09 November 2021

Haushaltshoheit und Schuldenbremse

Warum die Konjunkturkomponente reformiert werden sollte

Viel war die letzten Wochen von einer Ampel als Zukunftsbündnis die Rede, das die großen Aufgaben unserer Zeit anpackt. Ob das gelingt, wird nicht zuletzt von der Ausrichtung der Finanzpolitik abhängen. Dekarbonisierung, Digitalisierung, Ausbau von Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur, Superabschreibungen, all das kostet Geld. Wir argumentieren, dass auch im Rahmen der Schuldenbremse eine zukunftsgerichtete Finanzpolitik möglich ist. Dazu bedürfte es einer Anpassung der Konjunkturkomponente. Diese wird heute nicht nur aus ökonomischer, sondern auch aus demokratischer Perspektive problematisch gesehen. Denn wie Korioth und Müller in einem neuen Gutachten darlegen, hat das Parlament wesentliche Teile der Ausgestaltung der Konjunkturkomponente der Exekutive überlassen. Die ökonomisch-statistischen Verfahren der Exekutive können jedoch keine objektive Wahrheit zur Höhe der Konjunkturkomponente herstellen, die eine solche Delegation rechtfertigen würde. Wir machen einen Vorschlag für eine zukunftsgerichtete Finanzpolitik, der sowohl die ökonomische Problematik als auch das demokratische Defizit der Konjunkturkomponente adressiert.

Die Konjunkturkomponente

Unter der Schuldenbremse darf sich der Bund jedes Jahr in Höhe von 0,35% des BIPs verschulden. Dieser strukturelle Verschuldungsspielraum wird durch die Konjunkturkomponente erhöht oder reduziert (Details zum Aufbau der Schuldenbremse hier). Die Konjunkturkomponente soll — Keynes Lehren umsetzend — ein höheres Defizit ermöglichen, wenn die Wirtschaft unter ihrem Potenzial läuft und Überschüsse erfordern, wenn die Wirtschaft überausgelastet ist. Während ein staatliches Defizit zusätzliche Nachfrage generiert und so eine schwache Wirtschaft befeuert, entzieht ein staatlicher Überschuss Nachfrage und wirkt so Inflation entgegen. Die Gretchenfrage der Konjunkturkomponente ist die Definition des Potenzials: Denn hieran misst sich, ob Unter- oder Überauslastung besteht.

Juristischer Mut zur Lücke

Rechtlich erstreckt sich die Definition der Konjunkturkomponente über mehrere Normebenen. Das Grundgesetz erwähnt diesbezüglich lediglich: „zusätzlich sind bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen“ (Art. 115 Abs. 2 GG). Das Ausführungsgesetz zu Art. 115 GG wird zwar etwas genauer: „Eine Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von der konjunkturellen Normallage liegt vor, wenn eine Unter- oder Überauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten erwartet wird (Produktionslücke)“ und spezifiziert die Gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten als Produktionspotenzial (§ 5 Abs. 2 G-115). Die Bestimmung des Verfahrens zur Berechnung des Produktionspotenzials wird jedoch der Exekutive in Abstimmung mit der Europäischen Union überlassen. In der entsprechenden Verordnung wird das Produktionspotenzial dann definiert als “dem bei Normalauslastung der Produktionsfaktoren erreichbaren Bruttoinlandsprodukt” (Abs. 2 § 2 Art. 115-V). Präzise wird die Verordnung bei der Formel, in die die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapitalstock und totale Faktorproduktivität einzuspeisen sind: Es soll eine sogenannte Cobb-Douglas Funktion genutzt werden, die die Wirtschaftsleistung als Produkt aus Produktivität, Kapitalstock und Arbeitspotenzial definiert. Doch wie Korioth und Müller schreiben, “das genaue Verständnis der einzustellenden Faktoren erhellt aus der Vorschrift nicht”.

Das sehen sie aus mehreren Gründen kritisch: Erstens ist so nicht überprüfbar, ob das angewandte Verfahren dem neuesten Stand der Wissenschaft entspricht, so wie im Ausführungsgesetz gefordert (§ 5 Abs. 4 G-115). Zweitens hinterfragen sie, ob das Ausführungsgesetz hinreichend bestimmt sei. Denn die konkrete Definition ausgelasteter Produktionsfaktoren, insbesondere des Faktors Arbeit, erfordert zahlreiche politische Wertungen (z.B. zu angestrebten Arbeitsstunden, Erwerbstätigkeit von Frauen etc.) und hat einen signifikanten Einfluss auf die zulässige Neuverschuldung. Korioth und Müller schlussfolgern: “Es ist deshalb Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, die Faktoren und die hinsichtlich dieser zu treffenden Annahmen festzulegen. § 5 G-115 kommt dieser Aufgabe nur unzureichend nach.”

Volkswirtschaftslehre als Lückenfüller

Was die Verordnung nicht leistet, versucht die ökonomische Theorie objektiv und sachgerecht aufzulösen. Angesichts des vorgegebenen Methodenrahmens wäre es eine deutliche Untertreibung, diesen Versuch als wagemutig zu bezeichnen. Denn allein schon die Validität der Cobb-Douglas Funktion steht im Zweifel. Die Volkswirtschaftslehre muss darüber hinaus eine in der Sache begründbare Definition für die Normalauslastung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital finden. Kapital gilt als ausgelastet, wenn es komplett genutzt wird, also z.B. jede Produktionsstraße auf voller Kapazität läuft. Mit Blick auf Arbeit ist jedoch unklar, was das bedeutet.

Statistik to the rescue

Daher versucht man, sich weitgehend auf die Vergangenheit zurückzubeziehen: Das Arbeitspotenzial liegt nach den heutigen Berechnungsmethoden ungefähr da, wo es in der Vergangenheit lag. Dieser Bezug auf die Vergangenheit ist jedoch aus drei Gründen problematisch:

(1) Woher wissen wir, dass das Potenzial in der Vergangenheit ausgelastet war? Insbesondere wenn die Zentralbank, wie heute in Europa, die Wirtschaft nicht oder kaum mehr durch Zinssenkungen stimulieren kann, ist eine dauerhafte Unterauslastung (außer die Fiskalpolitik steuert gegen) sehr gut möglich. In Zeiten von Säkularer Stagnation ausgelastete Produktionskapazitäten anzunehmen scheint gewagt.

(2) Die Vergangenheit spricht nicht für sich selbst, insbesondere wenn man sie um konjunkturelle Einflüsse, die ebensowenig beobachtet werden können wie das Potenzial, bereinigen will. Daher bedarf es einer Reihe statistischer Annahmen, die ökonomisch nicht begründbar sind und unterschiedlich getroffen werden können, dafür aber große Auswirkungen auf das Ergebnis haben.

(3) So ganz traut man bereits heute der Vergangenheitsextrapolation nicht und blickt deswegen manchmal doch in die Zukunft. Die niedrigstmögliche Arbeitslosigkeit ist zum Beispiel eine Mischung aus Fortschreibung der Vergangenheit und einer mittelfristig auf Basis struktureller Faktoren (z.B. Gewerkschaftsdichte, Höhe des Arbeitslosengeldes) ermittelten Arbeitslosenquote. Das genutzte Verfahren halten Experten für ‘fragwürdig’: Es sei statistisch nicht belegbar, dass die niedrigstmögliche Arbeitslosenquote sich in die Richtung ihres mittelfristigen Wertes bewege. Für Deutschland liegt dieser Ankerwert bei 4,55%, die aktuell geschätzt niedrigstmögliche Arbeitslosenquote bei 3%. Es wird also bereits heute die Fortschreibung aus der Vergangenheit mit einem anderen, ebenso methodisch nicht über alle Zweifel erhabenen Verfahren vermischt, da die Mängel der reinen Fortschreibung zu sehr ins Auge stechen.

Die heutige Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch den Gesetzgeber ist also nicht nur problematisch, da sie wesentliche Aspekte unspezifiziert lässt, sondern auch, weil die Volkswirtschaftslehre die ihr zugedachte Rolle nicht ausfüllen kann.

Ein Schritt in die richtige Richtung?

Will man nicht auf Volkswirtschaftslehre und Statistik zurückfallen, könnte der Gesetzgeber, so wie es Korioth und Müller erwähnen, selbst gewisse Inputs zur Berechnung des Produktionspotenzials setzen. Eine Möglichkeit wäre: Anstelle historischer Arbeitsstunden pro Person, die Partizipationsrate und die Non-Accelerating Wage Inflation Rate of Unemployment (NAWRU) fortzuschreiben, könnte das Arbeitspotenzial als erreicht gelten, wenn es keine unfreiwillige Teilzeit und keine Langzeitarbeitslosigkeit gibt und der Unterschied in der Partizipationsrate von Männern und Frauen auf ein skandinavisches Niveau gesunken ist. Finanzpolitisch ist das als Ziel sinnvoll, da die Demografie heute die größte Herausforderung für nachhaltige Staatsfinanzen darstellt. Alle im arbeitsfähigen Alter sollten die Chance haben, in dem Maß zu arbeiten, wie sie möchten. Löhne zahlen Renten.

Nun könnte man argumentieren, dass Zielsetzungen der Politik erst in das Potenzial eingehen sollten, wenn sie verwirklicht wurden. Das Problem: Der finanzpolitische Rahmen selbst hat Auswirkungen auf das Potenzial. Denn wird letzteres überschritten, muss der Staat wie erwähnt gegensteuern und Nachfrage aus der Wirtschaft ziehen, um die Arbeitslosigkeit zu steigern, das Lohnwachstum zu bremsen und so Inflation zu verhindern. Außerdem gilt: Sollten Zielsetzungen erst nach Umsetzung in die Potenzialberechnung einfließen, steht ex ante weniger und ggf. zu wenig Geld zur Verfügung, um genau die Investitionen zu tätigen, die das Potenzial erhöhen, zum Beispiel Kitas oder Integrationskurse.

Rechtliche Grenzen und Anreize

Korioth und Müller sehen Spielräume, da die Definition der normalausgelasteten Produktionsfaktoren weder im Grundgesetz noch im Ausführungsgesetz zu Art. 115 spezifiziert ist, und schätzen den obigen Vorschlag als im Rahmen dieser Spielräume ein. Zentral ist jedoch, dass aus der Normallage keine ‚Ideallage‘ werden dürfe. Die Wirtschaft müsse das Potenzial auch tatsächlich erreichen können.

Das scheint aus ökonomischer Perspektive ein sehr erstrebenswerter Rechtsrahmen: Denn wenn die Entstehung zusätzlicher finanzpolitischer Spielräume an transparente, von der Politik selbst zu verantwortende Annahmen geknüpft ist, wäre eine wichtige Zielsetzung von Fiskalregeln erreicht: Anreizkompatibilität. Opposition, Presse und Bevölkerung hätten klare Maßstäbe, mittels derer sie die Regierung finanzpolitisch zur Rechenschaft ziehen könnten; es würde darauf geachtet werden, dass die Regierung ihre eigenen Annahmen auch tatsächlich in die Realität überführt.

Heute besteht diese nur zum Teil. Denn die Schuldenbremse setzt die Anreize sehr kurzfristig und fokussiert sich allein auf die Begrenzung des jährlichen Defizits. Unter ihr gibt es daher den Anreiz Ausgaben zu drücken und mit Sicherheitsabstand die Kreditobergrenze zu unterschreiten. Die impliziten Schulden, welche unterlassene Investitionen und eine unterausgelastete Wirtschaft für die nächsten Generation verursachen, tauchen ja nirgends auf. Ein Anreiz zur langfristigen Nachhaltigkeit besteht nicht. Dies würde sich ändern, wenn die Politik selbst Annahmen zur Beschaffenheit des langfristigen Potenzials treffen müsste, und dann dafür verantwortlich wäre, auf die Verwirklichung der eigenen Annahmen hinzuarbeiten.

Zankapfel Symmetrie

Einen Vorteil hat die Delegation an die Statistik jedoch: Setzt man das Potenzial mit dem, was in der Vergangenheit war, gleich, müssen sich Defizite und Überschüsse per Definition ausgleichen. Die Wirtschaftsleistung kann ja nicht dauerhaft über ihrem eigenen Durchschnitt liegen. Es wird heute oft argumentiert, dass das Grundgesetz genau diesen Ausgleich erforderlich mache mit der Formulierung: „Zusätzlich sind bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen“ (Art. 115 Abs. 2 GG).

Wie Hanno Kube jedoch schreibt, geht „die Bestimmung von einer Regelhaftigkeit von Abschwung und entsprechendem Aufschwung aus“, gegen die schon die heutige Datenlage spricht. Sollte der Aufschwung ausbleiben oder im Rahmen des Normalen verbleiben, „könnte sich eine tatsächliche Asymmetrie der konjunkturbedingten Modifikationen der Staatsverschuldung über die Zeit ergeben“. Korioth und Müller sehen allenfalls einen „teleologischen Leitgedanken“ in der Annahme des Gesetzgebers. Aus der ökonomischen Sichtweise ergibt sich die Problematik, dass in der Wissenschaft zeitweise angenommen wurde, dass es keine dauerhaften Abweichungen vom Potenzial geben könne, Unterauslastung kein dauerhafter Zustand wäre. Erst nach der Finanzkrise und damit auch nach Einführung der Schuldenbremse machte man Erfahrungen mit dauerhafter Unterauslastung. Nach heutigem Forschungsstand hält die Annahme, die bei Einführung der Schuldenbremse zugrunde gelegen haben mag, nicht mehr.

In der Zusammenschau scheint es also, als ob eine Symmetrie der geschätzten Auf- und Abschwünge weder vom Grundgesetz erzwungen wird, noch von der tatsächlichen Entwicklung der Wirtschaft stets zu erwarten ist. Während also die Auswirkungen von Auf- und Abschwung auf die gestattete Neuverschuldung symmetrisch sein müssen, können Auf- und Abschwung selbst mit einer gewissen mittelfristigen Asymmetrie festgestellt werden.

Besen, Besen seid‘s gewesen

Statistik ist mächtig und nahezu grenzenlos weiterentwickelbar. Aber was nicht in den Zahlen steckt, kann auch der klügste Kopf ihnen nicht entlocken. In Reaktion auf dieses Rätsel hat sich das Verfahren zur Berechnung des Produktionspotenzials zu einer eigenen Wissenschaft ausgewachsen. Ein Dickicht aus Varianzbegrenzungen, Kalmanfiltern und Arimaprozessen ist entstanden, welches der Haushaltshoheit des Parlaments nur in sehr theoretischer Form unterstellt ist. Auch seine wissenschaftliche Begründung ist schwach: In ihren Details ist die Methode nur begrenzt ökonomisch fundiert.

Wie in Goethes Zauberlehrling hat sich hier ein Werkzeug verselbstständigt und droht nun, mit seiner Eigenlogik die Selbstbestimmung des eigentlichen Souveräns einzuschränken. Wollte man in den jetzigen Koalitionsverhandlungen neben der Beschaffung zusätzlicher Spielräume auch etwas für die Redemokratisierung und nachhaltige Aufstellung der Finanzpolitik tun, wäre die Konjunkturkomponente — und insbesondere die Schätzung des Produktionspotenzials — kein schlechter Ansatzpunkt.