgabe. Damit wird die Wahl für Menschen in Georgia zu einem immer anstrengenderen Hürdenlauf.
Hinzu kommen die Hürden, die ohnehin alle US-amerikanischen Wähler:innen überwinden müssen. So müssen sich alle Wahlberechtigten sich zuerst zur Wahl registrieren, was die Stimmabgabe in ein potenziell abschreckendes Opt-in-Verfahren verwandelt.
Nach der Registrierung gibt es je nach Bundesstaat unterschiedliche Möglichkeiten zu wählen: durch vorzeitige Stimmabgabe vor Ort, Briefwahl oder die persönliche Stimmabgabe am Wahltag. Wahltag ist immer ein Dienstag – eine zusätzliche Hürde, weil die meisten Menschen dienstags arbeiten. Doch es gibt noch weitere: neue Registrierungsanforderungen, unklare Vorgaben, aber auch Schwierigkeiten, das eigene Wahllokal zu finden, und wenig Zeit und Ressourcen, um dorthin zu kommen. Deshalb ist die Arbeit von Freiwilligen so wichtig: In Hotlines beantworten sie Fragen und erklären die neuen Anforderungen, gehen von Tür zu Tür, um Menschen zum Wählen zu ermutigen und sie zu ihrem Wahllokal zu lotsen, sie bieten sogar Fahrtdienste zum Wahllokal (und wieder zurück) an.
Demokratie als Bewegung
Um diese Arbeit zu koordinieren, treffen sich täglich freiwillige Helfer:innen der Demokraten in Atlanta, in einem unscheinbaren Gebäude im Wohngebiet: das demokratische Hauptquartier. Draußen weisen Schilder den Weg zum Parkplatz, Menschen in HARRIS-WALZ T-Shirts halten den Verkehr an, damit die Freiwilligen sicher über die Straße kommen. Drinnen herrscht geschäftiges Treiben, die Leute sind gut drauf, aber auch resolut, Pizzastück in der einen und Klemmbrett in der anderen Hand. Die Wände sind mit Plakaten tapeziert, auf denen Slogans wie „Win the Whole Dem Thing“ und „STOP TRUMP“ stehen. Die Wahlhelfer:innen sind jung und alt, manche schon befreundet, andere lernen sich gerade erst kennen. Eine weiße berufstätige Mutter, die von zu Hause per Hotline erklärt, wie und wo man wählen kann; ein junger Uniabsolvent, der später selbst in die Politik gehen möchte; zwei Freunde aus San Francisco und Seattle, die sich für den Wahlkampf am Wochenende ein Auto gemietet haben; eine junge schwarze Frau, die jeden Tag früh Feierabend macht, um neue Freiwillige im Büro zu registrieren. Sie alle sind hier, damit andere wählen können – und so über das Schicksal der USA entscheiden.
Trotz der recht ausgelassenen Stimmung im Hauptquartier sind die Wahlhelfer:innen misstrauisch, als wir mit ihnen sprechen wollen. Viele sind vorsichtig geworden über die jahrelangen Einschüchterungsversuche der Republikaner, sie fühlen sich nicht mehr sicher. Als sich dann doch einer der Freiwilligen bereit erklärt, mit uns zu sprechen, werden wir durch lange, geschäftige Flure geführt, vorbei an vollen Räumen, in denen die Freiwilligen telefonieren, Daten sammeln und Essen verteilen. Das Hauptquartier ist nicht nur das operative Zentrum der Kandidatenkampagne, es ist auch ein Begegnungsort. Die Menschen kümmern sich umeinander, leben in Gemeinschaft. Auch uns erinnern sie fürsorglich daran, genug zu trinken und zu essen.
Demokratische Bewegungen leben, wie alle Bewegungen, von einem Gemeinschaftsgefühl; aber sie werden auch von einem gemeinsamen Ziel getragen. Im vorderen Raum hängt ein großes Plakat mit der Frage: „Was ist dein Warum?“ Darunter sind ganz unterschiedliche Antworten aufgeschrieben: „Chancengleichheit“, „reproduktive Freiheit“, „gesunder Menschenverstand“ auch „Bundesrichter“, „kleine Unternehmen“ und „Anstand“. Für viele war die Wahl 2016 ein Schock, den sie in Energie wandeln wollten – Handeln statt Lähmung. Die Freiwilligenarbeit für die Demokratische Partei hat ihnen hier eine Aufgabe, eine Gemeinschaft gegeben. Viele beschreiben das Engagement als eine Art gesunde Sucht: „Es ist ansteckend“.
Demokratie als Praxis
Präsidentschaftskandidat:innen können nicht ohne die Hilfe von Freiwilligen gewinnen: Menschen – überwiegend Frauen – die oft nebenbei einen Vollzeitjob und eine Familie managen. Einige nehmen sogar eine berufliche Auszeit und reisen aus dem ganzen Land an – aus Boston, Chicago, Seattle, San Francisco – um über Wochen oder gar Monate in Georgia und anderen Swing States auszuhelfen. Gegen die republikanischen Obstruktionsversuche hat sich bei den Demokraten ein derartiger aufwändiger Widerstand formiert, dass Berufspolitiker:innen und bezahlte Wahlkampfhelfer:innen allein ihn nicht mehr leisten könnten. Dabei ist das grundlegendste demokratische Verfahren – die Wahl – zu einer landesweiten Bewegung geworden, bei der sich tausende Menschen über Monate hinweg dafür einsetzen, dass jede Stimme abgegeben und gezählt wird.
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Doch obwohl hier so viele die Demokratie verteidigen, fiel das Wort „Demokratie“ nur selten. Es steht auch nicht in den Strategien, mit denen die Freiwilligen Wähler:innen überzeugen sollen. Stattdessen fragen sie die Wähler danach, was sie beschäftigt und warum sie noch nicht gewählt haben, und sie erklären ihnen, was Harris’ Politik bringen wird. Um Menschen zum Wählen zu motivieren, muss man ihnen zuhören und sie persönlich ansprechen. Die Rede von abstrakten Idealen wirkt dabei nicht nur fehl am Platz, sondern sogar kontraproduktiv.
Gleichzeitig ist vieles von dem, was die Freiwilligen hier machen (etwa das sogenannte Canvassing, bei dem sie von Tür zu Tür gehen und mit Wähler:innen reden, die ihre Stimme noch nicht abgegeben haben) gewissermaßen gelebte Demokratie. Demokratie ist letztlich nicht die Summe von Institutionen und auf Zeit gewählten Einzelpersonen. Demokratie ist eine gemeinsame Praxis, die Mut und Hingabe verlangt, um gelebt zu werden – und immer wieder den (wenn auch hoffnungslos wirkenden) Versuch, auf den anderen zuzugehen (selbst wenn einem die Nachbarin die Tür vorm Gesicht zuschlägt).
Vom Zählen zur Zertifizierung
Sind die Wähler:innen endlich im Wahllokal, hört der Kampf um die Demokratie jedoch nicht auf – hier wird weiter obstruiert, und die Freiwilligen müssen dagegen mobilisieren.
Nachdem die Stimmen abgegeben wurden, müssen sie erfasst und gezählt werden, also maschinell eingegeben. Bei jedem Schritt sind Beobachter:innen beider Parteien anwesend. Die Wahlschützer:innen der Demokratischen Partei arbeiten unermüdlich, bis zu 14 bis 16 Stunden am Stück, und überwachen die Integrität und Fairness des gesamten Wahlverfahrens. Treten Unstimmigkeiten auf, werden sogenannte Adjudication Panels angerufen, die sich aus republikanischen und demokratischen Wahlbeobachter:innen zusammensetzen. Sie sammeln Beweise und stellen sicher, dass das Wahlverfahren so reibungslos wie möglich abläuft. So wie einige der Freiwilligen, die wir in Georgia besucht haben, stehen viele rund um die Uhr auf Abruf bereit, um rechtliche Fragen zu klären und sie dem sogenannten Boiler Room zu melden. Der Boiler Room besteht wiederum aus Rechtsexpert:innen, die darüber entscheiden, ob das Problem weiter eskaliert werden soll oder nicht – bis hin zu einer gerichtlichen Verhandlung.
Sind alle Stimmen gezählt, müssen sie noch zertifiziert werden. In Georgia dauert der Zertifizierungsprozess bis zum 11. November. Verantwortlich ist der republikanische Secretary of State (Innenminister) Georgias, Brad Raffensberger. Trotz seiner Parteizugehörigkeit ist er dafür bekannt, sich an die Regeln zu halten, Falschinformationen zu bekämpfen und versprach „faire, schnelle und genaue“ Wahlergebnisse.
Amerikas Entscheidung
Viele der Menschen, mit denen wir gesprochen haben, nutzen ihren Aktivismus als Ventil für ihre Enttäuschung über Institutionen, Verfahren und Politiker:innen. Sie wissen, dass demokratische Institutionen nur so gut und demokratisch sein können wie die Menschen dahinter. Sie wissen auch, dass organisiertes ziviles Engagement der wohl effektivste Weg ist, die autoritäre Übernahme von demokratischen Institutionen zu verhindern – wohlgemerkt von Institutionen, die ursprünglich aus eben jenem zivilen Engagement entstanden sind.
Zahllose Amerikaner:innen arbeiten vor Ort, um sicherzustellen, dass ihre Stimme im wahrsten Sinne des Wortes zählt. Sie kämpfen gegen die republikanischen Versuche, ihnen die Wahl zu nehmen – und damit die Möglichkeit, sich sowohl als Individuen als auch als Bürger:innen frei zu entfalten. Jede Person soll ihre Stimme abgeben können und jede Stimme zählen, egal, wer sie abgibt und für wen. Das ist es, was für die Freiwilligen zählt. Heute, um 19 Uhr Eastern Standard Time (Mittwoch um 1 Uhr deutscher Zeit), werden die Freiwilligen in Atlanta ihre Klemmbretter und Stifte, ihre Telefone, Schilder, Banner und Flyer fallen lassen, nach Tagen, Wochen und Monaten intensiver Arbeit. Der erste Teil, nämlich Menschen an die Wahlurne zu bringen, mag getan sein. Doch der zweite Teil beginnt erst, wenn am Dienstagabend die Wahllokale schließen: Dann müssen die Freiwilligen dem republikanischen Angriff auf das demokratische Wahlsystem standhalten, wenn die Stimmen zertifiziert werden.
Genauso wie die Menschen, mit denen wir dieses Wochenende in Georgia gesprochen haben, sind wir heute „nauseously optimistic“, während Amerika wählt. Egal, wer „gewinnt“: Die US-amerikanische Demokratie ist so viel mehr als nur das Weiße Haus – das hat der Blick von außen ins Innere gezeigt.
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Ihr
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