21 February 2021

Immerhin ein Kompromiss

Der Entwurf für ein Lieferkettengesetz

Das Lieferkettengesetz kommt. Nach jahrelangem Ringen haben sich die Koalitionspartner auf einen Referentenentwurf verständigt. Der als Mantelgesetz ausgestaltete Entwurf sieht in Art. 1 ein Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (Sorgfaltspflichtengesetz) vor. Der Streit um die Deutungshoheit über den Entwurf ist nun voll entbrannt. Wird es in Deutschland bald das „bislang stärkste Gesetz in Europa im Kampf für Menschenrechte“ geben oder nur einen „zahnlosen Tiger“? Der gefundene Kompromiss mag unbefriedigend sein, aber der erste Schritt hin zu mehr verbindlicher unternehmerischer Verantwortung für Menschenrechte in der Lieferkette wäre damit gemacht.

Tatsächlich ist auf Druck der Wirtschaftsverbände der Referentenentwurf deutlich weniger weitgehend als die ursprünglichen Überlegungen für ein Lieferkettengesetz. Das gilt vor allem für die gestrichene zivilrechtliche Haftung und noch mehr für die Beschränkung der Sorgfaltspflicht auf die unmittelbaren Zulieferer: Es vermag kaum zu überzeugen, dass nicht einmal die Risikoanalyse – das Fundament der Sorgfaltspflicht – systematisch tiefer in die Lieferkette schauen muss als bis zu den unmittelbaren Vertragspartnern. Denn viele der menschenrechtlich besonders problematischen Konstellationen finden sich gerade in der tieferen Lieferkette – etwa Kinderarbeit bei der Rohstoffförderung, z.B. in Kobaltminen. Hier werden sich Menschenrechtsverletzungen mit dem gewählten Regelungsansatz kaum verhindern lassen. Die anlassbezogene Erweiterung der Sorgfaltspflicht auf die tiefere Lieferkette bei Kenntnis von Missständen löst das Problem nicht. Im Gegenteil: Die Anreizstruktur dieses Mechanismus’ hemmt freiwillige Risikoanalysen hinsichtlich der mittelbaren Zulieferer.

Was die Durchsetzung der Sorgfaltspflicht betrifft, so leistet der Entwurf jedoch Pionierarbeit: Der detailliert ausgestaltete behördliche Vollzug wird in dieser Form weltweit erstmals zur Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten eingesetzt. Durch das robuste behördliche Vollzugsregime ist zu erwarten, dass die Sorgfaltspflicht zumindest auf die unmittelbaren Zulieferer nicht ohne Wirkung bleiben wird.

Was wird geregelt?

Im Kern begründet der Gesetzentwurf eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für bestimmte Unternehmen mit Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung im Inland, die sich zumindest auch auf die unmittelbaren Zulieferer erstreckt (§§ 3 ff. RefE). Ausnahmsweise sind – bei Kenntnis von Missständen – mittelbare Zulieferer in den Blick zu nehmen (§ 10 RefE). Die Sorgfaltspflicht umfasst neben einem allgemeinen Risikomanagement (§ 4 RefE), eine Pflicht zur Durchführung von Risikoanalysen (§ 6 RefE), Präventions- (§ 7 RefE) und Abhilfemaßnahmen (§ 8 RefE). Die Sorgfaltspflicht wird flankiert von einem einzurichtenden Beschwerdeverfahren (§ 9 RefE) sowie von Dokumentations- und Berichtspflichten (§ 11 RefE). Durchsetzen soll diese Pflichten primär das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) als zuständige Behörde (§§ 13 ff., 20 RefE). Daneben soll eine zivilprozessuale Prozessstandschaft die Durchsetzung bereits nach bisherigem Recht bestehender Ansprüche erleichtern (§ 12 RefE). Außerdem ist vorgesehen, dass Verstöße zum Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge führen können (Art. 2 des Mantelgesetzes).

Persönlicher Anwendungsbereich: Stärker als Frankreich, schwächer als der NAP

Mit seiner Bewertung „als bislang stärkstes Gesetz in Europa“ bezog sich Bundesarbeitsminister wohl auf das „konkurrierende“ Pioniergesetz, das französische Sorgfaltspflichtengesetz von 2017 (loi de vigilance). In der Tat geht der Referentenentwurf insofern weiter: Das deutsche Sorgfaltspflichtengesetz soll ab 2023 zunächst für Unternehmen mit mindestens 3.000, ab 2024 dann für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten gelten (§ 1 RefE). Das französische Gesetz findet dagegen nur auf Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten in Frankreich oder 10.000 weltweit Anwendung.

Naheliegend wäre gleichwohl gewesen, sich am Schwellenwert von 500 Beschäftigten im Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) zu orientieren: Denn immerhin sah der Aktionsplan von 2016 vor, dass bis 2020 mindestens 50 Prozent der Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigen die im NAP auf Grundlage der 2. Säule der UN-Leitprinzipien festgelegten Kernelemente menschenrechtlicher Sorgfaltspflicht einhalten sollten. Wenn diese 50 %-Zielmarke nicht erfüllt werde, wollte die Bundesregierung „weitergehende Schritte bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen prüfen“. Ein durchgeführtes Monitoring ergab, das statt der angestrebten 50 Prozent nur ca. 13 bis 17 Prozent der betrachteten Unternehmen die NAP-Anforderungen im Jahr 2020 erfüllten. Konsequenterweise übernahmen die Eckpunkte für das Sorgfaltspflichtengesetz daher den Schwellenwert von 500 Beschäftigten aus dem NAP.

Grenzen der Sorgfaltspflicht in der Lieferkette

Die eingeschränkte Reichweite der Sorgfaltspflicht in der Lieferkette ist die Achillesverse des Entwurfes. Eine der zentralen Konfliktlinien betrifft die Frage, wie weit die Sorgfaltspflicht auch über die eigene Geschäftstätigkeit hinaus in die Lieferkette hineinreichen sollte.

Der Referentenentwurf soll eine abgestufte Verantwortung abbilden: Die höchsten Anforderungen gelten für die eigene Tätigkeit, etwas geringere mit Blick auf unmittelbare Zulieferer und weiter abgeschwächte Pflichten für die mittelbaren Zulieferer. Eine solche mit zunehmender Entfernung in der Lieferkette abnehmende Verantwortung findet sich auch in allen einschlägigen Regelungsvorschlägen in der ein oder anderen Form wieder. Theoretisch kann damit die gesamte vorgelagerte Lieferkette adressiert werden. Die im RefE vorgeschlagene Lösung wird in der Praxis jedoch darauf hinauslaufen, die Sorgfaltspflicht hinter dem unmittelbaren Zulieferer („tier 1“) zu kupieren, sodass von einer Erfassung der gesamten Lieferkette wenig übrig bleiben wird: Zwar sollen sich die allgemeine Sorgfaltspflicht (§ 3 RefE) und das Risikomanagement (§ 4 Abs. 1 Satz 2 RefE) dem Grunde nach auch auf „mittelbare Zulieferer“ in der Lieferkette erstrecken. Die konkreten Maßnahmen der Risikoanalyse (§ 6 RefE), Prävention (§ 7 RefE) und Abhilfe (§ 8 RefE) sind jedoch grundsätzlich auf die unmittelbaren Zulieferer beschränkt.

Sogar die Risikoanalyse – das Fundament der Sorgfaltspflicht – wird damit in der Praxis regelmäßig  auf die unmittelbaren Zulieferer beschränkt bleiben (§ 6 Abs. 1 RefE). Auch Wertschöpfungsstufen mit hohen branchenspezifischen Risiken wie etwa die Rohstoffförderung werden damit systematisch aus der Risikoanalyse ausgeklammert. Durch diese Beschränkung wird es für ein Unternehmen häufig auch schwierig sein, auf Hinweise zu Missständen bei einem mittelbaren Zulieferer ad hoc angemessen zu reagieren. Denn dazu müsste das Unternehmen seine Lieferketten und zumindest die darin liegenden branchen- und länderspezifischen Risiken kennen.

Nur, wenn das Unternehmen positiv „substantiierte Kenntnis“ über eine mögliche Menschenrechtsverletzung bei einem mittelbaren Zulieferer erlangt, muss es diesbezüglich eine entsprechende Risikoanalyse ad hoc durchführen und ggf. Präventions- und Abhilfemaßnahmen ergreifen (§ 10 Abs. 2 RefE). Eine solche positive Kenntnis von Missständen in der tieferen Lieferkette wird das Unternehmen aber nur selten erlangen.

Denn es ist zweifelhaft, ob das Beschwerdeverfahren in § 9 RefE ausreicht, um Informationen über Missstände in der Lieferkette tatsächlich zu Tage zu fördern. Für die Betroffenen ist eine Offenbarung von Missständen regelmäßig mit persönlichen Risiken verbunden. Ein ausreichender Whistleblower-Schutz wird nicht gewährleistet sein. Hinweise auf Missstände werden daher hauptsächlich von NGOs oder Gewerkschaften kommen. Mit begrenzten Ressourcen werden diese jedoch keine systematischen Risikoanalysen durchführen können, wie das ein Unternehmen tun würde.

Erhält das Unternehmen nicht in ausreichendem Umfang Hinweise auf Missstände von Dritten, so kann es solche nur durch eigene Ermittlungen aufdecken. Die Anreizstruktur in § 10 Abs. 2 RefE hemmt aber freiwillige Risikoanalysen hinsichtlich der mittelbaren Zulieferer: Denn dadurch würde das Unternehmen ohne Not das Risiko eingehen, Missstände zu entdecken und damit das erweiterte Pflichtenprogramm aus § 10 Abs. 2 RefE aufleben lassen. Anders formuliert: Verantwortungsvollen Unternehmen, die überobligatorisch die tiefere Lieferkette analysieren, können dadurch einen Rechtsnachteil erfahren. Damit würden aus freiwillig wahrgenommener Unternehmensverantwortung Wettbewerbsnachteile drohen. Das widerspricht dem Zweck des Gesetzes.

Prozessstandschaft statt Haftung

Im Bereich der Durchsetzung konzentrierte sich die politische Kontroverse auf die Frage der zivilrechtlichen Haftungsregelung – ein zentrales Element der französischen Regelung (Art. L. 225-102-5 Code de commerce). Der nun gefundene Kompromiss lässt das materielle Haftungsrecht und das Kollisionsrecht allerdings unberührt. Stattdessen sieht es lediglich eine zivilprozessuale Prozessstandschaft für NGOs und Gewerkschaften vor. Dadurch sollen die Prozessstandschafter die bereits nach geltendem Recht grundsätzlich bestehenden deliktischen Ansprüche für die Betroffenen leichter einklagen können.

An der Klagepraxis wird sich dadurch indes wenig ändern. Denn die bisherigen Hürden bleiben bestehen (Prozesskostenrisiko, Beweisprobleme, Sprachbarrieren und geographische Entfernung, aufwändige Ermittlung der Rechtslage nach dem anwendbaren ausländischen Recht etc.).

Eine zivilrechtliche Haftungsregelung in einem Sorgfaltspflichtengesetz würde nicht nur Schadensausgleich und verbesserten individuellen Zugang zu Recht für die Betroffenen bezwecken. Vielmehr bestünde der Zweck auch darin, das Haftungsrisiko als fiskalisch neutrales und marktnahes Instrument zur präventiven Verhaltenssteuerung einzusetzen. Die Prozessstandschaft wird beide Funktionen nicht erfüllen können.

Weltweit stärkster behördlicher Vollzug

Pionierarbeit wird das deutsche Sorgfaltspflichtengesetz jedoch im Bereich der durchaus robusten öffentlich-rechtlichen Durchsetzung der Sorgfaltspflicht leisten. In dieser Hinsicht könnte der Bundesarbeitsminister sogar davon sprechen, dass es das weltweit stärkste Gesetz ist: Die Sorgfaltspflicht soll im RefE primär per behördlichem Vollzug durchgesetzt werden. Dafür zuständig soll das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr (BAFA) sein und dabei einen risikobasierten Ansatz verfolgen (§ 20 RefE), wie er im modernen Verwaltungsvollzug gängig ist. Die Ansiedelung der Zuständigkeit beim BAFA ist naheliegend, weil dort Erfahrung im Umgang mit Auslandssachverhalten besteht. Der zentralisierte Vollzug durch eine Bundesbehörde ermöglicht es zudem, das erforderliche branchen- und länderspezifische Spezialwissen in der Behörde aufzubauen.

Der behördliche Vollzug weist durchaus einige Vorzüge auf: So greift er auch dort, wo ein individueller, einklagbarer Schaden nicht einzutreten droht. Auch unterstreicht er die präventive Funktion der Sorgfaltspflicht. Anders als der Kläger auf dem Zivilrechtsweg muss die Behörde nicht warten, bis ein Schaden eingetreten ist, der sich nachweislich kausal auf die Verletzung der Sorgfaltspflicht zurückführen lässt. Vielmehr kann die Behörde schon im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung eingreifen, wenn „nur“ die Sorgfaltspflicht – etwa durch eine unterlassene oder ungenügende Risikoanalyse – verletzt wird. Aber auch ein wirksamer behördlicher Vollzug wird die fehlenden verhaltenssteuernden Anreize einer Haftungsregelung nicht voll kompensieren können. Im Ergebnis würden sich die beiden Mechanismen in einem optimalen enforcement mix vielmehr gegenseitig ergänzen.

Punktueller Umweltschutz

Hinsichtlich der umweltbezogenen Sorgfaltspflichten bleibt der RefE hinter dem französischen Gesetz zurück. Dieses enthält zwar nur eine recht offene und generalklauselartige Formulierung zur umweltbezogenen Sorgfaltspflicht; sie soll schwerwiegende Beeinträchtigungen der (nicht näher definierten) „Umwelt“ adressieren („atteintes graves envers… l’environnement“). Gleichwohl hat der französische Ansatz den Vorteil, dass er keine gravierenden Lücken schafft. Solche klaffen dagegen im RefE: Dieser beschränkt den Gegenstand umweltbezogenen Sorgfaltspflicht auf zwei Umweltübereinkommen (Minamata- und POPs-Übereinkommen, § 2 Abs. 3 i.V.m. Nr. 12 und 13 der Anlage RefE). Jenseits der Vorgaben aus den beiden Übereinkommen werden Umweltbeeinträchtigungen nur insoweit relevant, wie sie zugleich individuelle Menschenrechte beeinträchtigen können (vgl. § 5 Nr. 8 RefE). Das könnte man durchaus auch anders gestalten.

Fazit: Der erste Schritt ist gemacht. Weitere werden folgen

Das Lieferkettengesetz ist ein Kompromiss, aber auch ein Anfang. Wenn der Entwurf verabschiedet wird, wäre Deutschland neben Frankreich das einzige Land weltweit mit einem branchenübergreifenden Gesetz zur Regelung einer umfassenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht. Der erste Schritt hin zu einem originären Globalisierungsfolgenrecht wäre damit gemacht. Weitere werden folgen. Der mit den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte 2011 angestoßene, weltweite Trend zu mehr Unternehmensverantwortung lässt sich nicht mehr aufhalten. Mit dem Richtlinienvorschlag des EP-Rechtsausschusses und dem parallel dazu von der Kommission angestoßenen Legislativvorhaben zeichnen sich schon jetzt die nächsten Schritte in dieser Richtung ab.

Der Verfasser dankt Dr. Peter Gailhofer, Prof. Dr. Remo Klinger und Dr. Roda Verheyen für wertvolle Anregungen.