Hoffentlich keine Odyssee – Der Beitritt der EU zur EMRK
Seit dem 4. Juli 2013 liegt der Entwurf eines Übereinkommens zum Beitritt der EU zur EMRK auf dem Prüfstand des EuGH. In diesem Zusammenhang hat Daniel Thym die Frage aufgeworfen, ob ein EMRK-Beitritt der EU als „trojanisches Pferd“ in den Mauern des Unionsrechts dessen Effektivität bedrohe. Marten Breuer hat diesen Vorwurf zurückgewiesen: Von einem Danaer-Geschenk könne keine Rede sein. Diesem Ergebnis schließe ich mich gerne an – wenn auch mit zum Teil anderer Begründung.
Wie beide Autoren bin auch ich überzeugt, dass der EMRK-Beitritt der EU uneingeschränkt zu begrüßen ist. Mit einem beiderseitigen „Ja, ich will“ ist es freilich nicht getan, weil die Eigenartigkeit der EU und die klassische Ausrichtung der EMRK auf Staaten zu Modifikationen zwingt. Die gravierendste Änderung ist der neue „co-respondent mechanism“, um den auch die Kritik von Daniel Thym kreist, die sich in drei Fragen re-formulieren lässt:
– Warum sind die EU-Mitgliedstaaten (und nicht die EU selbst) „primärer“ Beschwerdegegner vor dem EGMR, selbst wenn das mitgliedstaatliche Handeln unionsrechtlich determiniert ist?
– Warum soll die EU nur dann Mit-Beschwerdegegner („co-respondent“) werden, wenn die Vereinbarkeit von Unionsrecht mit der EMRK in Frage steht (und nicht auch in weiteren Fällen mit Unionsrechtsbezug)?
– Wird die effektive Wirksamkeit des Unionsrechts dadurch in Frage gestellt, dass nationale Gerichte womöglich auf eine Vorlage zum EuGH verzichten, weil dieser auch noch im Verfahren vor dem EGMR angerufen werden kann?
Der richtige Beschwerdegegner
Um ein vollständiges Bild aller Fallgruppen mit EU-Beteiligung zu zeichnen, muss man sich zunächst vor Augen führen, dass der indirekte Vollzug des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten zwar die Regel ist (Art. 291 Abs. 1 AEUV). Die Ausnahme, nämlich der Vollzug von Unionsrecht durch die EU selbst, spielt in der Praxis aber ebenfalls eine wichtige Rolle: Gerade in wirtschaftsrelevanten Bereichen wie dem Marken-, Kartell- und Beihilfenrecht entscheidet die EU mit unmittelbarer Wirkung gegenüber dem Einzelnen, dem hiergegen der Rechtsweg zu den Unionsgerichten offen steht. In diesen Fällen des direkten Vollzugs wird die EU nach dem Beitritt zur EMRK wie jede andere Vertragspartei behandelt. Der Einzelne kann seine Beschwerde zum EGMR – nachdem er den Rechtsweg zu den Unionsgerichten erschöpft hat – unmittelbar gegen die EU richten. Sie ist in diesen Fällen der richtige und alleinige Beschwerdegegner, denn sie allein ist dafür verantwortlich, dass ihr Handeln mit der EMRK vereinbar ist. Die EU-Mitgliedstaaten bleiben in dieser Konstellation (richtigerweise) völlig außen vor.
Anders ist es in Fällen des indirekten Vollzugs: Wer auch immer die „Verfechter der supranationalen Gemeinschaftsmethode in Reinform“ (von denen Daniel Thym spricht) sein mögen. Sie verkennen den Charakter der EU als Mehrebenensystem, wenn sie in derartigen Durchführungskonstellationen die EU als „primären“ Beschwerdegegner identifizieren und ihr die „alleinige rechtliche Verantwortung“ für einen (etwaigen) EMRK-Verstoß zuweisen wollen. Aus der Perspektive des Beschwerdeführers trifft ihn ein nationaler, nicht ein supranationaler Rechtsakt. Gegen diesen beschreitet er den nationalen Rechtsweg. Ein etwaiges Vorabentscheidungsverfahren (so es denn überhaupt betrieben wird) kann nie die abschließende Entscheidung des nationalen Gerichts ersetzen, gegen die sich dann auch die Individualbeschwerde zum EGMR richtet. Es ist deshalb – im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR – richtig, den betroffenen Mitgliedstaat nicht aus seiner EMRK-rechtlichen Verantwortung zu entlassen: Er ist und bleibt in den Fällen des indirekten Vollzugs der richtige Beschwerdegegner.
Der richtige Mit-Beschwerdegegner
Wer mit Marten Breuer meint, dass auch die EU in Durchführungskonstellationen „primärer Beschwerdegegner“ sein könne und die Mitgliedstaaten dann als Mit-Beschwerdegegner fungierten, verdreht Sinn und Zweck dieses prozessualen Instituts: Der Urheber des streitentscheidenden Rechts soll am Verfahren als Mit-Beschwerdegegner beteiligt werden, ohne dass sich hierdurch etwas daran ändern würde, dass der auf dieser Grundlage gegenüber dem Einzelnen Handelnde EMRK-rechtlich der richtige Beschwerdegegner bleibt. Das folgt auch aus Art. 3 Abs. 3 des Entwurfs, wenn man ihn vollständig liest:
„Where an application is directed against the EU, the EU member States may become co-respondents to the proceedings in respect of an alleged violation notified by the Court if it appears that such allegation calls into question the compatibility with the rights at issue defined in the Convention or in the protocols to which the EU has acceded of a provision of the TEU, the TFEU or any other provision having the same legal value pursuant to those instruments, notably where that violation could have been avoided only by disregarding an obligation under those instruments.“ (Hervorhebung und Abkürzungen nicht im Original)
Mit anderen Worten: Nur wenn EU-Primärrecht (angeblich) gegen die EMRK verstößt, können die EU-Mitgliedstaaten als Mit-Beschwerdegegner am Verfahren vor dem EGMR beteiligt (und ggf. auch von diesem mit-verurteilt) werden. Warum gibt es diese Beschränkung im umgekehrten Fall (EU als Mit-Beschwerdegegner bei Beschwerde gegen einen EU-Mitgliedstaat) nicht? Weil die Logik des „co-respondent mechanism“ für die EU-Mitgliedstaaten nur in diesem (wenig wahrscheinlichen) Sonderfall greift: Sie setzen als „Herren der Verträge“ den primärrechtlichen Rahmen für das Handeln der Organe der EU. Wenn nun aber nicht deren Handeln, sondern (schon) der Rahmen das konventionsrechtliche Problem auslöst (mit anderen Worten: nur primärrechtswidriges Handeln der Unionsorgane EMRK-konform wäre), sollen die Mitgliedstaaten der EU auch die Möglichkeit erhalten, „ihr“ Primärrecht als Mit-Beschwerdegegner zu verteidigen. Gleichzeitig träfe sie im Fall einer Verurteilung auch die völkerrechtliche Verpflichtung, den EMRK-Verstoß abzustellen. Die EU allein könnte dies nicht, weil sie ihre Verträge nicht selbst ändern kann.
Umgekehrt gibt es keinen Grund, warum die EU-Mitgliedstaaten in Durchführungskonstellationen als Mit-Beschwerdegegner fungieren sollten. Sie haben das EU-Sekundärrecht nicht zu verantworten. Nur derjenige Mitgliedstaat, der den Beschwerdeführer – und sei es aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben – belastet hat, muss hierfür völkerrechtlich einstehen und zwar – wie gehabt – als Beschwerdegegner (nicht: Mit-Beschwerdegegner). Richtiger Mit-Beschwerdegegner ist die EU, wenn die (behauptete) EMRK-Verletzung letztlich auf EU-Recht zurückzuführen ist. So wird auch sichergestellt, dass die EU völkerrechtlich für ihr Recht verantwortlich zeichnet.
Die richtige Anwendungsschwelle
Folgerichtig wird der Mit-Beteiligungsmechanismus nach Art. 3 Abs. 2 des Entwurfs immer dann aktiviert, wenn eine Beschwerde die EMRK-Konformität von EU-Recht (gleich welcher Rangstufe) in Zweifel zieht, nämlich wenn die (behauptete) EMRK-Verletzung nur durch die Missachtung von EU-Recht hätte vermieden werden können. Daniel Thym hält diese Anwendungsschwelle für „zu eng konzipiert“, dabei ist sie goldrichtig. Es gibt keinen Grund die EU als Mit-Beschwerdegegner zu beteiligen, wenn der EMRK-Verstoß für den EU-Mitgliedstaat vermeidbar war, weil das Unionsrecht entsprechende Spielräume ließ. EMRK-Konformität kann in diesen Fällen erreicht werden, ohne dass die EU ihr Recht ändern müsste. Hinzu kommt, dass die Beteiligung der EU als Mit-Beschwerdegegner das Verfahren zwangsläufig verkompliziert und weitreichende Abstimmungspflichten zwischen der EU und dem betroffenen Mitgliedstaat auslöst.
Die Nicht-Beteiligung als Mit-Beschwerdegegner bedeutet nicht, dass die EU vom Verfahren ausgeschlossen wäre. Die auch schon bislang erfolgreich (Bosphorus) genutzte Möglichkeit der Drittbeteiligung nach Art. 36 Abs. 2 EMRK besteht nach wie vor! Auf diesem Weg kann der unionsrechtliche Rahmen, in den das nationale Recht eingebettet ist, vor dem EGMR erläutert werden (siehe auch Rn. 46 des erläuternden Berichts: „It is understood that a third party intervention may often be the most appropriate way to involve the EU in a case“).
Freilich muss gleichzeitig sichergestellt werden, dass die Anwendungsschwelle korrekt gehandhabt wird. Die EU muss sich als Mit-Beschwerdegegner beteiligen, wenn ihr Recht den (behaupteten) EMRK-Verstoß verursacht hat. Zu Recht hat Tobias Lock auf die entsprechende – völkerrechtlich bindende – einseitige Erklärung der EU hingewiesen. Es spricht nichts dagegen, dass der EuGH in seinem Gutachten im Hinblick auf Sinn und Zweck des Beitritts auch noch einen entsprechenden unionsrechtlichen Automatismus postuliert; für eine politische Entscheidung nach Art. 218 Abs. 6 AEUV ist in der Tat kein Raum (von der Praktikabilität mal ganz abgesehen).
Das richtige Maß zwischen Autonomie und Effektivität des Unionsrechts
Das Beitrittsübereinkommen bemüht sich ersichtlich darum, die Autonomie des Unionsrechts und das Auslegungsmonopol des EuGH zu schützen. Angesichts der Vorgaben aus dem Gutachten 1/91 zum EWR-Abkommen besteht hierzu auch Anlass genug. Die Effektivität des Unionsrechts muss hierunter aber nicht leiden: Wie Marten Breuer zu Recht ausführt, ändert der Beitritt der EU zur EMRK nichts an der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Wenn sich der EuGH – aus gerichtspsychologischer Perspektive – darum sorgt, dass dies durch den Beitritt in Vergessenheit geraten könnte, kann er diese Selbstverständlichkeit im Gutachten ohne weiteres klarstellen.
Im Übrigen glaube ich, dass die Attraktivität des Vorabentscheidungsverfahrens – erst recht im Hinblick auf das Vorlagerecht aus Art. 267 Abs. 2 AEUV – vor allem auf seinen Nutzen für die praktische Rechtsanwendung zurückzuführen ist: Geringe Verfahrensdauer, nachvollziehbare Urteile und die – gerade aus gerichtspsychologischer Perspektive – nicht zu unterschätzende Möglichkeit, nationales Recht und missliebige obergerichtliche Rechtsprechung auszuhebeln, sind meines Erachtens die entscheidenden Faktoren. Sie bleiben durch den EMRK-Beitritt unberührt und unterliegen weiterhin der Steuerungskraft des EuGH.
Auch hat Marten Breuer Recht, wenn er den „Fehler“ im Unionsrecht verortet, das eben keinen verlässlichen Sanktionsmechanismus für Nichtvorlagen vorsieht. Der EMRK-Beitritt macht ihn lediglich „sichtbar“, weil nun die – vom EuGH sofort erkannte – Gefahr bestand, dass eine externe Kontrolle (durch den EGMR) stattfindet, ehe eine interne Kontrolle (durch den EuGH) erfolgt ist. Daher räumt das Beitrittsübereinkommen dem EuGH ausreichend Zeit ein, das Unionsrecht doch noch vorab auf seine Vereinbarkeit mit der EMRK zu prüfen. Hierzu besteht aber nur dann Veranlassung, wenn diese Frage auch in Straßburg verhandelt wird, d.h. nur wenn die EU dort Mit-Beschwerdegegner ist.
Langfristig könnte sich eine aufgeschlossene Haltung des EuGH zum EMRK-Beitritt gerade im Hinblick auf die Sanktionierung von Nichtvorlagen auszahlen: Es erscheint mir nicht ausgeschlossen, dass der EGMR zukünftig die Nichtvorlage an seinen Compagnon in Luxemburg in stärkerem Maße als bisher als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK ahnden wird. Auf diese Weise würde die Effektivität des Unionsrechts deutlich befördert und gleichzeitig ein echtes Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und EGMR begründet. Erzwingen lässt sich eine solche Entwicklung allerdings nicht.
Die richtige Antwort
Für die von Daniel Thym ins Spiel gebrachte (vermeintlich) „mutige Lösung“, nämlich die Rückkehr zum Verhandlungstisch, müsste der EuGH die Primärrechtswidrigkeit des geplanten Beitrittsübereinkommens feststellen. Dieses harte Verdikt kann schwerlich mit eher vagen Befürchtungen hinsichtlich der Effektivität des Unionsrechts begründet werden. Im Übrigen ist es keineswegs ausgemacht, dass Nach-Verhandlungen zügig abgeschlossen werden können. Die „Segelanweisung“ des EuGH mag noch so klar sein, jedenfalls für die Vertragsparteien der EMRK, die nicht EU-Mitglieder sind, ist sie alles andere als bindend.
Um in der Mythologie zu bleiben: Eine Odyssee gilt es zu vermeiden! Der EuGH hat Pläne zum Beitritt der damaligen EG zur EMRK bekanntlich schon einmal gestoppt. Es dauerte mehr als eine Dekade bis das hierdurch errichtete Hindernis aus dem Weg geräumt war (durch den mit dem Vertrag von Lissabon neu eingefügten Art. 6 Abs. 2 EUV). Anstatt die Kommission wieder auf das offene Meer der Verhandlungen hinauszuschicken, kann der EuGH das ausgehandelte Gesamtpaket für primärrechtskonform erklären, ohne seine Verantwortung für die Integrität der Unionsrechtsordnung zu vernachlässigen. Es ist ihm unbenommen, die Effektivität des Unionsrechts (und seine eigene Rolle hierbei) durch entsprechende Klarstellungen im Gutachten abzusichern. Nicht zuletzt würde der EuGH durch ein solches Vorgehen, dem Vorbild anderer (nationaler) Verfassungsgerichte bei der Überprüfung völkerrechtlicher Verträge folgen – und selbst einen Schritt auf dem Weg zu einem echten Unionsverfassungsgericht gehen.