Griechenland und die EU: Kann mal jemand auf uns Scheidungskinder hören?
Zu jeder richtigen Ehekrise gehört dazu, dass die beiden Partner an irgendeinem Punkt aufgehört haben, die Rekonstruktion der Wirklichkeit des jeweils anderen verstehen zu wollen. Je mehr der eine darauf besteht, doch endlich von der anderen in seiner Sicht der Dinge wahrgenommen und verstanden zu werden, desto mehr fühlt sich die andere ihrerseits in ihrem Anspruch verletzt, mit ihrer Sicht der Dinge in der Weltsicht des einen vorzukommen. Beide meinen, verzweifelt um den Erhalt ihrer Ehe zu kämpfen, und doch führt dieser Zirkel scheinbar unausweichlich zu einem Ort, an dem keiner von ihnen eigentlich hinwill, nämlich zum Scheidungsgericht.
Das Letzte, was Paare in dieser Situation brauchen können, sind Freunde bzw. Freundinnen, die sie in ihrer Positionierung “unterstützen”: Genau! Zeig’s dem verantwortungslosen Dreckskerl / der nagging bitch! Unfassbar, was der / die sich da leistet! Lass dir das bloß nicht mehr gefallen!
Spätestens seit dem letzten Wochenende scheinen mir Griechenland und der Rest der Eurozone in einem ebensolchen Zirkel angekommen zu sein. Und an “Freunden” und “Freundinnen” fehlt es auf beiden Seiten nicht. Ich fühle mich unterdessen wie das Kind des Scheidungspaares, das sich im Kleiderschrank versteckt.
Die Wirklichkeit der Eurozone ist bekannt: Die schöne Helena (so sind sie halt, die schlampigen Südländerinnen) hat uns betrogen, aber wir waren großzügig, wir haben sie nicht hinausgeschmissen, im Gegenteil, wir haben ihr sogar noch die Psychotherapie mit unserem sauer verdienten Geld gezahlt, auf dass sie ihre Impulskontrollprobleme besser in den Griff bekommt, und wie dankt sie uns das? Indem sie mit dem fiesen Vladimir flirtet, indem sie aus heiterem Himmel die Therapie hinschmeißen will, indem sie uns die Hölle heiß macht mit dem Vorwurf, wir würden ihr die Luft zum Atmen abschnüren. Und jetzt stellt sie mir ein Ultimatum! Hat die sie noch alle!???
Die Wirklichkeit Griechenlands ist ebenso bekannt: Der reiche Dieter (so sind sie halt, die spießigen Nordeuropäer) hat uns geradezu in den Ehebruch getrieben mit seiner verklemmten, engherzigen Art, und es ist ja nicht so, dass er bei der Heirat nicht ganz genau gewusst hätte, dass ich so nicht leben kann. Seine verdammte Psychotherapie ist entwürdigend und nichts als ein Versuch, mich zu unterwerfen und meine Lebensbedürfnisse zu ersticken und zu pathologisieren. Und hinter seiner vermeintlichen Großzügigkeit steckt doch nur die egoistische Angst, dass die Scheidung für ihn teuer werden könnte. Und jetzt stellt er mir ein Ultimatum! Hat der sie noch alle!???
Es ist ja jetzt oft zu hören, dass endlich das Politische auf die Bühne zurückkehrt und sich Raum verschafft gegenüber der Technokraten- und Expertenherrschaft in den Brüsseler Behördenfluren. Dass nach all dem Gemauschel und Getuschel so ein richtiges, saftiges Referendum doch jetzt gerade recht kommt, eine glashart polarisierte Teilung in Ja oder Nein (selbst wenn etwas unklar ist, wozu genau). Das ist doch gelebte, praktizierte Demokratie, und Demokratie haben wir doch schon immer viel zu wenig in der Europapolitik, oder nicht?
Das klingt alles toll, aber das ist der Weg, der schnurstracks zum Scheidungsrichter führt.
Die Frage, über die die Syriza-Regierung die Griechen am Sonntag abstimmen lassen will, ist bei aller Unschärfe im Kern diese: Diese Union, die uns ihrer rigiden und unsozialen Sparideologie unterwerfen will, die uns so hat leiden lassen und uns zu so viel weiterem Leiden zu zwingen entschlossen ist, wollen wir die? Ja oder Nein? Wohl gemerkt, Syriza will die Scheidung nicht, und das kann man ihr auch glauben. Sie will den verdammten Kerl aber ändern! Entweder er ändert sich jetzt, und zwar sofort, oder er ist selber schuld an den Konsequenzen. (Das Gleiche kann man, mutatis mutandis, auf der anderen Seite von Wolfgang Schäuble behaupten.)
Die Politisierung und Polarisierung, die das Referendum erzwingt, hat sicherlich erst einmal einen belebenden Effekt – auf Griechenland, das als politische Einheit nach Carl Schmitt von der Möglichkeit, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, abhängig ist, und auch auf die ganze europäische Linke, für die das Gleiche gilt. Im Fall Griechenlands kommt eine lange Geschichte voll innerer Zerrissenheit, Bürgerkrieg und dysfunktionaler Staatlichkeit hinzu, was ein solches Angebot eines äußeren Feindes in Gestalt dieser Union doppelt attraktiv macht.
Der Preis dafür ist aber, dass ein solcher Feind als jemand, dessen Weltsicht man sich wenn schon nicht zu eigen, so doch bewusst macht und versteht, per definitionem ausfällt. Feindschaft als “seinsmäßige Negierung des anderen Seins” (Schmitt) schließt jeden Perspektivenwechsel, jedes Die-Welt-mit-den-Augen-des-Anderen-Betrachten kategorisch aus. Wer sich einmal auf eine solche Position festgelegt hat, für den kommt jede Paartherapie zu spät. Gegen den kann man nur noch den Scheidungsanwalt von der Leine lassen.
Das ist der Grund, warum ich mich strikt weigere, dieses Referendum als eine Abstimmung für oder gegen Austerity anzuerkennen. Ich will gegen Austerity sein und trotzdem dem “Ja”-Lager die Daumen halten können, und das gleiche wünsche ich allen Griechen. Wenn die Mehrheit der Griechen am Sonntag mit “Ja” stimmt, dann darf das gerade nicht heißen, dass der reiche Dieter gewonnen hat und fortan von Helena fordern kann, was ihm beliebt. Das hieße es auch nicht: Die wenigsten Griechen werden am Sonntag mit “Ja” stimmen, weil sie soziale Härte so super finden. Das tun sie, weil sie nicht anderes können. Weil sie keine Feindschaft und keine Zerstörung wollen, sondern an dem gemeinsamen Leben in einem vereinten Europa doch zu sehr liegt, als dass sie das alles kaputtschmeißen wollten.
Was hieße ein “Ja” dann? Das hieße, dass die schöne Helena ihn noch liebt. Dieter wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn er sich nach einer solchen Liebeserklärung in die Brust werfen und ihre völlige Unterwerfung fordern würde. Im Gegenteil, der reichen Dieter wird mit weichen Knien und zittriger Stimme fragen: und jetzt? Und dann werden sie sich zusammensetzen und eine Flasche Wein aufmachen. Nach zwei, drei Gläsern wird Helena klar, dass es doch ein paar Dinge gab, die sie in Zukunft anders machen will, und Dieter wird ihr den Rest ihrer Schuld mit großzügiger Geste vergeben, und Helena wird sich die in ihr aufquellende zornige Frage “Schuld? Was für eine Schuld??” tunlichst verkneifen, und am Ende haben beide im Schlafzimmer den besten Sex ihres Lebens, and they lived happily ever after.
Na, wir werden sehen.
Um fehlendes gegenseitiges Verständnis geht es m.E. nicht. Die Ratgeber auf beiden Seiten dürften kaum Schwierigkeiten haben, das taktische Verhalten der Gegenseite zu verstehen. Derzeit neutralisieren sich beide Lager – auf spielerisch hohem Niveau. Der Gegenseite dennoch öffentlich “Wahnsinn” zu unterstellen (oder umgekehrt “Austerität”), dient lediglich dem Kampf um die öffentliche Meinung. Wie der in ganz Europa ausgeht, scheint mir heute offener denn je. Und ob es wirklich so ist, dass Helena bislang auf falsche Freunde gehört hätte, sollten man in Ruhe am Ende entscheiden, wenn klar ist, wer gewonnen hat…
Das „Narrativ“ von den Scheidungskindern ist nicht meines.
Mein „Narrativ“ geht ungefähr so: Ich zahle Steuern, damit Agenten (Bundesregierung etc.) sich insbesondere meinem Wohle widmen, meinen Nutzen mehren und Schaden von mir wenden werden (und von vielleicht weiteren achtzig Millionen Menschen). Und jetzt stehen mindestens 80 Mrd. Euro nicht nur im Feuer, sondern sind weitgehend abgebrannt. Und der Betrag wird weiter wachsen. Die schöne, aber schlampige Helena ist mir vergleichsweise wurscht (höchstens, dass sie sich um die griechischen Agenten in den letzten Jahrzehnten zu wenig gekümmert hat). Ressentiments habe ich fast ganz ausschließlich hinsichtlich der deutschen Agenten, die sich so desaströs um ihren Auftrag gekümmert haben.
Einziges Problem an dem schönen Bild: Dieter ist mit dem Klammerbeutel gepudert. Die Bundesregierung wird ein ja beim Referendum als Freibrief verstehen, nicht nur die vollständige Unterwerfung zu fördern, sondern zu überlegen, was darüber hinaus noch geht.