Gleichstellung ohne Männer in Mecklenburg-Vorpommern?
„Gleichstellung ohne Männer“ (hier) und „Mann kann nicht Gleichstellungsbeauftragter werden“ (hier) bzw. „Mann darf nicht Gleichstellungsbeauftragter werden“ (hier und hier) titeln die Zeitungen zum Urteil des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom letzten Dienstag (10. Oktober 2017). Gerügt wird, dass Gleichstellung „nicht nur Frauensache“ (hier) bzw. kein „reines Frauenthema“ (hier) sei. Und die Kommentarspalten sind einmal mehr voll wütenden Aufruhrs.
Worum geht es?
Das LVerfG M-V hat am Dienstag entschieden, dass § 18 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Gleichstellung von Frauen und Männern im öffentlichen Dienst des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Gleichstellungsgesetz – GlG M-V) vom 11. Juli 2016 (GVOBl. M-V S. 550) verfassungskonform ist. Die Norm regelt, dass die Gleichstellungsbeauftragte von den weiblichen Beschäftigten der jeweiligen Dienststelle aus ihrem Kreise gewählt wird. Gegen diesen Ausschluss männlicher Beschäftigter vom aktiven und passiven Wahlrecht richtete sich die Verfassungsbeschwerde. Der Kläger monierte, das Gleichstellungsgesetz habe sich mit einer Novellierung im Jahre 2016 nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich von einem Frauenförderungs- zu einem Gleichstellungsgesetz entwickelt und ziele insbesondere auf bessere Vereinbarkeit von Sorge- und Erwerbsarbeit für alle Beschäftigten. Insofern fühle er sich durch eine Gleichstellungsbeauftragte, die er nicht wählen könne, nicht repräsentiert.
Das LVerfG M-V sieht in der Normierung des § 18 Abs. 1 Satz 1 GlG M-V zwar eine Ungleichbehandlung. Diese sei aber durch kollidierendes Verfassungsrecht, nämlich konkret den Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG, gerechtfertigt. Die beanstandete Norm diene der Beseitigung strukturell bedingter Benachteiligungen von Frauen. Ungeachtet seiner weitestgehend geschlechtsneutralen Formulierung der Vorschriften sei das GlG M-V nach wie vor in erster Linie auf Frauenförderung gerichtet. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei auch die dem Gesetz zugrunde liegende legislative Einschätzung, dass weibliche Beschäftigte im öffentlichen Dienst in Teilbereichen, insbesondere im Bereich der Führungspositionen, nach wie vor strukturell benachteiligt sind. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit betont das LVerfG M-V den weiten gesetzgeberischen Beurteilungs- und Prognosespielraum. Da das Gesetz schwerpunktmäßig auf den Abbau strukturell bedingter Benachteiligungen von Frauen ziele und eine Gleichstellungsbeauftragte etwa auch die Aufgabe habe, Maßnahmen zum Schutz vor sexueller Belästigung in der Dienststelle zu begleiten, sei es insbesondere auch hinsichtlich der Akzeptanz bei den zu fördernden weiblichen Beschäftigten noch vertretbar, das aktive und passive Wahlrecht den weiblichen Beschäftigten vorzubehalten. Die Gesetzgebungsorgane treffe aber eine Beobachtungspflicht – der sie sich im Gesetz auch bereits unterworfen haben.
Zu betonen ist zunächst, dass das LVerfG M-V keinesfalls – wie teilweise suggeriert – entschieden hat, dass Männer nicht Gleichstellungsbeauftragte sein dürfen. Dazu, ob Männer Gleichstellungsbeauftragte sein oder sich anderweitig für Gleichstellung einsetzen dürfen, verliert das Gericht gar kein Wort. Diesbezüglich ergeben sich aus der Verfassung auch keinerlei Einschränkungen. Die Entscheidung darüber ist letztlich eine politische. Entschieden hat das Gericht, dass es mit Blick auf den aktuellen Stand der Gleichberechtigung und die noch bestehenden strukturellen Benachteiligungen von Frauen derzeit noch nicht gegen die Verfassung verstößt, Männern das passive und aktive Wahlrecht vorzuenthalten.
Mit dem Ergebnis hadern wird, wer entweder in Frage stellt, dass Frauen nach wie vor strukturell benachteiligt sind oder den aus der Verfassung erwachsenden Gleichstellungsauftrag anders versteht als das LVerfG M-V.
Formales vs. materiales Gleichheitsverständnis
In seinem Verständnis des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrages folgt das LVerfG M-V wenig überraschend der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum: Die Verfassung fordert nicht nur formale Gleichheit, also strikte Gleichbehandlung. Diese, vom BVerfG noch in den 1970er und frühen 1980er Jahren vertretene Lesart, fußte auf einer sehr rigorosen Anwendung des Differenzierungsverbots, dass also jegliche Anknüpfung an die Kategorie Geschlecht untersagt ist. Diesem Gleichheitsverständnis scheinen nicht Wenige noch immer anzuhängen. Der Nachteil dieses formalen Gleichheitsverständnisses liegt freilich darin, dass gesellschaftlich bestehende Ungleichheiten unangetastet bleiben und sogar zementiert werden. Tatsächlich zielt die Verfassung aber auf den Abbau gesellschaftlicher Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Der Verfassungsauftrag geht damit deutlich über das formale Gleichheitsverständnis hinaus. Dieses materielle Verständnis machte sich das BVerfG seit den 1980er Jahren zu Eigen. Ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen wurde es dann 1994 in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ In ständiger Rechtsprechung geht das BVerfG davon aus, dass sich aus der Verfassung nicht nur der Auftrag ergibt, Rechtsnormen zu beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchgesetzt werden soll. Ziel ist demnach die Angleichung der Lebensverhältnisse, die Herstellung gleicher Erwerbschancen (BVerfG, Urt. v. 28.01.1992 – 1 BvR 1025/82 -, BVerfGE 85, 191, 207, Rn. 54 und Beschl. v. 18.11.2003 – 1 BvR 302/96 -, BVerfGE 109, 64, 89, Rn. 111) und die Überwindung tradierter Rollenverteilungen (BVerfG, Beschl. v. 24.01.1995 – 1 BvL 18/93 -, BVerfGE 92, 91, 109, 112, Rn. 65, 76 und Beschl. v. 25.10.2005, – 2 BvR 524/01 -, BVerfGE 114, 357, 364, Rn. 25).
Über berufliche Frauenförderung hat das BVerfG bislang noch nicht entschieden. Das LVerfG M-V urteilt jetzt in Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung des BVerfG, dass Art. 3 Abs. 2 GG frauenfördernde Maßnahmen auch im beruflichen Bereich rechtfertigen kann (so ausdrücklich auf S. 20). Das ist mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des BVerfG konsequent und wird (mit gewissen Einschränkungen bei Quotenregelungen) auch durch den EuGH in weitem Rahmen für zulässig gehalten.
Symmetrisches vs. asymmetrisches Gleichheitsverständnis
Warum Frauenförderung? Die Verfassung schreibt: „Gleichberechtigung von Frauen und Männern“. Zahlreiche Gleichstellungsgesetze hingegen sprechen mittlerweile neutral von „Gleichstellung“ und nicht mehr von Frauenförderung. Dies klingt nach einem symmetrischen Gleichheitsverständnis –einem Gleichheitsverständnis, wonach jede Wohltat den Geschlechtsgruppen stets gleichermaßen zugutekommen muss, weil jeder Vorteil für die eine Gruppe zugleich ein Nachteil für die andere ist. Für ein solches Verständnis ist die Verfassung offen – wenn die Gruppen auch tatsächlich bereits annähernd gleichberechtigt sind. Solange und soweit aber eine Gruppe strukturellen Diskriminierungen unterliegt, ist Gleichstellung asymmetrisch zu verstehen – sie soll ja gerade etwas zugunsten der bislang noch benachteiligten Gruppe verändern. Maßstab sind vor allem strukturelle Diskriminierungen in der Gesellschaft. Im Geschlechterverhältnis ist etwa zu denken an das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern, die überwiegende Übernahme von Sorge- und Pflegearbeit durch Frauen, die Gefahr sexueller und körperlicher Übergriffe sowie – wie im Urteil angesprochen – die noch nicht erreichte angemessene Beteiligung von Frauen an Führungspositionen im Vergleich zu Eintrittsämtern. Ungeachtet einzelner Behörden, in denen dieses zuletzt genannte Ungleichgewicht bereits egalisiert werden konnte, besteht nicht nur in manchen Behörden in M-V, sondern auch gesamtgesellschaftlich noch immer ein strukturelles Ungleichgewicht zulasten von Frauen. Dies spricht für ein asymmetrisches Gleichheitsverständnis, das zudem auf einer holistischen Betrachtung der Lebenssituation von Frauen beruht. So führt das LVerfG M-V aus: Die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Berufstätigkeit sei gerade kein separat neben der Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen und Männern stehendes Ziel, sondern vielmehr wesentliche Grundlage für die Erreichung von Chancengleichheit. Gedacht ist hier an die Chancengleichheit von Frauen.
Allerdings lässt sich Gleichstellung nicht ausschließlich asymmetrisch denken. Denn es geht nicht nur um eine „Angleichung“ der bisher benachteiligten Gruppe (Frauen) an die andere Gruppe (Männer), sondern um ein grundsätzliches Überdenken von Eigenschafts-, Verhaltens- und Zuständigkeitszuschreibungen beider Geschlechter und ihrer Rollen in der Gesellschaft. Dies ist Voraussetzung für vollständige Gleichstellung und damit Gleichberechtigung der Geschlechter. Geschlechtergleichstellung kann daher nie rein asymmetrisch gedacht werden, sondern muss notwendigerweise die Auswirkungen auf die andere betroffene Gruppe (hier: Männer) mitbedenken. Gleichstellung hat deswegen immer eine symmetrische Komponente. Dies betrifft insbesondere den Abbau tradierter Geschlechterrollen. Ein Beispiel ist die Ausdehnung der Förderung besserer Vereinbarkeit von Sorge- und Pflege- mit Erwerbsarbeit auch für Männer – so wie es die meisten Gleichstellungsgesetze bereits vorsehen. Schwerpunktmäßig wirkt der Verfassungsauftrag momentan noch asymmetrisch zugunsten von Frauen, da diese nach wie vor strukturell benachteiligt sind, insbesondere durch die Doppelbelastung von Sorgearbeit und Berufstätigkeit. Die Verfassung lässt den Gesetzgebungsorganen in dieser Frage zu recht sehr viel Spielraum. Wie genau Gleichstellung vorangetrieben wird, wird damit als politische Entscheidung anerkannt.
Vertretung von Gruppeninteressen durch Gruppenangehörige?
Dem LVerfG M-V ist zwar verfassungsrechtlich darin zuzustimmen, dass gezielte Frauenförderung zulässig ist. Durchaus problematisch ist hingegen die Gleichsetzung von Gruppenzugehörigkeit mit der Wahrnehmung der politischen Interessen dieser Gruppe, also die Annahme, dass Frauen – alle Frauen – am besten durch eine (einzelne) Frau vertreten werden. Dabei wird leicht übersehen, wie unterschiedlich, eventuell auch gegenläufig Fraueninteressen sein können und dass vielfach mehrere Diskriminierungsmerkmale in einer Untergruppe von Frauen zusammentreffen. Vorzugswürdig wäre, nicht nur einer einzelnen Person als Gleichstellungsbeauftragten die Interessenwahrnehmung einer Gruppe zu überlassen, sondern flankierend Kommunikations- und Aushandlungsprozesse anzustrengen – und dabei natürlich auch Interessen von Männern miteinzubeziehen. Das Urteil des LVerfG M-V, das einen anderen Weg als mit der Verfassung vereinbar ansieht, bleibt in dieser zurückhaltenden Lesart richtig. Es bedeutet mitnichten, dass Gleichstellung reine Frauensache wäre. Das Verfassungsrecht legt lediglich den äußersten Rahmen fest. Neue Wege der Gleichstellungspraxis zu entwickeln, war, ist und bleibt Aufgabe von Politik und Gesellschaft.
Nun haben also Verfassungsrichter bestätigt, was aufmerksame Beobachter schon lange wissen konnten: Die Einführung sogenannter Gleichstellungsgesetze unter Umbenennung der Frauen- in Gleichstellungsbeauftragte war im Wesentlichen bloßer Etikettenschwindel. Eigentlich geht es auch weiterhin um Frauenförderung; wenn dabei ein paar Brotkrumen etwa für Väter mit Familienpflichten abfallen, ist das ganz nett, aber wichtig scheint es den zuständigen Politikern (und Verfassungsrichtern) nicht zu sein.
Es mag geholfen haben, dass Gleichstellung ein schillernder Begriff mit schwer zu fassender Bedeutung ist. Glücklicherweise kommt der Begriff im angeblichen “Gleichstellungsauftrag” Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes überhaupt nicht vor – dort ist übrigens konsequent eine allgemeine “Beseitigung bestehender Nachteile” festgelegt, und nicht nur “strukturell bedingter Benachteiligungen von Frauen”.
Immerhin ein Richter des Landesverfassungsgerichts hat sich dem Urteil durch Sondervotum entgegengestellt, in dem er u.a. feststellt, dass die Mehrheit in ihrer Entscheidung auf eine eigenständige rechtliche Prüfung der speziellen Gesetzesregelung praktisch vollständig verzichtet hat. Dabei ist eine sorgfältige Prüfung der Notwendigkeit, Eignung und Verhältnismäßigkeit gerade bei einer unmittelbar geschlechtsdiskriminierenden Vorschrift, die höchstens ausnahmsweise im hinblick auf den Verfassungsauftrag gerechtfertigt sein könnte, offenkundig unentbehrlich.
Da der Begriff der Gleichstellung zur Klärung eher untauglich ist, stelle ich von Grund auf die Frage: Was genau könnten “die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern” und “die Beseitigung bestehender Nachteile” in diesem Zusammenhang bedeuten?
Eine Beseitigung unmittelbarer rechtlicher Diskriminierung ist wohl nicht ausreichend, eine erzwungene völlige Angleichung freiheitsfeindlich und daher zweifelsohne verfassungswidrig. Meine Antwort wäre die Chancengleichheit und maximale Freiheit aller (grundsätzlich auch über das Geschlecht als Benachteiligungskriterium hinausgehend). Dabei meine ich nicht die neoliberale Schmalspurversion einer rein negativen Freiheit von aktiver Einschränkung durch staatliche oder auch private Akteure, sondern eine aktive Freiheit im Sinne einer tatsächlichen Möglichkeit oder eben Chance.
Dass es gerade im Feld der angeblichen Gleichstellung asymmetrische Sichtweisen und Regelungen – ohne hinreichende Gründe – im Überf