Gemischte Signale für das nationale Klimarecht
Die Klimaentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Die Klima-Entscheidungen der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind wegweisend. Auf den ersten Blick ist jedoch nicht vollkommen klar, wie sie sich auf das nationale Klimarecht der Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auswirken werden. Haben die strategischen Klimaklagen den von ihnen erwünschten Durchbruch erzielt, der das nationale Klimarecht revolutionieren wird? Oder kommt denjenigen Anteilen der Entscheidungen größeres Gewicht zu, in denen die Große Kammer die Individualbeschwerden abwies?
Milanović hat das Urteil im Verfahren Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland zu Recht als „sehr ausgefeilt“ („very sophisticated“) eingeordnet. Die drei Entscheidungen enthalten zum einen Passagen, die der EMRK eine wichtige Rolle dabei zuweisen, die Klimaschutzanstrengungen der Vertragsstaaten zu kontrollieren. Andere Randnummern verteidigen staatliche Souveränität und den Einschätzungsspielraum demokratischer Gesetzgeber. Insgesamt senden die Entscheidungen durchaus „gemischte Signale“. Dies ist nicht ungewöhnlich, macht man sich bewusst, dass das Gericht fast einstimmig geurteilt hat. Die richterliche Entscheidungsfindung bedurfte sicherlich einiger Kompromisse. Angesichts dieses komplexen Gesamtbildes soll dieser Blogbeitrag die Folgen der drei Entscheidungen für die nationale Klimapolitik der EGMR-Vertragsstaaten näher beleuchten.
Menschenrechte und Klimaschutz sind verbunden
Die wichtigste Aussage der Großen Kammer ist zweifelsohne die Anerkennung in Verein KlimaSeniorinnen Schweiz, dass aus dem Recht auf Privat- und Familienleben (Artikel 8 EMRK) Schutzpflichten („positive obligations“) zur Bekämpfung des Klimawandels folgen (Rn. 538 ff.). Dies wird auch die Auslegung nationaler Menschenrechte in vielen Rechtsordnungen beeinflussen. Das gilt beispielsweise für Österreich, wo die EMRK Verfassungsrang genießt. In Deutschland ist über den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ein indirekter Einfluss auf die Grundrechte des Grundgesetzes zu erwarten.
Wahrscheinlich müssen die meisten Vertragsstaaten ihr Klimarecht nicht verschärfen
Weniger klar ist allerdings, ob viele EMRK-Vertragsstaaten im Zuge der Klimaentscheidungen ihr bestehendes Klimarecht verschärfen müssen. Denn das Gericht hat in Verein KlimaSeniorinnen Schweiz unterschieden: zwischen dem staatlichen Bekenntnis zur Notwendigkeit, den Klimawandel und seine schädlichen Auswirkungen zu bekämpfen, und der Festlegung der hierfür erforderlichen Ziele (Rn. 543) (also, „ob“ Vertragsstaaten konsistenten Klimaschutz verfolgen) auf der einen Seite; den Mitteln zur effektiven Anwendung dieses Rechtsrahmens, um die gesetzten Klimaziele zu erreichen, den „operational choices and policies“ (Rn. 543) („wie“ Vertragsstaaten Klimaschutz betreiben), auf der anderen Seite. Im erstgenannten Fall haben Vertragsstaaten einen „reduzierten“ Einschätzungsspielraum, im zweitgenannten ist er hingegen „weit“ (Rn. 543, 549).
Die Große Kammer konzentrierte sich auf die erste Frage, also, „ob“ die Schweiz sich hinreichend zur Notwendigkeit der Klimawandelbekämpfung bekannt hat. Das Gericht entwickelte fünf materielle Kriterien zur Bewertung des nationalen Klimarechts (Rn. 550, sowie weitere prozedurale Kriterien in Rn. 553 ff., siehe Bönnemann und Tigre). Zusammengefasst müssen Vertragsstaaten vorausplanen und wissenschaftsbasiert ihre Treibhausgasemissionen quantifizieren, Treibhausgasbudgets und Emissionsreduktionspfade definieren sowie angemessene Zwischenziele setzen. Sie müssen Nachweise über die Einhaltung ihrer Emissionsreduktionsziele erbringen und diese Ziele kontinuierlich aktualisieren sowie effektiv umsetzen. Allerdings verfolgen viele Staaten einen solchen Ansatz bereits seit einigen Jahren. Hierzu verpflichtet insbesondere das Unionsrecht die EU-Mitgliedstaaten, unter anderem nach dem Europäischen Klimaschutzgesetz und der Governance-Verordnung.
Unbequeme Fragen zu Treibhausgasbudgets
Ich stimme Hilson zu, dass die gerichtliche Anforderung, ein nationales Treibhausgasrestbudget oder eine andere, äquivalente Quantifizierungsmethode für zukünftige Emissionen festzulegen (Rn. 550), für die Vertragsstaaten unter den fünf Kriterien voraussichtlich am schwierigsten zu erfüllen sein wird. Unter einem Treibhausgasrestbudget ist eine Festlegung über das Gasvolumen zu verstehen, das in der Zukunft insgesamt noch ausgestoßen werden kann. Der IPCC schätzt regelmäßig das globale Treibhausgasrestbudget ab, also wieviel Treibhausgas weltweit insgesamt noch ausgestoßen werden darf, ohne dass sich die globale Durchschnittstemperatur um 1.5 bzw. 2 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau erhöht. Daraus geht jedoch nicht hervor, welcher Anteil des globalen Budgets auf die einzelnen Staaten entfällt. Diese Verteilung würde dann nationalen Treibhausgasrestbudgets ergeben, also wieviel Treibhausgas insgesamt von dem Territorium eines Staates noch ausgestoßen werden darf, um die Pariser Temperaturziele zu halten. Der Verteilungsschlüssel für das globale Treibhausgasrestbudget ist jedoch eine hochumstrittene Frage der Debatte um Klimagerechtigkeit und des Grundsatzes der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten. Die meisten Staaten haben ihr nationales Treibhausgasrestbudget bisher auch nicht unilateral definiert. Man könnte die Große Kammer dahingehend verstehen, dass die Vertragsstaaten hierzu nun Farbe bekennen müssen. Andererseits prüft die Kammer das Vorliegen der vorbezeichneten fünf Kriterien nur in der Gesamtschau (Rn. 551). Schwächen bei der Quantifizierung eines nationalen Treibhausgasrestbudgets müssen also nicht zwangsläufig eine Überschreitung des Einschätzungsspielraums nach der EMRK bedeuten. Es ist jedenfalls überraschend, dass das Gericht selbst wenig auf die Problematik der Klimagerechtigkeit und das Verhältnis zu Entwicklungsländern eingeht. Auf die Vertragsstaaten dürften unbequeme Fragen zu dieser Thematik zukommen.
Weiter Einschätzungsspielraum über Klimaschutzambition
Zurückhaltend war die Große Kammer, was staatliche Klimaschutzambitionen angeht. Sie entschied, dass die Vertragsstaaten Maßnahmen für die substantielle und progressive Reduktion von Treibhausgasemissionen treffen müssen, um „grundsätzlich“ netto-Klimaneutralität in den nächsten drei Jahrzehnten zu erreichen (Rn. 548). Man fragt sich, unter welchen Umständen die Staaten von diesem lediglich „grundsätzlichen“ Ziel abweichen dürfen. Im Übrigen ist es für die Große Kammer unter Rückgriff auf das Pariser Übereinkommen „offensichtlich“, dass jeder einzelne Staat aufgerufen ist, seinen angemessenen Pfad zur Klimaneutralität selbst zu definieren (Rn. 547). Es scheint also, dass die Staaten ihr Ambitionsniveau selbst festlegen dürfen – solange es einen insgesamt effektiven Klimaschutzrahmen gibt, der sämtlichen oben genannten Maßstäben genügt. Es verbleibt damit ein substantieller Spielraum.
Staaten können zwischen den unterschiedlichen Klimaschutzinstrumenten wählen
Der staatliche Einschätzungsspielraum ist sogar „weit“, was die Wahl konkreter Klimaschutzinstrumente betrifft, also die „operational choices and policies“ (Rn. 543, 549). Es bleibt den Vertragsstaaten folglich weitgehend überlassen, sich zwischen marktwirtschaftlichen Ansätzen, ordnungsrechtlichen Instrumenten und grünen Beihilfen zu entscheiden – und wie sie die sozialen Belastungen, aber auch die entstehenden Verbesserungen von Lebensbedingungen in der anstehenden Transformation verteilen. Gerade zu diesen politisch hochumstrittenen Fragen, in der sich Streit über Klimaschutz in der Realität entzündet, haben die Entscheidungen wenig zu sagen.
Extraterritoriale Hoheitsgewalt und „embedded emissions“
Weiterhin verneinte die Große Kammer eine Bindung der Vertragsstaaten für extraterritoriale Auswirkungen der von ihrem Territorium ausgehenden Treibhausgasemissionen (siehe Rocha). Sie lehnte es in Duarte Agostinho ab, für die Voraussetzung der „Hoheitsgewalt“ nach Artikel 1 EMRK eine neue Ausnahme für Extraterritorialität zu schaffen (Rn. 210, 213). Allerdings kann eine solche Bindung durchaus aus nationalen Grundrechten folgen (vgl. der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts, Rn. 101, 173 ff.).
Jedoch erwog die Große Kammer eine extraterritoriale Pflicht in Verein Klimaseniorinnen Schweiz für die sogenannten „embedded emissions“. Hierunter verstand sie die im Ausland erzeugten Emissionen, die der Schweiz über den Import von Gütern für den heimischen Gebrauch zugerechnet werden (könnten) (Rn. 275). Für diese wollten die Beschwerdeführerinnen die Schweiz ebenfalls verantwortlich machen. Insoweit sah das Gericht die „Hoheitsgewalt“ nach Artikel 1 EMRK nicht als problematisch an, die bereits durch den schweizerischen Wohnsitz der Beschwerdeführerinnen – und damit territorial – gegeben wäre (Rn. 287). Vielmehr seien „embedded emissions“ eine Frage der materiellen Verantwortlichkeit (Rn. 287). Die Große Kammer ließ sie jedoch unbeantwortet. Es bleibt also offen, ob Vertragsstaaten über den Import von Waren auch für die Emissionen verantwortlich sind, die aus ihrer Produktion im Ausland resultieren. Diese Frage wird voraussichtlich zu weiteren Klimaklageverfahren führen.
Eine Stärkung der Rolle von Umweltverbänden
Den größten Einfluss auf das nationale Klimarecht wird voraussichtlich die Aufwertung der Umweltverbände durch den EGMR haben. Wie an anderer Stelle genauer dargestellt wurde (siehe Sandra Arntz and Jasper Krommendijk), ließ das Gericht unter recht niedrigen Voraussetzungen eine Individualbeschwerde von Umweltverbänden nach Artikel 34 EMRK in Verein KlimaSeniorinnen Schweiz zu – anders als für natürliche Personen und im Unterschied zur bisherigen ständigen Rechtsprechung. Das Gericht äußerte sich allerdings ebenfalls über den Zugang von Umweltverbänden zu nationalen Gerichten nach Artikel 6 EMRK. Die Große Kammer entschied, dass die Schweiz neben Artikel 8 EMRK auch dieses Recht des Umweltverbands Verein Klimaseniorinnen Schweiz verletzt hatte, weil die schweizerischen Verwaltungsbehörden und Gerichte dessen nationalrechtliche Klage nicht ernsthaft genug geprüft hatten. Tatsächlich hatten sie sich damit begnügt, die zugleich erhobenen Klagen von natürlichen Personen (und Mitgliedern des Vereins) zu prüfen und die Klagebefugnis des Umweltverbands schlicht offengelassen (Rn. 28 ff., 34 ff., 52 ff.).
Das war aus Sicht der Großen Kammer zu wenig. Zur Begründung dieser Anforderung an das nationale Prozessrecht verwies sie auf ihre Ausführungen zu Artikel 34 EMRK: Die Komplexität des Klimawandels und das Erfordernis, diejenigen hinreichend vor Gericht zu repräsentieren, die in der Zukunft unter den Folgen des Klimawandels leiden werden, verlange nach einer starken Rolle von Umweltverbänden – und zwar eben auch im nationalen Recht (Rn. 614, 622). Der EGMR ist also offenbar bereit zu prüfen, ob die Vertragsstaaten den Umweltverbänden in ihrem nationalen Recht eine ähnlich hervorgehobene Rolle vor Gericht zuweisen, wie dies der EGMR nun für die EMRK-Individualbeschwerde vorsieht. Dabei greift der EGMR auf die Aarhus-Konvention zurück (Rn. 491). Offen bleibt, ob es genügt, wenn nationale Gerichte die Klagebefugnis von Umweltverbänden ernsthaft prüfen (selbst, wenn sie die Klagebefugnis letztlich im Ergebnis mit angemessener Begründung ablehnen), denn der Vorwurf gegen die Schweiz zielte vorrangig auf die praktisch unterbliebene Auseinandersetzung mit dieser Frage. Einschränkend stellte der EGMR weiterhin klar, dass Artikel 6 EMRK kein Recht vermittelt, vor nationalen Gerichten legislative Akte (wie parlamentarische oder in Volksabstimmung erlassene Gesetze) außer Kraft zu setzen oder zu verwerfen, wenn das nationale Recht dies nicht selbst vorsieht (Rn. 594, 609). Sicher ist allerdings: Das Urteil gibt der Position von Umweltverbänden in nationalen Klimaklageverfahren Rückenwind.
Schlussfolgerungen
Insgesamt sind die Folgen der Klimaentscheidungen der Großen Kammer für die nationalen Rechtsordnungen der EMRK-Vertragsstaaten signifikant. Es sind allerdings nuancierte Entscheidungen, die „gemischte Signale“ senden. Sowohl jene, die sich eine aktivere Rolle von Gerichten für einen strengeren Klimaschutz wünschen, als auch diejenigen, die staatliche und demokratische Einschätzungsspielräume im Klimarecht verteidigen, werden Grund für Lob und Kritik finden. Für einen regionalen Menschenrechtsgerichtshof, der über eine hochpolitische Frage zu entscheiden hatte, ist dies nicht das schlechteste Ergebnis.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine Übersetzung eines auf dem Verfassungsblog erschienenen englischsprachigen Textes.