Grundrechtecharta ist österreichisches Verfassungsrecht
Stellt euch vor, das Bundesverfassungsgericht würde die EU-Grundrechtecharta für unmittelbar in Deutschland geltendes Verfassungsrecht erklären. Wenn Deutschland (in Umsetzung des Unionsrechts) dagegen verstößt, dann verstößt es gegen das Grundgesetz und wird in Karlsruhe aufgehoben – gegebenenfalls nach Vorlage nach Luxemburg, wenn es Zweifel bei der Auslegung gibt.
Das ist schwer vorzustellen. Aber in Österreich hat der Verfassungsgerichtshof genau das getan (schon vor einigen Wochen, ehrlich gesagt, aber besser berichte ich spät als nie).
Es ging um zwei Asylbewerber, deren Anträge auf Asyl ohne mündliche Verhandlung rechtskräftig abgelehnt worden waren, was sie als Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 47 der Grundrechtecharta verletzt sahen. Das fand der Verfassungsgerichtshof zwar im Ergebnis nicht, nahm aber den Fall zum Anlass, das Verhältnis nationalen und europäischen Verfassungsrechts auf die besagte Weise zu bestimmen.
Zum Hintergrund muss man wissen, dass die Frage, was eigentlich die Verfassung in Österreich alles umfasst, fast so kompliziert zu beantworten ist wie die nach der richtigen Anrede eines Beamten des mittleren Dienstes oder die nach den Hintergründen der Lucona-Affäre. Eine wahre Parallelaktion unterschiedlichster Verfassungsrechtsquellen ist da am Start. Es gibt nicht einfach ein Verfassungsdokument, in dem man so ganz ohne Dekor und Zeremoniell nachschlagen könnte, was Sache ist. Und schon gar keinen sauberen Grundrechtekatalog.
Das wird jetzt anders. Aber das ist aber zumindest in der juristischen Argumentation gar nicht ausschlaggebend für den Verfassungsgerichtshof: Er begründet seinen Schritt rein europarechtlich. Anknüpfungspunkt ist der Äquivalenzgrundsatz: Wie die Rechte, die das EU-Recht den Bürgern verleiht, genau geschützt werden, regeln die Mitgliedsstaaten selber, aber sie dürfen die Bürger dabei nicht ungünstiger stellen als in rein innerstaatlichen Konstellationen. Das heißt, wenn man österreichische Grundrechte vor dem Verfassungsgerichtshof einklagen kann, dann muss man auch europäische Grundrechte vor dem Verfassungsgerichtshof einklagen können.
Wenn das stimmt, dann stimmt das auch in Deutschland, oder nicht?
Wobei das Bundesverfassungsgericht natürlich immer Wege finden wird, es gar nicht so weit kommen zu lassen, dass sich diese Frage stellt…
Foto: Rafael Gomez, Flickr Creative Commons
“Wenn das stimmt, dann stimmt das auch in Deutschland, oder nicht?”
Definieren die österreichischen Gerichte nicht, gleichsam im Gegenzug zu einer solchen Modernität, die Grundrechte antiquarisch nach dem Stand des Inkrafttretens der jeweiligen Norm, also nach dem Stand der 1920er-Jahre? Also nach dieser Methode, von der der rechte Flügel des US-Supreme Courts träumt?
Da hätte man schon Vorbehalte, was das Übertragen von Ö-Land nach D-Land betrifft.
Bei den Entscheidungen des BVerfG heisst es immer: Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Das ist falsch und sollte umgehend geändert werden in: Diese Entscheidung ist anfechtbar beim EuGMR (in Straßburg)!
Im BVerfGG sollte unverzüglich die Vorlage zum EuGH geregelt werden.
Soweit in der Verfassung selbst Regelungen sinnvoll sind, die solcher europäischer Orientierung dienen, können die entsprechenden Normen optimiert oder neu eingefügt werden. Am besten durch einen Verfassungskonvent der BürgerInnen in D + EU. Siehe zu Konvent und Bürgersenat als neuer Institution:
http://ob-in-spe.de >Demokratieinnovation
Mal sehen, was das BVerfG am 12.9.12 in Sachen EU-Fiskalpakt entscheidet, einschl. Anwendung des 146 GG (Konvent + Volksentscheid)