Im Zweifel gegen die Freiverantwortlichkeit
Das Landgericht Berlin I hat einen pensionierten Arzt wegen Suizidhilfe zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Er habe sich wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft an einer Sterbewilligen strafbar gemacht, die sich unter seiner Aufsicht eine vom ihm zur Verfügung gestellte tödliche Menge Thiopental zugeführt hatte. Auch wenn die Urteilsgründe noch nicht vorliegen, wird man angesichts der ausführlichen Berichterstattung schon jetzt sagen können, dass die Maßstäbe, die der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren zur Suizidassistenz bei psychisch erkrankten Menschen formuliert haben, weder für die Praxis noch für die Tatgerichte verlässliche Leitlinien bieten. Sollte die Argumentation der 40. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin I Bestand haben, werden sowohl Sterbewillige als auch Sterbehelfer ihre Worte künftig genauer wägen müssen, um zu verhindern, dass die Staatsanwaltschaft gegen letztgenannte später strafrechtlich ermittelt. Damit dürfte sich die Chance psychisch Erkrankter, Hilfe bei der Umsetzung ihres Sterbewunsches zu erhalten, bis zu einer Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs bzw. einer gesetzlichen Regelung verringern. Die Anzahl einsamer (gewaltsamer) Suizide könnte steigen.
Der Berliner Fall
Die Anklage, die in den letzten zwei Monaten in Berlin verhandelt wurde, richtete sich gegen einen Internisten, Christoph Turowski, der nach Aufgabe seiner hausärztlichen Praxis Hilfe bei der Selbsttötung leistete.
Turowski war wegen einer solchen Tätigkeit, damals für eine langjährige Patientin, schon einmal beschuldigt und – höchstrichterlich bestätigt – im Jahr 2018 vom Vorwurf freigesprochen worden, sich durch Förderung des Suizids sowie durch das Unterlassen von Rettungsmaßnahmen der Tötung auf Verlangen strafbar gemacht zu haben (i.F. Turowski I).
Diesmal nun wurde er wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft verurteilt, mit der ungewöhnlichen Anmerkung des Vorsitzenden, die Kammer begrüße es, wenn der Verurteilte Rechtsmittel einlege, damit die maßgebenden Rechtsfragen geklärt würden; die bisherige Rechtsprechung sei „im Hinblick auf Leitplanken dürftig, der Gesetzgeber selbst sei untätig“.
Eine mit Blick auf die Rechtsgrundlagen zweifelnde, aber von der Schuld des Angeklagten überzeugte Kammer?
Nach Medienberichten über Turowski I wendete sich die 37 Jahre alte Isabell R. im Jahr 2021 an den nunmehr als Sterbehelfer Tätigen und legte dar, sie leide seit 16 Jahren an Depressionen, habe bereits mehrfach versucht, sich umzubringen, lehne weitere Behandlungsoptionen ab und wolle sterben. Die Einschaltung eines Sterbehilfevereins komme nicht in Betracht, weil das geforderte Gutachten zu teuer sei und zu lange dauere. Eine Kontaktaufnahme Turowskis mit ihren Ärzten und ihrem Umfeld lehnte sie ab. Behandlungsunterlagen legte sie nur unvollständig vor.
Nach einem eineinhalbstündigen Gespräch stellte der Angeklagte Isabell R. zunächst Ende Juni 2021 Tabletten (Wirkstoff Chloroquin) zur Verfügung, um ihr damit den Suizid zu ermöglichen. 12 Tage nach ihrer Begegnung schluckte Isabell R. diese in seiner Anwesenheit und schlief zunächst ein, übergab sich allerdings, trotz Antibrechmittels, nachfolgend und überlebte. Anschließend wurde sie gegen ihren Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht. Von dort nahm sie wieder Kontakt mit Turowski auf, um mit seiner Hilfe erneut anzusetzen, sich zu töten. Nach zweiwöchigem Klinikaufenthalt wurde sie gegen ärztlichen Rat vorzeitig entlassen.
Unmittelbar nach ihrer Entlassung am 12. Juli 2021 begab sie sich in ein zuvor von ihr reserviertes Hotelzimmer und bat den Angeklagten zu sich, der ihr dort eine Infusion mit 7g Thiopental anlegte. Die Frau startete die Infusion und verstarb umgehend.
Die Staatsanwaltschaft klagte Turowski wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft und eines Versuchs dazu an. Die Geschädigte habe zwar die Tabletten selbst eingenommen und die Infusion eigenhändig in Gang gesetzt, allerdings habe sie nicht freiverantwortlich gehandelt, so dass Turowski sie als Werkzeug gegen sich selbst eingesetzt habe.
Der Angeklagte betonte hingegen, er habe sich davon überzeugt, dass Isabell R. zu einer Entscheidung über einen Suizid in der Lage gewesen sei. Sie habe ihm glaubhaft damit gedroht, sich zu erhängen, falls sie keine Hilfe beim Sterben erhalte.
Das Gericht verlas viele Nachrichten, die der Angeklagte und die Verstorbene ausgetauscht hatten. Sie waren ganz überwiegend von ihrem Entschluss zu sterben geprägt, allerdings fanden sich darunter vereinzelt auch solche, die den Willen nahelegten, weiterzuleben. So schrieb sie etwa noch am Todestag: „Ich denke manchmal, es soll wohl doch weiter gehen, auch wenn es hart wird“. Der vom Gericht beauftragte psychiatrische Sachverständige konnte indes keine die Freiverantwortlichkeit zwingend ausschließenden Kriterien ausmachen und wertete die Ambivalenz nicht als eindeutigen Beleg gegen den freiverantwortlichen Willen zu sterben. Allerdings sei dieser krankheitsbedingt beeinträchtigt gewesen.
Die Staatsanwaltschaft argumentierte, der medizinische Begriff der Freiverantwortlichkeit müsse vom juristischen unterschieden werden. Wenn auch aus psychiatrischer Sicht ambivalente Äußerungen nicht zwingend gegen die Freiverantwortlichkeit sprächen, so gelte das nicht aus juristischer Sicht.
Die Kammer sprach Turowski zwar vom Vorwurf der versuchten Tötung frei, verurteilte ihn aber hinsichtlich des Geschehens am 12. Juli 2021 wegen eines minderschweren Falls zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren.
Während Isabell R. beim ersten Suizidversuch möglicherweise noch in der Lage gewesen sei, das Für und Wider abzuwägen und einen konstanten Todeswunsch geäußert habe, sei das mit Blick auf das Geschehen im Juli 2021 nicht der Fall gewesen. Es habe an der erforderlichen Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Wunschs zu sterben gefehlt. Vollständig rationales Bilanzieren sei ihr nicht möglich gewesen.
Überdies habe der Angeklagte auf die Entscheidung von R. Einfluss genommen, indem er ihr auf ihre Bitte hin (wahrheitswidrig) zugesagt habe, bei einem erneuten Fehlschlag gegebenenfalls aktiv „nachzuhelfen“ („Versprochen“). Insoweit habe er ihre Entscheidung durch Täuschung beeinflusst. Turowski hat dazu erklärt, er habe sie lediglich beruhigen wollen.
Leitplanken des BGH und BVerfG
Es kommt nicht häufig vor, dass ein Gericht auf Ausführungen des Bundesgerichtshofs zurückgreifen kann, die dieser in anderer Sache bezüglich desselben Angeklagten getätigt hat. Am 3. Juli 2019 entschied der Bundesgerichtshof in Turowski I, dass ein freiverantwortlicher Entschluss zu sterben, eine natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit sowie einen von Zwang, Täuschung oder Drohung frei gebildeten Willen voraussetze, der „von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen“ sein müsse.
Auch das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass der Entschluss zu sterben, um als freiverantwortlich gelten zu können, „von einer gewissen ‚Dauerhaftigkeit‘ und ‚inneren Festigkeit‘ getragen“ sein müsse. Es nimmt insoweit Bezug auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der am Tag der Verkündung des Urteils Turowski I auch den Freispruch des jetzt im „Essener Fall“ verurteilten Sterbehelfers bestätigt hatte. Das Verlangen, sterben zu wollen, sei „häufig ambivalent und wechselhaft“, was Daten über fehlgeschlagene Suizide bestätigten. Mit der Forderung der Dauerhaftigkeit eines Suizidwunsches könne sichergestellt werden, dass der Entschluss nicht Ausdruck „einer vorübergehenden Lebenskrise“ sei.
Die sterbewillige Person müsse ihre Entscheidung „auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider“ treffen. Dies setze voraus, dass der Entschluss „frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung sei“.
Psychische Erkrankungen stellten eine erhebliche Gefahr für die Freiverantwortlichkeit dar. Untersuchungen zufolge seien in etwa 90% der Suizide psychische Störungen auszumachen, von denen ein signifikanter Teil (ca. 40 bis 60%) auf Depressionen entfiele. Und weiter:
„Depressionen, die häufig – selbst für Ärzte – schwer zu erkennen sind, führen bei etwa 20-25% der Suizidenten zu einer eingeschränkten Einwilligungsfähigkeit (…)“ (Rn. 245).
Zusammengefasst: Die Crux der Depression besteht darin, dass Suizidalität Teil der Krankheit sein kann – aber nicht zwingend sein muss.
Ein weiteres Risiko für die Freiverantwortlichkeit erblickt das Bundesverfassungsgericht in einer mangelnden Aufklärung des Sterbewilligen. Diesem müssten „alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte“ bekannt sein. Dies setze voraus, dass er „über sämtliche Informationen verfügt (…) [um] auf einer hinreichenden Beurteilungsgrundlage realitätsgerecht das Für und Wider abzuwägen.“ Erforderlich sei eine Entscheidung „in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen“. Insoweit gelte dasselbe wie bei der Einwilligung in eine Heilbehandlung.
Vermag die Entscheidung des Landgerichts Berlin auf der Basis der skizzierten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu überzeugen?
„Depressive Augenblicksstimmung“?
Die Kammer hat den Wunsch von Isabell R., ihrem Leben ein Ende zu setzen, offenbar als „depressive Augenblicksstimmung“ (BGH) bzw. „vorübergehende Lebenskrise“ (BVerfG) eingeordnet, was sie aus einzelnen an Turowski gerichteten Nachrichten gefolgert hat, die, „pro Weiterleben“ formuliert waren.
Das wirft die Frage auf, wie die „innere Festigkeit und Zielstrebigkeit“ eines Sterbewunsches zu ermitteln ist und ob dieses Erfordernis neben jenes einer von akuten psychischen Störungen freien Entscheidung tritt oder gerade Kennzeichen des Fehlens einer solchen Störung sein soll. Weder der Entscheidung des Bundesgerichtshofs noch der des Bundesverfassungsgerichts ist hierzu Näheres zu entnehmen.
Begibt man sich auf die Suche nach dem Ursprung der höchstrichterlichen Forderung, so findet man im Urteil Turowski I einen Verweis auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2010, die sich allerdings auf § 216 StGB bezog. Der Wunsch, sich umzubringen, ist allerdings etwas anderes, als von einem anderen zu verlangen, getötet zu werden.
„Freie Suizidentscheidung?“
Fehlt ein zu Lebzeiten des Suizidenten erstelltes Gutachten über dessen Entscheidungsfähigkeit und wird diese in Frage gestellt, dann kommen Gerichte nicht umhin, den psychischen Zustand postmortal auf der Basis von Äußerungen des Suizidenten, Nachrichten und Schilderungen Dritter zu beurteilen.
Dass der Sachverständige sich vorliegend aus medizinischer Sicht schwertat, eindeutige Aussagen zur Freiverantwortlichkeit von Isabell R. zu treffen, ist nicht überraschend, die Überwindung dieser Zweifel durch die Kammer dagegen schon.
Wie unterschiedlich die Beurteilung aus der Sicht von Juristen ausfallen kann, hat sich bereits im Verfahren Turowski I gezeigt. Während das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hatte, äußerte das Kammergericht
„erhebliche Zweifel daran (…), dass der Freitod von einem die Garantenstellung des Angeschuldigten ausschließenden freien Willen getragen war. Anlass zu solchen Bedenken geben die vielfältigen Hinweise auf eine psychische Erkrankung der Suizidentin. Sie hatte bereits als Kind den Wunsch zu sterben. Die erst danach aufgetretene Reizdarmerkrankung wird damit offenbar zu Unrecht als ausschlaggebend für ihren Todeswunsch angesehen. Auch die Diagnose einer sogenannten reaktiven Depression, die der Angeschuldigte als Allgemeinmediziner gestellt und ersichtlich zur Grundlage seiner Tat gemacht hat, ist damit nachdrücklich infrage gestellt. Schließlich geben auch die exzessiven Stimmungsschwankungen, von denen nahestehende Zeugen anschaulich und einheitlich berichten, allen Anlass, an der Ernstlichkeit und Freiverantwortlichkeit des Sterbenswunschs zu zweifeln“ (RDG 2017, 137, 138).
Demgegenüber bejahte das Tatgericht alsdann die Freiverantwortlichkeit und ging von einem „Bilanzselbstmord“ aus, was der Bundesgerichtshof schließlich – trotz möglicher psychischer Beeinträchtigung der Suizidentin – als tragfähig erachtete:
„Zwar erscheint es danach nicht ausgeschlossen, dass Frau D. – durch ihr fortwährendes körperliches Leiden zermürbt – im Zeitpunkt ihrer Selbsttötung aufgrund einer ‚tiefen Verzweiflung‘ psychisch beeinträchtigt war. Indes lassen sich dem Urteil keine Umstände entnehmen, die zur Annahme einer Aufhebung ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit hätten zwingen müssen oder auf ein Handeln aus einer bloßen ‚depressiven Augenblicksstimmung‘ hindeuteten.“ (Rn. 20)
Mit anderen Worten: Der Bundesgerichtshof unterschied klar zwischen der Aufhebung und der Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit und ließ letztere gerade nicht genügen, um die Freiverantwortlichkeit abzulehnen.
„Kenntnis aller erheblichen Umstände“?
Was ist schließlich von der Argumentation des Landgerichts in Turowski II zu halten, die Suizidentin sei durch die (nicht ernst gemeinte) Behauptung des Angeklagten, im Fall eines erneuten Fehlschlags würde er erforderlichenfalls aktiv „nachhelfen“, getäuscht und damit in ihrer Willensbildung beeinträchtigt worden?
Hat Isabell R. infolgedessen nicht (mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts) „in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen“ entschieden?
Bei der Infusion bestand, anders als bei der Einnahme der Tabletten, kein Risiko, zu erbrechen, deswegen nicht genug Wirkstoff aufzunehmen und zu überleben. Die eingesetzte Menge Thiopental (7g) überschritt die vom Hersteller für eine OP maximal vorgesehene Dosis (1g) um ein Vielfaches. Turowski konnte damit berechtigterweise annehmen, dass der Versuch dieses Mal gelingen würde.
Seine Bemerkung „Versprochen“ auf die (sinngemäße) Forderung „Diesmal muss es jedenfalls klappen, gegebenenfalls muss nachgelegt werden“ kann deshalb als knappe Antwort verstanden werden, die vollständig gelautet hätte: „Versprochen. Sie werden sterben. Nachlegen werde ich nicht, darf ich nicht, muss ich aber auch nicht, denn die Dosis ist mit Sicherheit tödlich“.
Genau darauf kam es Isabell R. an. Ihre Entscheidung war daher nicht mit entscheidungserheblichen Mängeln behaftet.
Folgen der Berliner Entscheidung
Man wird schwer in Abrede stellen können, dass Turowski mit seinem Vorgehen – Beschränkung auf ein persönliches Gespräch mit der Sterbewilligen, Verzicht auf die vollständige Vorlage der Behandlungsunterlagen und Befragung des Umfelds, auf ein psychiatrisches Gutachten, auf das „Vier-Augen-Prinzip“ sowie auf gewisse Wartezeiten – „hart am Wind segelte“. Das scheint er inzwischen auch so zu sehen. Die Annahme der Freiverantwortlichkeit einer psychisch Erkrankten nach einem eineinhalbstündigen Gespräch mag man – mit der Kammer – als „hochproblematisch“ ansehen; unvertretbar muss die Einschätzung deswegen nicht zwingend sein.
Geradezu grotesk mutet es an, dass das Bundesverfassungsgericht den Staat zwar in der Pflicht sieht, die Freiverantwortlichkeit Sterbewilliger sicherzustellen, die sich der Hilfe Dritter bedienen wollen, bislang aber weder die Rechtsprechung noch die Politik, die noch immer um Regelungen zur Sicherstellung eben dieser Freiverantwortlichkeit ringt, in der Lage sind, über Worthülsen hinausgehende Verhaltens- und Entscheidungsregeln zu entwickeln. So kommt es, dass Gerichte wie das Berliner Landgericht im Zweifel gegen die Freiverantwortlichkeit entscheiden. Das ist kein guter Rechtszustand.
Das wirft die Frage auf, wie die „innere Festigkeit und Zielstrebigkeit“ eines Sterbewunsches zu ermitteln ist. Außerdem stellt sich die Frage, ob dieses Erfordernis neben jenes Erfordernis tritt, dass die sterbewillige Person frei von akuten psychischen Störungen entscheidet, oder gerade Kennzeichen des Fehlens einer solchen Störung sein soll.