07 February 2017

Visa für Aleppo

Es gehört zu den großen Perversionen des europäischen Flüchtlingsregimes, dass es die Flüchtlinge, die hier Schutz bekommen, quasi automatisch zu Rechtsbrechern macht. Man kann noch so akut von Tod und Folter bedroht sein – Asyl kann nur beantragen, wer sich bereits im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedsstaats befindet. Dort kommt man aber, wenn man aus Aleppo kommt oder aus Mossul oder aus Kunduz, auf legalem Weg nicht hin. Man kann sich, einmal angekommen, als der schutzberechtigtste Mensch der Welt herausstellen. Aber auf dem Weg dahin muss man sich erstmal notwendig zum Illegalen gemacht haben. Man hat vielleicht das Recht auf Schutz, aber man hatte kein Recht zum Grenzübertritt. Jeder, der hier Schutz will, kommt bereits als Rechtsbrecher hier an, hat sich einzureihen in das Angstbild der besorgten Bürger von der abgerissenen Migrantenmasse der Verzweifelten, der rechtlich Unkanalisierbaren, der inhärent Bedrohlichen.

Zumindest ein Rädchen im großen europäischen Justizmotor will diese große Perversion nicht mehr mitspielen. Ob es ihm gelingt, sie am Ende zu stoppen, ist noch offen. Aber immerhin. Die heute veröffentlichten Schlussanträge des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, Paolo Mengozzi, sind ein Dokument, von dem wir noch lange reden werden, ob sie es nun in die amtlichen Urteilsgründe schaffen oder nicht.

In dem Fall geht es um eine Familie aus Aleppo, deren Vater von einer Terrorgruppe entführt und gefoltert worden war und die wegen ihres christlich-orthodoxen Glaubens in der verwüsteten Stadt ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnte. Die Grenzen zu den benachbarten Ländern sind zu, bleiben können sie nicht – also beantragen sie in Beirut in der belgischen Botschaft ein Visum, um nach Belgien zu fliehen. Das wurde abgelehnt: Wer Asyl beantragen will, dem wird nicht geglaubt, dass er nach Ablauf des Visums wieder ausreist.

Ist Belgien bei der Entscheidung, wem es Visa erteilt und wem nicht, überhaupt durch europäisches Recht in seinem Beurteilungsspielraum beschränkt? Das ist es nach Ansicht von Generalanwalt Mengozzi in der Tat. Jedenfalls müssen die belgischen Behörden dabei die EU-Grundrechtecharta beachten, die in Art. 4 verlangt, niemanden der Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung auszusetzen. Was Mengozzi verlangt, ist nicht unbedingt ein Fern-Asylverfahren, aber doch ein Offenhalten der Visaerteilung für Extremfälle: Wenn wie in diesem Fall wirklich klar ist, dass man von unmenschlicher Behandlung schwerster Art unmittelbar bedroht ist und ohne Visum um sein Recht auf internationalen Schutz gebracht würde, dann muss Belgien das Visum erteilen. Irgendeine Beziehung zu Belgien müsse der Geflüchtete nicht vorweisen: Die Grundrechtecharta kenne kein Prinzip der Territorialität.

Ob das im Detail alles europarechtlich unbedingt zwingend ist, mögen Kundigere beurteilen. Meine Vermutung wäre, dass Mengozzi diese Schlussanträge zumindest auch als Appell an die EU-Mitgliedsstaaten intendiert hat, dass sie so einfach nicht weitermachen können.

Es ist in meinen Augen ausschlaggebend, dass in diesem Moment, da Grenzen geschlossen und Mauern errichtet werden, die Mitgliedsstaaten nicht vor ihrer Verantwortung davonlaufen, die sich aus dem Recht der Union oder, wenn mir diese Ausdrucksweise erlaubt ist, von ihrer und unserer Union ergibt [Übersetzung aus dem Französischen von mir],

schreibt der Generalanwalt zu Beginn in Anspielung auf Trump.

In der RNr. 157 wird Belgien, stellvertretend für alle EU-Mitgliedsstaaten, geradezu zum Angeklagten und Mengozzi zum Staatsanwalt:

Welche Alternativen, um das ganz klar auszusprechen, stünden denn den Klägern zur Verfügung? In Syrien bleiben? Unvorstellbar. Sich unter Lebensgefahr skrupellosen Schleusern ausliefern und die Küsten Italiens oder Griechenland zu erreichen suchen? Unerträglich. Sich damit begnügen, illegale Flüchtlinge im Libanon zu werden, ohne Perspektive auf internationalen Schutz, sogar unter dem Risiko, nach Syrien zurückgeschoben zu werden? Unzulässig [Übersetzung von mir].

Ob der EuGH den Mut aufbringen wird, Mengozzi zu folgen? Was dann los wäre, kann man sich vorstellen. Einstweilen aber besteht der Wert dieser Schlussanträge darin, aktenkundig zu machen, wie sehr die Mitgliedsstaaten mitsamt ihrer heiligen Souveränität über ihre Grenzen versagt haben. Sie haben versagt im Angesicht der Menschheitskatastrophe von Aleppo. Sie haben sich, über folgenloses Händeringen und Zeigefingerschwenken hinaus, ihrem Anteil an einer gerechten Verteilung der Verantwortung verweigert. Sie daran zu hindern, dazu ist das Europarecht da – sofern es die Kraft dazu noch aufbringt.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Visa für Aleppo, VerfBlog, 2017/2/07, https://verfassungsblog.de/visa-fuer-aleppo/, DOI: 10.17176/20170208-092501.

25 Comments

  1. Maria Tue 7 Feb 2017 at 21:28 - Reply

    Ich bin mir nicht sicher, ob das Europarecht tatsächlich das richtige Mittel ist, um einen moralischen Appel durchzusetzen. Jedenfalls wäre es wohl (aus rein europarechtlicher Sicht!) die größte Kompetenzanmaßung seit COSTA/ENEL, wenn der EuGH tatsächlich an der domaine reservé, der heiligen Kuh eines jeden souveränen Staates, kratzen und sich in die mitgliedstaatliche Praxis der Visa-Erteilung einmischen würde. Das wäre eine Kompetenzüberschreitung, die sofort das BVerfG mit seiner Identitätskontrolle bzw. ultra vires-Kontrolle auf den Plan rufen würde (die hat es sich ja auch in Mangold noch vorbehalten).

  2. Jessica Lourdes Pearson Tue 7 Feb 2017 at 21:41 - Reply

    Liebe Maria, schön wäre es, wenn die Behauptung einer (bislang hypothetischen) Kompetenzüberschreitung auch noch von rechtlichen Argumenten begleitet würde: Der Generalanwalt legt dar, dass die belgischen Behörden im Ausgangsfall “in Durchführung” des EU-Visakodex (VO Nr. 810/2009) gehandelt haben, also nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh die Europäische Grundrechtecharta beachten mussten. Sehen Sie das anders und, wenn ja, warum?

  3. Maria Tue 7 Feb 2017 at 23:25 - Reply

    Liebe Jessica, das ergibt sich i.m.h.o. aus Art. 77 Abs. 2 AEUV, der nur die Verfahrensmodalitäten bei der Visaerteilung harmonisiert, nicht aber die materiellen Voraussetzungen (anders als bei der legalen Einwanderung, wo bereits materiell-rechtl.
    harmonisiert wird). Siehe auch EG 2 des Visakodex: nach Art. 77 AEUV (ex-Art 62 EGV) werden “Vorschriften über Visa … einschließlich der Verfahren und Voraussetzungen für die Visumerteilung durch die Mitgliedstaaten festgelegt.”

    Das ist sicher nicht in Stein gemeisselt und entspricht auch nicht unbedingt meiner Meinung. Ich gehe aber nicht davon aus, dass das materielle Asylrecht über die RL zum subsidiären Schutz, der Aufnahme- und Unterbringungs-RL hinaus nach den geltenden Verträgen harmonisiert werden kann.
    Lieben Gruß!

  4. Bernd Tue 7 Feb 2017 at 23:50 - Reply

    Ich musste laut lachen, als ich die Meldung eben gelesen habe. Wie weltfremd kann man eigentlich sein?

  5. Sonderlocken Wed 8 Feb 2017 at 00:25 - Reply

    @Jessica Lourdes Pearson,
    wie wäre es mit ein paar faktischen Argumenten?
    Wer im Libanon, das eine Religionsproporz bei der Besetzung der Staatsämter hat, in dem tausende Flüchtlinge, registriert und mit Aufenthaltstitel ausgestattet, von der UNO versorgt, leben, in einer fremden Botschaft ein Visum beantragt, kann kein Kriegsflüchtling im rechtlichen Sinn sein.

    Er war im Libanon nicht verfolgt.
    Er befindet sich in einem sicheren Land, wenn es auch eines der Dritten Welt ist. (Wie Milliarden Andere.)
    Bei seiner Flucht hat er auch darauf verzichtet sich Asyl in Damaskus, einer Stadt in seinem Heimatland, zu suchen, auch dort leben Millionen Menschen, Christen jeglicher Couleurs, Juden, Moslems (Sunniten und Schiiten), Drusen, Katholiken, Alewiten, usw. usf. in relativer Ruhe und Frieden zusammen, wie es übrigens Tausende andere getan haben.

    Der Antragsteller wollte sich scheinbar aber nicht an die Gepflogenheiten des Gastlandes halten und sich registrieren lassen, als Voraussetzung um von der UNO versorgt zu werden und hat sich um Sonderbehandlung bemüht.

    Auf welcher rechtlichen Basis?

    Noch eins: In Aleppo ist nun Frieden, da die vom Westen unterstützten Kopfabschneider von der legitimen Armee und Regierung vertrieben wurden.
    Der Grund für die Flucht hat sich damit erledigt.

    Was also will der Mann mit Familie hier?

    Abschließend: in diesen Ländern der südlichen Welt (die in diesem Fall schon hinter den Alpen beginnt) aber auch in Brasilien, Philippinen oder Südafrika, Niger oder Mali gehört das entführt werden nun mal zum normalen Lebensrisiko eines reichen Mannes.
    Dieses Risiko ist auch nicht Gott gemacht, sondern Werk von den dort lebenden Menschen, die ich nicht gerne in Europa/Deutschland hätte.

  6. Sonderlocken Wed 8 Feb 2017 at 00:59 - Reply

    @Maximilian Steinbeis,
    ich verstehe ja Ihr mitfühlendes Herz, aber hier irren Sie gewaltig.

    “Es gehört zu den großen Perversionen des europäischen Flüchtlingsregimes, dass es die Flüchtlinge, die hier Schutz bekommen, quasi automatisch zu Rechtsbrechern macht.”

    Es ist genau anders herum, sie bekommen hier unberechtigt Schutz, obwohl sie Rechtsbrecher sind.

    Jeder Kriegsflüchtling hat die Möglichkeit sich bei Grenzübertritt in die Obhut der deutschen Staatsorgane zu begeben und Asyl zu beantragen und ihm wird kein Haar gekrümmt, wenn seine Angaben vollständig, wahrheitsgemäß sind und er berechtigt Asyl beantragt.

    Die Leute an unsere Grenze sind keine Kriegsflüchtlinge. Mir ist jedenfalls nicht bekannt das in Österreich Krieg herrscht.

    Wenn sie trotzdem als solche Kriegsflüchtlinge behandelt werden, ist das doppelter Rechtsbruch. Von unserer Regierung und von den Zugereisten.
    ~~~~
    Ein anderer Gedanke.
    Wer einer Regierung, einem Staat den Schutz seiner Grenzen versagt, zwingt den Staat zur Kapitulation.

    Ein solcher Staat ist nicht mehr in der Lage seine Bürger nach innen und außen zu schützen (und will es scheinbar auch nicht) und zerstört damit sein Existenzrecht.

    Bei einer solchen Regierung ist es des Bürgers Recht sich auch gewaltsam zu widersetzen, wie es im GG steht, um den Erhalt und die Funktion des Staates zu sichern.

    Aber das wissen sie ja.

  7. The Populist Wed 8 Feb 2017 at 05:52 - Reply

    Kann man sich in etwa vorstellen wie lang die Schlangen for Botschaften und Konsulaten der EU-Staaten weltweit sein würden, wenn es einen Rechtsanspruch auf ein “Asylantragsvisa in EU-Staaten” geben würde?

    Das offenbare Ansinnen, die weltweiten Flüchtlings-, Armuts- und Menschenrechtsprobleme durch Einwanderung auf das Territorium der EU-Staaten zu lösen, ist nichts anderes als ein von Angela Merkel begründeter, moralischer Größenwahn, der bei Umsetzung in einen Chaos enden würde.

    Seit 70 Jahren befinden sich mehrere hundertausend palästinensische Flüchtlinge im Libanon. Niemand kam in diesen siebzig Jahren auch nur auf die Idee die Länder Europas und deren Bürger für deren Schicksal verantwortlich zu machen und ihnen ein Versagen vorzuwerfen.
    Ebenso traut sich niemand dem syrischen Nachbarstaat und Kriegspartei Israel, das nahezu keine Flüchtlinge aufgenommen hat, irgendeinen Vorwurf zu machen.

    Krokodilstränen!

  8. Maria Wed 8 Feb 2017 at 07:43 - Repl