09 March 2017

Humanitäre Visa für Flüchtlinge, Teil 2: wirklich keine Angelegenheit der EU?

Sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, Flüchtlingen – insbesondere aus Syrien – unter bestimmten Umständen humanitäre Visa zu erteilen? Der EuGH hat hierzu am Dienstag im Urteil zur Rs. X und X v Belgien knapp verkündet: Der EU-Visakodex sei nicht anwendbar, die Frage also nicht im Unionsrecht geregelt.

Generalanwalt Mengozzi hatte dem Gerichtshof seinen Schlussanträgen in deutlichen Worten eine ganz andere Antwort vorgeschlagen: Der Visakodex sei anwendbar. Daher sei die Grundrechte-Charta der EU zu beachten. Aus deren Art. 4 folge unter bestimmten Umständen eine Pflicht zur Erteilung humanitärer Visa. Diesen rechtlichen Fragen widmet sich der Beitrag.

Die politische Brisanz der Entscheidung liegt auf der Hand: Mit einem Visum könnten Flüchtlinge legal in die EU einreisen und dort Asyl beantragen. Eine Pflicht zur Erteilung humanitärer Visa hätte daher weitreichende Konsequenzen für die Flüchtlingspolitik der EU gehabt.

Kurzer Prozess vor dem EuGH: Keine Angelegenheit der EU

Dem Urteil des EuGH liegt die Vorlage eines belgischen Gerichts zugrunde. Im Ausgangsverfahren ging es um die Ablehnung von Visumsanträgen einer syrischen Familie durch der belgischen Botschaft im Libanon. Der Sachverhalt und die Entscheidung wurden bereits in Teil 1 dieses Beitrags vorgestellt. Das Argument des EuGH (Rn. 38-51) ist so schlicht wie kurz. Der Visakodex regele nur Kurzzeitvisa für Aufenthalte von maximal 90 Tagen. Visa für längere Zeiträume unterfielen der alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Klar ist, dass die Antragsteller beabsichtigen, nach Einreise in Belgien Asylanträge zu stellen. Hieraus schließt der EuGH: Eigentlich handele es sich gar nicht um ein Kurzzeitvisum. Der Fall sei also nicht im Unionsrecht geregelt, sondern richte sich ausschließlich nach nationalem Recht. Dies entspreche der unionsrechtlichen Kompetenzordnung und der Konzeption des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – eben als Asylsystem (fast) ohne legale Zugangswege. Für diese Zurückhaltung des EuGH mag sprechen, eine politisch so relevante Frage dem Gesetzgeber zu überlassen. Dieser beschäftigt sich schon seit Längerem mit einer Reform des Visakodex und der Frage humanitärer Visa. Aber: ist das Ergebnis des EuGH aus rechtlicher Sicht überzeugend?

Deutliche Zweifel hieran wurden bereits in Teil 1 geäußert. Dieser Beitrag widmet den Schlussanträgen ein besonderes Augenmerk. Obwohl diese nicht rechtlich bindend sind, folgt der EuGH dem Vorschlag in aller Regel. Nicht so hier. Eine genauere Betrachtung der Anträge des Generalanwalts lohnt sich trotzdem (daher ausführlich dazu auch hier und hier, hier sowie hier): Erstens sind dessen Argumente für die politische Diskussion um die Reform des Visakodex relevant. Die Schlussanträge sind ein Signal an Union und Mitgliedstaaten – aufgrund der teils ungewöhnlich starken Sprache geradezu ein Appell, der in seiner Deutlichkeit an das Votum von Richter Pinto de Albuquerque zum Hirsi-Urteil des EGMR erinnert. Zweitens geben die Schlussanträge der juristischen Diskussion um legale Zugangswege eine neue Richtung, indem sie sich auf den bisher in diesem Kontext zu wenig beachteten Art. 4 GRCh stützen.

Humanitäre Visa: wirklich keine Angelegenheit der EU?

Entgegen der Ansicht des EuGH kommt Generalanwalt Mengozzi zu dem Ergebnis, dass der Visakodex anwendbar sei. Die Absicht der Visumsantragsteller, in Belgien Asyl zu beantragen, ändere nichts an der Qualifikation des Visumsantrags. Diese seien Anträge auf Kurzzeitvisa – und damit nach dem Visakodex zu behandeln (Rn. 42-70, dazu auch Teil 1).

Die syrische Familie hatte ihre Visumsanträge auf den Visakodex gestützt. Die belgischen Behörden sowie das Vorlagegericht gingen ebenfalls von der Anwendbarkeit des Visakodex aus. Dies entspricht der herrschenden rechtwissenschaftlichen Ansicht und ergibt sich aus der Systematik des Visakodex selbst: Für die Definition des Kurzzeitvisums kommt es nicht auf die Gründe für den Antrag, sondern allein auf die Dauer der beantragten Aufenthaltsgenehmigung an (Rn. 60). Nach Art. 32 (1) (b) Visakodex kann die fehlende Rückreiseintention in bestimmten (nicht hier, siehe Rn. 114-119) Fällen zur Ablehnung des Antrags führen – sie kann also nicht gleichzeitig die Nichtanwendbarkeit des Visakodex zur Folge haben.

Schließlich: Der EuGH scheint nicht konsequent zwischen „Aufenthalt“ und „Aufenthaltstitel“ zu differenzieren. Er schreibt, die Antragsteller „strebten somit (aufgrund der Intention, nach Einreise einen Asylantrag zu stellen) die Erteilung eines Aufenthaltstitels an, dessen Gültigkeit nicht auf 90 Tage beschränkt wäre“ (Rn. 42). Tatsächlich bezieht sich der gestellte Visumsantrag aber auf einen Aufenthaltstitel nur für 90 Tage. Der weitere, erst dann insgesamt 90 Tage überschreitende Aufenthalt soll durch einen anderen, asylrechtlichen Aufenthaltstitel legalisiert werden. Diese Absicht verändert nicht den Gegenstand des Visumsantrags – nämlich: ein Visum für 90 Tage. Auch dies spricht für die Anwendbarkeit des Visakodex.

Grundrechte-Charta der EU: Geltung jedenfalls bei Anwendung des Visakodex

Selbst wenn man mit dem EuGH annimmt, dass der Antrag nicht dem Visakodex unterfalle, könnte überlegt werden, ob die GRCh aus anderen Gründen anwendbar ist. Dies hat der EuGH nicht getan – und auch hier kann dem nicht nachgegangen werden. Hält man den Visakodex hingegen (wie hier) für anwendbar, stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit der GRCh zwingend. Generalanwalt Mengozzi bejaht dies klar begründet (Rn. 74-108).

Art. 51(1) GRCh legt fest, dass die GRCh „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt. Bei der Ablehnung eines Antrags nach dem Visakodex handelt es sich um Durchführung von Unionsrecht. Ein Territorialitätskriterium enthält die GRCh nicht – sie ist unabhängig davon anwendbar, wo die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen: Belgien ist auch im Libanon zur Beachtung der GRCh verpflichtet.

In der juristischen Diskussion um eine etwaige Pflicht zur Erteilung humanitärer Visa hat sich bisher vor allem auf Art. 3 EMRK und Art. 33 GFK konzentriert. Hier ist vieles umstritten – und für die Argumentation mit der GRCh irrelevant.

Konsequenz: Pflicht zur Erteilung humanitärer Visa nach Art. 4 Grundrechte-Charta?

Geht man von der Anwendbarkeit der GRCh, ist die nächste Frage, ob sich aus dieser unter bestimmten Umständen eine Pflicht zur Erteilung humanitärer Visa ergibt. Auch diese Frage bejaht Generalanwalt Mengozzi (Rn. 109-163).

Art. 25 (1) Visakodex lautet: „Ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit wird in folgenden Ausnahmefällen erteilt: a) wenn der betreffende Mitgliedstaat es aus humanitären Gründen (…) für erforderlich hält (…)“. Unabhängig davon, ob trotz der unklaren Formulierung ein Ermessensspielraum besteht (Teil 1), oder ob es sich um einen Beurteilungsspielraum bei der Auslegung des Begriffs „humanitäre Gründe“ handelt (Rn. 126): Jedenfalls ist bei der Ausübung des Spielraums die GRCh zu beachten. (Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil in der Rs. N.S. und Erwägungsgrund 29 Visakodex). Wenn nur eine bestimmte Entscheidung im Einklang mit GRCh steht, ergibt sich hieraus eine Ermessensreduktion auf Null – gegebenenfalls eine Pflicht zur Erteilung des Visums.

Welche Grundrechte sind nun bei der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines humanitären Visums zu beachten? In Betracht kommt insbesondere das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aus Art. 4 GRCh und das Asylrecht aus Art. 18 GRCh. Generalanwalt Mengozzi folgert schon aus Art. 4 GRCh eine Pflicht zur Visumserteilung und äußert sich daher nicht mehr zu Art. 18 GRCh. Letzteres wäre deshalb interessant gewesen, weil diskutiert wird, ob Art. 18 GRCh ein subjektives Recht auf Asyl verleiht – und damit argumentative Anhaltspunkte für ein Zugangsrecht geben könnte.

Verpflichtet Art. 4 GRCh die Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen zur Erteilung eines humanitären Visums nach Art. 25 (1) (b) Visakodex? Das Verbot unmenschlicher Behandlung kann nicht aufgrund politischer Erwägungen relativiert werden: Art. 4 GRCh gilt auch „in Anbetracht des Drucks eines wachsenden Zustroms von Migranten und internationalen Schutz suchender Personen“ (Rn. 138). Grundrechte können negative Unterlassungspflichten oder positive Schutzpflichten enthalten. Unter Verweis auf Rechtsprechung von EGMR und EuGH kommt Generalanwalt Mengozzi zu dem Ergebnis, dass Art. 4 GRCh auch „eine positive Verpflichtung“ enthält, also den Mitgliedstaaten „vorschreibt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Personen (…) unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden, auch wenn die Misshandlungen von Privatpersonen ausgehen“ (Rn. 139).

Wie weit reicht diese Schutzpflicht aus Art. 4 GRCh? Das ist die rechtlich und politisch spannendste – und schwierig zu entscheidende – Frage. Die Argumentation des Generalanwalts verliert an dieser Stelle leider etwas an Schärfe. Zunächst untersucht er, ob eine auf der Visaverweigerung beruhende „Gefahr besteht, dass eine Person einer nach Art. 4 GRCh verbotenen Behandlung ausgesetzt wird“ (Rn. 141). Trotz der Zuständigkeit des nationalen Gerichts für die Tatsachenermittlung weist Generalanwalt Mengozzi auf die „apokalyptische Situation“ in Syrien hin (Rn. 146). Er kommt zu dem Ergebnis, dass „die absehbaren Folgen der (Visumsablehnungen) den Antragstellern des Ausgangsverfahrens nur die Wahl ließen, sich entweder den (Leiden in Syrien) (…) auszusetzen, die sogar zu ihrem Tod führen können, oder bei dem Versuch, illegal das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu erreichen, (…) andere vergleichbare Behandlungen zu erfahren“ (Rn. 150). Seit syrische Flüchtlinge im Libanon nicht mehr registriert werden, verstoßen auch die Bedingungen dort gegen Art. 4 GRCh. Daher habe die „Weigerung das beantragte Visum zu erteilen, (…) zur unmittelbaren Folge, dass die Antragsteller (…) dazu veranlasst werden, ihr Leben und das ihrer drei kleinen Kinder in Gefahr zu bringen, um ihr Recht auf internationalen Schutz auszuüben“ (Rn. 159). Deshalb, so schließt Mengozzi, sei ein Mitgliedstaat in einer Situation wie der des Ausgangsfalls verpflichtet, ein humanitäres Visum zu erteilen.

Verpasste Chance des EuGH? Schlussanträge als Chance für politischen Reformprozess?

Sind die Mitgliedstaaten der EU aufgrund ihrer gemeinsamen Werte und Grundrechte in bestimmten Fällen verpflichtet, legalen Zugang zu ermöglichen? Die sich in diesem Kontext stellenden, grundsätzlichen und umstrittenen rechtlichen Fragen werden durch das kurze und ausweichend wirkende Urteil des EuGH nicht geklärt.

Art. 2 und 3 EUV lauten: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde (…) und die Wahrung der Menschenrechte (…).“ „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen (…).“ Im vergangenen Jahr 2016 sind mindestens 5096 Menschen bei dem Versuch, europäischen Boden zu erreichen, im Mittelmehr ertrunken oder werden weiterhin vermisst – wobei das nur die von UNHCR registrierten Fälle sind. Die Zahl der Toten war nie höher. Allein in diesem Jahr 2017 sind es schon 522 Tote und Vermisste. Ganz zu schweigen von den – für Syrer weniger relevanten – Zuständen in lybischen sogenannten Privatgefängnissen für Flüchtlinge. Der Grund für solches Sterben und Leiden bei dem Versuch, die EU zu erreichen, ist bekannt: Legale Zugangswege zur Europäischen Union fehlen.

Es bleibt abzuwarten, ob und wie die Argumente von Generalanwalt Mengozzi bei der Reform des Visakodex Berücksichtigung finden.

 

„Dieser Beitrag ist gleichzeitig auf dem FlüchtlingsforschungsBlog erschienen.

Das Urteil des EuGH in der Rs. X und X v Belgien (C-638/16) wird im Teil 1 dieses Beitrags näher behandelt.


SUGGESTED CITATION  Ziebritzki, Catharina: Humanitäre Visa für Flüchtlinge, Teil 2: wirklich keine Angelegenheit der EU?, VerfBlog, 2017/3/09, https://verfassungsblog.de/humanitaere-visa-fuer-fluechtlinge-teil-2-wirklich-keine-angelegenheit-der-eu/, DOI: 10.17176/20170310-101622.

3 Comments

  1. Abzuschaffender Fri 10 Mar 2017 at 04:19 - Reply

    Ich lasse mir keine moralische Mitschuld am bedauernswerten Tod von Menschen aufdrücken, die sich bei dem Versuch illegal in die EU einzureisen, selbst in höchste Gefahr bringen.

    Eine moralische Schuld lastet auf genau den Akteuren, die diesen Menschen Hoffnungen auf eine unbegrenzte und unbedingte Aufnahme in der EU machen.

    Viele diese Menschen kommen aus relativer Sicherheit, wie beispielsweise jene Familie Kurdi, deren Schicksal die moralische Bühne für die sogenannte “Flüchtlingskrise” bereitet hat. Die hatten in Istanbul ein Dach über dem Kopf und der Vater hatte Arbeit. Erst _nachdem_ das BAMF das Dublin-Verfahren gekippt hat, machten sich diese Familie auf den tödlichen Weg, den sie nun als frei erachtete.

    Die Toten im Mittelmeer wird es genau dann nicht mehr geben, wenn ausnahmslos jeder, der illegal einzureisen versucht, zurückgeschickt wird.

    Im übrigen bitte ich sich einmal vorzustellen, wie lange die Schlangen vor den Botschaften und Konsulaten weltweit währen, hätte es ein gegenläufiges Urteil gegeben.

    Es gibt keine moralische Verpflichtung zur Selbstzerstörung Europas – selbst die EU wird das nicht schaffen.

  2. Maria Sun 12 Mar 2017 at 09:36 - Reply

    @Abzus…
    Über Menschen wie Sie sagte Karl Marx sagte einst treffend:
    „In Deutschland bildet das Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.“

  3. Abzuschaffender Sun 12 Mar 2017 at 19:00 - Reply

    Über Menschen wie Sie hat Karl Marx treffend nichts gesagt.

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