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03 June 2025

An der Grenze nichts Neues?

Zu den Schattenseiten der Screening-Prozedur im Rahmen des GEAS

Mit der Verordnung 2024/1356 zur Einführung der Überprüfung von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen (sog. Screening-VO bzw. SVO) ist dem Rohbau des reformierten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Mai 2024 zwar kein gänzlich neuer Baustein hinzugefügt worden, vorhandene Bausteine zur Überprüfung von Drittstaatsangehörigen wurden jedoch neu angeordnet und verbunden. Konkret sieht die Verordnung ab Juni 2026 eine gesonderte Prozedur vor, die dem Asyl- bzw. Rückführungsverfahren vorgeschaltet ist. Danach werden alle Drittstaatsangehörigen, welche die Einreisevoraussetzungen nach Art. 6 des Schengener Grenzkodex (SGK) nicht erfüllen und in die Union einreisen wollen bzw. sich dort nach unerlaubter Einreise aufhalten, einer vorläufigen Überprüfung („Screening“) unterzogen und nach Abschluss des Screenings dem für sie einschlägigen (Asyl- bzw. Rückführungs-)Verfahren zugeordnet. Hierdurch soll vor allem die Außengrenzverwaltung gestärkt und Sekundärmigration innerhalb der Union verhindert werden.

Was für die Union und die Mitgliedstaaten von Beginn an im Zeichen von Effizienz und Kontrolle stand, wirft aber weiterhin (grund- und menschen-)rechtliche Bedenken auf, welche die Unions- und die nationale Ebene gleichermaßen betreffen. Neben der zunehmenden Durchleuchtung der betroffenen Drittstaatsangehörigen durch digitale Technologien besteht insbesondere die Gefahr, dass das Screening mit erheblichen Einschränkungen (bis hin zum Entzug) ihrer Bewegungsfreiheit und der Absenkung prozeduraler Garantien einhergeht.

Screening in a Nutshell

Die Screening-VO findet auf alle Drittstaatsangehörigen gleichermaßen Anwendung, welche die Einreisevoraussetzungen nach Art. 6 SGK nicht erfüllen, unabhängig davon, ob sie einen Asylantrag stellen oder nicht. Werden sie an der Außengrenze angetroffen oder suchen sie dort um Asyl nach, soll das Screeningverfahren grundsätzlich auch an bzw. in der Nähe der Außengrenze stattfinden und darf nur bis zu sieben Tage dauern (Art. 8 Abs. 1, 3 SVO). Halten sie sich dagegen bereits im Hoheitsgebiet auf, findet das Verfahren im Hoheitsgebiet statt und wird innerhalb von höchstens fünf Tagen abgeschlossen (Art. 8 Abs. 2, 4 SVO). Dabei schafft das Verfahren zur Überprüfung der Drittstaatsangehörigen nach Art. 8 Abs. 5 i.V.m. Art. 12 ff. SVO aber keine wesentlich neuen Kontrollbefugnisse, sondern vereinheitlicht und erweitert vielmehr bereits vorhandene Kontrollmechanismen. In jedem Fall erfolgen eine grundsätzlich zu begrüßende vorläufige Gesundheits- und Vulnerabilitätskontrolle, die Feststellung der Identität sowie eine Sicherheitsüberprüfung, das Ausfüllen eines Überprüfungsformulars und schließlich die Verweisung an das einschlägige (Asyl- oder Rückführungs-)Verfahren. Die Tätigkeit der hierfür zuständigen Behörden soll durch einen neuen unabhängigen Überwachungsmechanismus in jedem Mitgliedstaat begleitet werden.

 Fiktion der Nichteinreise und Haftgefahr

Die wohl größte Kritik an der Screening-VO betrifft weiterhin die in Art. 6 S. 1 der Verordnung vorgesehene Fiktion der Nichteinreise während der Überprüfung an den Außengrenzen. Dieser Mechanismus sieht vor, dass es den betroffenen Personen bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gestattet ist, in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen, um Sekundärmigration zu verhindern. Obwohl die betroffene Person also die geographische EU-Außengrenze in tatsächlicher Hinsicht überschritten haben mag, gilt sie im Rechtssinne nicht als eingereist. Eine solche Fiktion ist den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht unbekannt: In Deutschland kommt sie bereits im Rahmen des Grenzübertritts in bestimmten Fällen zum Tragen (§ 13 Abs. 2 S. 2 AufenthG), etwa im sog. Flughafenasylverfahren (§ 18a Abs. 1 S. 1 AsylG). Auch viele andere Mitgliedstaaten arbeiten bereits seit längerer Zeit mit ähnlichen Fiktionen. Neu ist hieran, dass sie nun unionsrechtlich für alle Mitgliedstaaten verpflichtend sowie insgesamt mehr Personen betreffen wird.

Rechtlich bedeutet eine solche Fiktion zunächst nur, dass die (endgültige) Verweigerung der Einreise (vgl. Art. 14 Abs. 1 S. 1 SGK; § 18a Abs. 3 S. 1 AsylG) grundsätzlich weiterhin möglich bleibt. Um sicherzustellen, dass faktische und rechtliche Realität nicht zu weit auseinanderfallen, ordnen die Mitgliedstaaten aber – und hier setzt die Kritik an – während dieses „Zwischenstadiums“ verstärkt freiheitsbeschränkende Maßnahmen an (vgl. § 18a Abs. 1 S. 1 AsylG) und reduzieren verfahrensrechtliche Garantien auf die (gerade noch) zulässigen Mindeststandards (vgl. § 18a Abs. 4 AsylG) – häufig aber auch darüber hinaus.

Besondere Aufmerksamkeit verdient daher insbesondere der neue Art. 6 S. 2 der Screening-VO, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Anwesenheit der betroffenen Personen während des Überprüfungsverfahrens sicherzustellen. Eine vergleichbare Verpflichtung legt auch Art. 7 Abs. 1 S. 2 der Screening-VO für die Überprüfung im Hoheitsgebiet fest, allerdings – von dieser Idee im Referentenentwurf zur GEAS-Anpassung ist zum Glück auch das BMI abgerückt, da Deutschland sonst gegen den SGK verstoßen hätte – ohne Fiktion der Nichteinreise. Wie diese Verpflichtung rechtlich und praktisch umzusetzen ist, bleibt den Mitgliedstaaten überlassen. Erwägungsgrund 11 der Screening-VO lässt hierfür grundsätzlich sowohl freiheitsbeschränkende als auch freiheitsentziehende Maßnahmen zu – ganz im Zeichen der Ausrichtung des neuen GEAS auf eine möglichst weitreichende Einschränkung der Bewegungsfreiheit Drittstaatsangehöriger.

Die Anwesenheit der betroffenen Personen während des gesamten Verfahrens kann naturgemäß nur dann sichergestellt werden, wenn sie sich auch tatsächlich durchgehend in der Nähe der hierfür vorgesehenen Einrichtungen aufhalten müssen. Gerade die Erfahrungen mit der Umsetzung des Hotspotansatzes und den Grenzverfahren zeigen, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich gewillt sind, im Namen effizienterer Kontrolle verstärkt freiheitsentziehende Maßnahmen anzuordnen. Daher bestand auch hinsichtlich der Screening-VO von Beginn an die Befürchtung, dass die Mitgliedstaaten in großem Umfang auf freiheitsentziehende Maßnahmen zurückgreifen werden (s. etwa hier und hier). Die (nicht verabschiedeten) Entwürfe für ein GEAS-Anpassungsgesetz sowie ein GEAS-Anpassungsfolgegesetz der Ampelregierung bestätigen diese Befürchtung (s. für entsprechende Kritik etwa hier oder hier). Soweit der Koalitionsvertrag von einer schnellen Umsetzung der GEAS-Reform spricht (Zeile 3003 ff.), dürfte eine Kehrtwende zugunsten einer möglichst freiheitswahrenden Umsetzung nicht zu erwarten sein.

Selbstverständlich ist der Freiheitsentzug nur unter engen Voraussetzungen rechtlich zulässig. In sekundärrechtlicher Hinsicht gelten für Asylsuchende während des Screenings Art. 10 ff. der Aufnahmerichtline (RL (EU) 2024/1346), während für sonstige Drittstaatsangehörige Art. 15 ff. der Rückführungsrichtlinie (RL (EG) 2008/115) anwendbar sind. Darüber hinaus ist hinreichend geklärt, dass eine rein verwaltungsrechtliche Fiktion die Anwendbarkeit von EMRK und EU-GrCh nicht ausschließen kann (siehe etwa hier oder hier). Deshalb muss sich der Entzug der Bewegungsfreiheit auch an Art. 5 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 GrCh messen lassen. Ob bereits eine Freiheitsentziehung vorliegt, ist eine (graduelle) Frage des Einzelfalls. Auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in Transitzonen oder Aufnahmezentren können (jedenfalls de facto) haftähnliche Ausmaße annehmen, die dann als Freiheitsentziehung zu behandeln und nur unter den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 GrCh zulässig sind.

Soweit die Theorie. Bekanntermaßen erfolgt der Freiheitsentzug in den Mitgliedstaaten häufig, ohne das Kind beim Namen zu nennen und entsprechende rechtliche Garantien zu gewährleisten. Die Screening-VO wird diese Praxis voraussichtlich nicht stoppen, sondern befeuern.

Die neue digitale Grenze

Weil sich die Kritik an der Screening-VO überwiegend auf die Fiktion der Nichteinreise konzentriert, scheint das Herzstück der Verordnung, die in Art. 14 – 16 SVO geregelte Identitäts- und Sicherheitskontrolle, bislang ein Schattendasein zu führen. Das mag daran liegen, dass mit den Regelungen faktisch kaum neue Datenverarbeitungsbefugnisse für die zuständigen Behörden einhergehen, sondern vor allem bestehende Befugnisse aus unterschiedlichen Regelwerken in der Verordnung konsolidiert werden. Gerade deshalb sollte die Screening-VO aber Anlass bieten, diese Regelungen kritisch zu hinterfragen. Denn sie ist im Kontext des seit Jahrzehnten voranschreitenden Ausbaus der „digitalen“ bzw. „intelligenten“ Grenzen der Union zu sehen. Es geht dabei darum, die physische und administrative Kontrolle von Mobilität durch digitale Informationstechnologien und entsprechende Regelwerke zu flankieren. Die damit einhergehende Verarbeitung personenbezogener Daten kann große Auswirkungen auf die Rechte aus Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und 8 Grundrechte-Charta, aber letztlich auch auf alle anderen Grund- und Menschenrechte haben, in die gerade aufgrund der gesammelten Daten eingegriffen oder von denen genau deshalb kein Gebrauch gemacht wird.

Konkret gestattet die Screening-VO die Registrierung und den Abgleich zahlreicher personenbezogenen Daten der Drittstaatsangehörigen zur Feststellung ihrer Identität und zur Abwehr von Sicherheitsbedrohungen mit diversen nationalen, europäischen und internationalen Datenbanken. So sollen die für die Überprüfung zuständigen Behörden zukünftig etwa auf den unionsweiten Speicher für Identitätsdaten (Common Identity Repository, CIR) zugreifen können, in dem für jede in den bereits bestehenden bzw. in naher Zukunft errichteten EU-Informationssystemen erfasste drittstaatsangehörige Person eine individuelle Datei angelegt wird. Der CIR ist einer von vier bislang allerdings noch nicht in Betrieb genommenen Diensten, die durch die zwei sog. Interoperabilitäts-Verordnungen errichtet wurden, um die zahlreichen EU-Informationssysteme zu vernetzen und jeweils einen effizienteren Zugriff zu ermöglichen. Dies betrifft das Entry-Exit-System (EES), das Visainformationssystem (VIS), das Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS), Eurodac und das Strafregisterinformationssystem über Drittstaatsangehörige und Staatenlose (ECRIS-TCN). Hinzu kommen ein Abgleich mit dem Schengen-Informationssystem (SIS), zwei Interpol-, Europol- sowie nationalen Datenbanken – in Deutschland etwa das AZR und die INPOL-Datenbanken – und im Falle eines „Treffers“ weitere Anschlussmaßnahmen und Konsultationspflichten. Neben potentiell unverhältnismäßigen Eingriffen in das Recht auf Privatleben bzw. Datenschutz aus Art. 8 EMRK bzw. Art. 7, 8 GrCh besteht hierdurch gerade für die personenbezogenen Daten Drittstaatsangehöriger die ganz reale Gefahr, durch die zunehmend ausdifferenzierte und vernetzte datengestützte Grenzarchitektur einem erhöhten Zugriff für andere Zwecke – insbesondere durch Sicherheitsbehörden – ausgesetzt zu werden.

Im Ergebnis kein Rechtsschutz?

Entgegen zahlreicher Forderungen (s. etwa hier, S. 7 ff.) ist es dabei geblieben, dass die Screening-VO keinen Rechtsbehelf gegen die Zuordnung der Person zu dem jeweiligen Verfahren auf Grundlage des Überprüfungsformulars (Art. 18 SVO) vorsieht. Diese Leerstelle verwundert besonders an der zentralen Schnittstelle zwischen Screening-VO und den daran anschließenden Verfahren des GEAS. Die betroffene Person hat lediglich die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass die im Überprüfungsformular enthaltenen Daten unrichtig sind, was im Formular vermerkt wird (Art. 17 Abs. 3 SVO). Abgesehen von den Rechtsbehelfen nach Art. 16 ff. DSGVO kann eine Überprüfung daher erst inzident im Rahmen der Nachprüfung der jeweiligen Sachentscheidung des Asyl- oder Rückkehrverfahrens erfolgen. Die Kommission begründet das damit, dass das Screening keine Entscheidung zur Folge habe, welche die Rechte der betroffenen Person berühre. Aber stimmt das?

In der Rechtssache Samba Diouf hat der EuGH entschieden, dass ein Verstoß gegen Art. 47 GrCh nicht schon deshalb in Betracht kommt, weil Rechtsschutz nur gegen die verfahrensabschließende Entscheidung, nicht aber gegen vorbereitende Verfahrensakte – hier die Entscheidung zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens – gewährt wird. Entscheidend dürfte daher sein, ob das Screening-Ergebnis – laut Kommission ein bloßer Realakt – bereits eine selbstständige Beschwer beinhaltet, durch welche die betroffene Person in ihrem Recht auf Asyl aus Art. 18 GrCh verletzt sein könnte. Zwar steht ihr selbstverständlich ein Rechtsbehelf gegen die ablehnende Entscheidung über den Schutzantrag (vgl. Art. 67 Abs. 1 Asylverfahrensverordnung, VO (EU) 2024/1348, AVO) zu. Allerdings besteht die Gefahr, dass sie einem Verfahren zugewiesen wird, in dem sie deutliche prozessuale Nachteile erleidet (etwa abweichende behördliche Akteure, Beweisnachteile oder kurze Fristen, vgl. dazu hier, S. 38 ff.). Ob es den betroffenen Personen hierdurch bis zur Unzumutbarkeit erschwert wird, effektiven Rechtsschutz zu erreichen, lässt sich erst dann vollumfänglich beurteilen, wenn die Einzelheiten zur Anpassung an die Screening-VO und die AVO bekannt sind. Dafür sprechen aber Art und Umfang der Daten, die teilweise noch vor Beginn des eigentlichen Asylverfahrens gesammelt werden, gleichzeitig aber für die spätere Prüfung des Asylantrags zentral sind (etwa zu Reisewegen oder Sprachkenntnissen). Insbesondere besteht das Risiko, gerade aufgrund dieser Daten einer inhaltlichen Prüfung von vorneherein verwehrt zu bleiben (so bei der Einreise aus einem sicheren Drittstaat).

Umsetzung entscheidend

An der Verordnung selbst lässt sich (erstmal) nicht mehr rütteln. Daher kommt es entscheidend darauf an, wie die Vorgaben in Deutschland und in den Außengrenzstaaten zukünftig umgesetzt werden. Weil das Grenz- und Asylrecht im Koalitionsvertrag im Zeichen der Restriktion steht, dürften auch die Rechte der von der Screening-VO betroffenen Drittstaatsangehörigen bis auf das (noch) zulässige Mindestmaß beschränkt werden. Angesichts der jüngsten Vorstöße der neuen Bundesregierung bleibt nur zu hoffen, dass dieses Mindestmaß nicht noch unterschritten wird.


SUGGESTED CITATION  Priebe, Anna-Lena: An der Grenze nichts Neues?: Zu den Schattenseiten der Screening-Prozedur im Rahmen des GEAS, VerfBlog, 2025/6/03, https://verfassungsblog.de/grenze-geas-asyl-screening/, DOI: 10.59704/e2c30d8e4e0bee10.

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