Je suis Charlie! Drei Beobachtungen zu Folgen des Anschlags in Paris
Wer sich für das politische Tagesgeschehen interessiert, wird noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse von Paris stehen – dem widerwärtigen und feigen Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo und damit auf die Grundnormen einer freien Gesellschaft. Vermutlich wird uns die Auseinandersetzung über Konsequenzen und mittelbaren Folgen dieses Terroraktes auch in Deutschland noch lange beschäftigen. Wir werden Houellebecqs neuen Roman Unterwerfung begierig lesen, über Anpassungen im Gefahrenabwehrrecht diskutieren und die Wirrnisse in der Migrationspolitik werden sich weiter steigern. Ziemlich sicher wird auch die religionsrechtliche Ordnung in Deutschland auf die Tagesordnung gesetzt und Verteidiger eines christlichen Kulturvorbehaltes werden sich ebenso bestätigt sehen wie Anhänger eines strikten Laizismus. In all diesen Strängen öffentlicher Orientierung wird es nur mit Mühe gelingen, die Diskussionen mit Augenmaß zu führen. Das zeigte zuletzt schon die Berichterstattung über montägliche Zusammenkünfte in Dresden (Stichwort Pediga): Notwendige Unterscheidungen wie die zwischen Asylrecht, humanitärem Flüchtlingsrecht, EU-Freizügigkeit und gezielter Steuerung volkswirtschaftlich erwünschter Migration schienen da kaum einen zu interessieren. Und wie man ernsthaft meint, demokratische Selbstregierung auf ethnisch-völkischer statt auf republikanischer Grundlage im 21. Jahrhundert denken und leben zu können ist mir eh ein Rätsel.
Solche Debattenstränge antizipierend, zugegeben ganz unter der Impression des Aktuellen und mit einem Auge bei Spiegel Online will ich drei kleine Beobachtungen bloggen, die vielleicht bei der geneigten Leserschaft des Verfassungsblogs auf Interesse stoßen:
1.) Ich konnte dem Straftatbestand der Religionsbeschimpfung noch nie viel abgewinnen. Er steht eben doch im langen Schatten des Blasphemieverbots, auch wenn heute der öffentliche Frieden das geschützte Rechtsgut ist. Da liegt der Gedanke nahe, auf symbolische Weise den überragenden Wert der Kunst- und Pressefreiheit in Deutschland dadurch zu unterstreichen, dass § 166 StGB (Störung des öffentlichen Religionsfriedens) gestrichen wird. Die Norm schafft viele Missverständnisse und ist für einen sinnvollen Rechtsgüterschutz nicht erforderlich, da die Beleidigungstatbestände und der Schutz vor Volksverhetzung einen hinreichenden Schutz des religiösen Friedens garantieren. In der Rechtspraxis ist die Norm bedeutungslos. Aber eine Streichung würde deutlich machen: Die Presse- und Kunstfreiheit hat Vorrang vor dem diffusen Schutz religiöser Gefühle.
2.) Eine große Stärke der deutschen religionspolitischen Ordnung scheint mir, dass sie infolge der Präsenz der Religion im öffentlichen Raum auch Differenzierungen zuzulassen kann. Die staatliche Gemeinschaft kann alle Religionen, auch den Islam als gleichberechtigt behandeln (nicht nur in Fragen der Religionsfreiheit, sondern auch in den besonderen Institutionen des Religionsverfassungsrechts und in Formen symbolischer Anerkennung) und zugleich eine effektive Gefahrenabwehr gegen den religiösen Fundamentalismus betreiben. Sie kann die Einhaltung der Spielregeln demokratischer offener Gesellschaften auch institutionell belohnen (etwa durch Einrichtung theologischer Lehrstühle und eines Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen) und den Bruch solcher Regeln sanktionieren (Ausschluss von Regierungsbegegnungen, aber bei hinreichendem Gewicht auch die Rechtfertigung von Rechtsverkürzungen). Sie kann so öffentliche Debatten über den Unterschied zwischen gefährlichen und produktiven Religionskulturen initiieren und ihre akademische Reflexion befördern, ohne die religiös-weltanschauliche Neutralität und die Religionsfreiheit in Frage zu stellen. Dadurch vermeiden wir in Deutschland bislang jedenfalls ein Klima wechselseitiger Stimulierung der Erregungszustände von radikalisierten Islamkritikern und orthodoxen Muslimen, wie sie Frankreich kennt, wo Religion per se und in jeder Form einfach Privatsache ist.
3.) Diese Vorteile der deutschen Tradition können auf Dauer nur Bestand haben, wenn sich die Muslime in Deutschland entschiedener kritisch mit den theologischen Traditionen auseinandersetzen, auf die sich der militante Islamismus beruft. Es reicht nicht, den Islam gebetsmühlenartig zur Friedensreligion zu erklären; offensichtlich gibt es eben auch eine Gewaltspur (auch) in dieser Religion. Das daraus resultierende Problem lässt sich mit Verweis auf die Schattenseiten der Kulturgeschichte des Christentums besser verstehen, aber in der Relevanz für die Gegenwart eben nicht relativieren. Insbesondere die sich neu etablierende islamische Theologie in Deutschland sollte sich deshalb nicht auf philologische Editionsprojekte beschränken, wie aus den Reihen der Verbandsorthodoxie gefordert, sondern ist aufgefordert, sehr gezielt eine Strategie der Historisierung und Kontextalisierung der islamischen Lehrgebäude betreiben. Ohne diese aus der Religion selbst heraus geleitete und angeeignete Aufklärung über sich selbst ist auf Dauer keine Religion zu zivilisieren.
Von “den” Muslimen in Deutschland zu verlangen, dass sie sich “entschiedener kritisch mit den theologischen Traditionen auseinanderzusetzen, auf die sich der militante Islamismus”, in einem anlässlich des islamistischen Terrors und der Phantomschmerzen der Pegida-Demonstranten geschriebenen Textes, unterscheidet sich nicht wesentlich von den anlässlich kritikwürdiger Entscheidungen der israelischen Regierung erhobenen Forderungen an deutsche Juden, sie mögen sich doch mal kritisch mit eben diesen Entscheidungen auseinandersetzen.
Hmmm, der Vergleich hinkt m.E.: die israelische Regierung begründet ihre Sicherheitspolitik nicht in direktem Rückgriff auf theologische Topoi. Ein passenderer Bezug: ich erwarte von den Kirchen, dass sie sich kritisch auch mit Christen auseinandersetzen, die Xenophobie und Islamfeindlichkeit das Wort reden, wenn diese nicht ihre Mitglieder sind. So gerade im Hinblick auf Pegidia geschehen.
Dass der Vergleich nicht hinkt, sondern auf eine unangenehme Parallele hinweist, belegt meines Erachtens die Replik: Selbst wenn die israelische Regierung ihre Sicherheitspolitik in direktem Rückgriff auf theologische Topi begründen würde, bestünde für deutsche Juden die gleiche Veranlassung sich damit auseinanderzusetzen, nämlich keine. Und ja, von den Kirchen als Institutionen kann und darf man erwarten, dass sie sich auch mit Christen auseinandersetzen, die Xenophobie und Islamfeindlichkeit das Wort reden. Aber “die” Muslime in Deutschland sind Einzelpersonen, die mit islamistischem Terror (noch dazu in Frankreich) genau so viel zu tun haben, wie Christen oder Juraprofessoren in Deutschland und also solchen können sie sich berufen fühlen, sich mit den theologischen Traditionen auf die sich der militante Islamismus beruft, auseinanderzusetzen. Es von ihnen, quasi als Bringschuld, einzufordern, ist nur zusätzliche Ausgrenzung und verstellt den Blick auf das Wesentliche, nämlich dass islamistischer Terror, zumal in Deutschland, ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, kein muslimisches.
“Die staatliche Gemeinschaft”: Wer oder was soll das sein?
“institutionell belohnen”: Meinen Sie das ernst? Welche Hybris spricht aus diesen Worten!
sorry, da fehlte bei “Und ja, von den Kirchen als Institutionen kann und darf man erwarten, dass sie sich auch mit Christen auseinandersetzen, die Xenophobie und Islamfeindlichkeit das Wort reden” ein “, wenn diese nicht ihre Mitglieder sind.” – Betont werden sollte der Unterschied zwischen Institutionen und (einer Mehrzahl von) Individuen.
Die Ausführungen von Jürgen Habermas zu Glauben und Wissen, zu öffentlicher Religion und normativer Moderne scheinen mir recht plausibel. Die sog. Mehrheitsgesellschaft schuldet Respekt gegenüber dem Eigensinn religiöser Traditionen. Aber zugleich sind die Religionen aufgefordert, sich ein produktives Verhältnis zu den säkularen Grundlagen der politischen Ordnung “von innen heraus” zu erarbeiten. Solche Obliegenheit lässt sich an bestimmte Trägergruppen religiöser Kulturen adressieren: politische Repräsentanten, geistliche Eliten, intellektuelle Vordenker. Die Gesellschaft besteht eben nicht nur aus Individuen, sondern es gibt auch Formen der Vergemeinschaftung und intermediäre Institutionen. Die Politik, auch die Religionspolitik, knüpft beständig an solche Erscheinungen an, adressiert sie, paktiert mit ihnen. Die zutreffende Aussage, es gäbe nicht “die” Muslime” geht m.E. am beschriebenen Problem – reflexive Fortschreibung reliöser Tradition unter den Bedingungen einer säkularen politischen Grundordnung – vorbei. Zum Glück gibt es Adressaten solcher Erwartungen: Verbandsvertreter, Imame, eine akademisierte und politisierte Schicht junger Menschen mit Migrationshintergrund.
Die paternalistische Aufforderung an den Islam/die Muslime „sich selbst aufzuklären“ hielt ich bereits für so eindeutig überholt und offensichtlich fehlgeleitet, dass ich sehr überrascht war, ihr in diesem Forum zu begegnen.
Zunächst verfehlt doch diese generelle Aufforderung (und hier stimme ich dem Kommentars von Mark S-W zu) die eigentlich Zielgruppe. Es ist kann ja nicht oft genug „gebetsmühlenartig“ darauf hingewiesen werden, dass sich die meisten Muslime Demokratie, Rechtsstaat, und freie Meinungsäußerung wünschen. Dadurch, dass Sie den Islam generell mit extremistischen Einstellungen in Verbindung bringen (und das tut eine so undifferenzierte Aufforderung an „die Muslime in Deutschland“), ignorieren Sie die Mehrheit der Muslime und übernehmen die Islaminterpretation der gesellschaftlicher Randgruppen (Stichwort: Pegida) und spielen Ihnen dadurch in die Hände.
Außerdem zeugt eben jene Aufforderung von schlichter Unkenntnis des Islams und seiner Geschichte. Es bedarf keiner Zauberkräfte um heraus zu finden, dass es im Islam immer wieder rationalistische Bewegungen gegeben hat und noch immer gibt. Eine der frühsten Aufklärungswellen erfolgte unter den Mutazila vom 8. bis zum 10. Jahrhundert (also wesentlich früher als im „christlichen Abendland“). Gleichermaßen fiel es dem Islam des Mittelalters, dem „klassischen Islam“, tendenziell leichter als dem mittelalterlichen Christentum, nicht nur andere Religionen, sondern auch religionsinterne Widersprüchlichkeiten zu tolerieren (s. dazu „Kultur der Ambiguität“, Thomas Bauer, 2011). Auch der islamkritische Bernard Lewis hat darauf hingewiesen, dass das Judentum im islamischen Mittelalter ein goldenes Zeitalter erlebte. In der Moderne gab es zahlreiche einflussreiche Reformer, wie den ägyptischen Gelehrten Mohammad Abdou oder den frühen Feministen Qasim Amin (geboren 1863) oder den ägyptische Präsident Gamal abdul Nasser, der die wichtigste Bildungsinstitution des sunnitischen Islams verstaatlichte. Das Islamverständnis der meisten Muslime heute ist von diesen Reformern maßgeblich beeinflusst. Vor diesem Hintergrund ist die Warnung vor „orthodoxen Muslimen“ auch nicht ganz nachvollziehbar (ganz abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, seit wann „orthodox“ ein negativ behaftetes Attribut religiöser Weltanschauung ist – weder „orthodoxe Christen“ noch „orthodoxe Juden“ oder sonstige „orthodoxe“ Gläubige sind m.E. in der Vergangenheit durch die Ausübung besonders schwerer Gewalt aufgefallen).
Paradoxerweise sind es also gerade die Muslime, die Ihrer Aufforderung „sich selbst aufzuklären“ augenblicklich ganz besonders inbrünstig folgen, welche verantwortlich sind für den Terror der jüngsten Zeit. Es sind radikale Salafisten und Wahhabiten, welche, sich von dem historischen, orthodoxen Islam abwendend, einen neumodischen, „aufgeklärten“ Islam predigen. Unter Islamwissenschaftlern und Soziologen besteht kein Zweifel daran, dass dieser radikale und strenge Islam ein äußerst modernes Phänomen ist, das sein Vorbild in modernen Ideologien fand. Der Islam der Salafisten ist wie alle Ideologien intolerant und bietet ein geschlossenes einfaches Weltbild, dass sich an modernen Denkmustern orientiert und dem traditionellen und gelassenen Islam extrem feindlich gesinnt ist.
Wesentlich sinnvoller als eine willkürliche Aufforderung zur „Selbstaufklärung“ wäre es also zu fordern, dass der Westen die Unterstützung des Salafismus und des Wahhabismus einstellt, indem darauf verzichtet wird „Rebellen“ in Syrien zu unterstützen und Waffen an Saudi Arabien oder Qater zu liefern. Gleichzeitig sollte endlich die Heterogenität des Islams anerkannt werden und man sollte die Mehrheit der lange schon aufgeklärten Muslime und alle anderen aufgeklärten Menschen in ihrem Kampf gegen Terror und Undifferenziertheit unterstützen.
“Zum Glück gibt es Adressaten solcher Erwartungen: Verbandsvertreter, Imame, eine akademisierte und politisierte Schicht junger Menschen mit Migrationshintergrund.” Das stimmt. Es gibt diese Menschen – aber es ist schlicht und ergreifend falsch und wie der vorherige Kommentator schon bemerkt hat – paternalistisch – a) zu ignorieren, dass diese Erwartungen längst über Soll erfüllt werden (laut der kürzlich veröffentlichten Bertelsmann-Studie bekennt sich doch “die übergroße Mehrheit der vier Millionen Muslime in Deutschland zu den Grundwerten von Demokratie” – und fühlen sich mit dem dt. Staat und dt. Gesellschaft “sehr verbunden” – was will man mehr?!) und b) dies aus christlicher Sicht/aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft auf eine Art und Weise (denn das Einfordern an sich ist ja nicht vermessen) einzufordern, welche erneut einen Graben zwischen jenen unwissenden auf der einen Seite (diejenigen, die es nötig haben daran erinnert zu werden, dass sie eine Bringschuld haben) und jenen wissenden auf der anderen Seite (diejenigen, welche die Kompetenz und Hoheit besitzen die anderen an ihre Bringschuld zu erinnern) aushebt.
Vielleicht ist das Thema nicht geeignet für einen Blogeintrag und man kann nur Archivaufsätze und Bücher dazu schreiben, um allzu bösartige Unterstellungen zu vermeiden. Natürlich gab und gibt es faszinierende Reformbewegungen; offensichtlich ist die Mehrheit der Muslime in Deutschland so freiheitsliebend und demokratisch gesonnen wie die der Christen, Juden und Atheisten. Welche Ausrichtung die islamische Theologie nimmt ist freilich Gegenstand innerislamischer Kontroversen. Forderungen aus den Verbänden, sich auf Übersetzungen und Editionen zu beschränken stehen akademischen Erwartungen gegenüber, sich auch die hermeneutischen, also auch historisch-kritischen methodischen Traditionen anzueignen.
Bleibender Dissenz mit den vorstehenden Kommentatoren: dürfen Einwürfen in die öffentliche Debatte politische Erwartungen an muslimische Eliten formulieren. Bei den Sozialformen des Christentums gehört das zum Standard unserer öffentlichen Auseinandersetzungen. In dieser Frage neige ich wie in der Religionspolitik überhaupt zur Parität und nicht zu Doppelstandards.
Der islamistische Terror, zumal in Deutschland, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, kein muslimisches (Mark Swatek-Evenstein)
Mag sein. Aber welche Gebetshäuser haben Herr Atta oder die Mitglieder der Düsseldorfer Zelle besucht? Mit welchen Menschen haben sie ihre „Koranstudien“ betrieben und wer hat sie unterstützt?
Das Problem ist aus meiner Sicht nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch spezifisch muslimisch.
Die Diskussion hat sich hier eigentlich bisher nur mit dem 3. Punkt des eröffnenden Textes konzentriert. Interessant fände ich eine Diskussion über die sog. “Blasphemieparagraphen” 166 des StGB. Sollten vielleicht “die Kirchen” in Deutschland die Vorfälle in Paris zum Anlass nehmen, sich einer Abschaffung desselben nicht mehr zu verschließen bzw. sie sogar aktiv einzufordern?
Bisher wurde jetzt hier wie so häufig nur über das diskutiert, was man “dem Islam” oder seinen Repräsentanzen zumuten kann, also nur der 3. Punkt des eröffnenden Textes. Wie steht es aber nun um den sog. Blasphemieparagraphen 166 des StGB? Ist die Zeit gekommen, dass sich “die Kirchen” nicht nur seiner Abschaffung nicht nur nicht widersetzen sollten, sondern sie sogar aktiv einfordern wollten. Möglichst im Einklang mit muslimischen, jüdischen und ggf. anderen Religionsorganisationen? Wäre dies nicht ein beeindruckendes Zeichen?
Ich halte den Vorschlag, §166 StGB zu streichen, für keine adäquate Reaktion auf die Ereignisse der letzten Woche.
Dass der Paragraph Nachfolger des Blasphemieverbots ist, ist an sich kein Argument für eine Abschaffung. Sehr viele Paragraphen des StGB haben Vorgänger, auf die man heutzutage zurecht nicht mehr stolz ist. Und doch wurde nicht die Abschaffung z.B. des Hochverrates gefordert, wenngleich dieser auf eine lange Geschichte des Missbrauchs zurückblicken kann. Nein, dieser Straftatbestand besteht weiterhin, weil er sich an die Anforderungen eines Rechtsstaates angepasst hat – im Wortlaut und der richterlichen Anwendung. Ebenso hat der §166 diesen Wandel vollzogen: Nämlich mit der Verschiebung des Schutzgutes von der Verletzung des persönlichen religiösen Gefühls zum öffentlichen Frieden. Auch die Rechtsprechung hat diesen Wandel mitvollzogen mit einer stetig fallenden Anzahl an Verurteilungen trotz eines stetig wachsenden religionsfeindlichem Umfeld. Die Kunstfreiheit findet demnach also recht deutlich schon jetzt den ihr gebührlichen Platz. Aber auch sie kann eben nicht unbeschränkt gewährleistet werden. Sie endet dort, wo es allein darum geht, Menschen nachhaltig zu verletzen, die Gesellschaft zu spalten und gesellschaftliche Gruppen demagogisch gegeneinander auszuspielen, ohne dass damit irgendein künstlerisches Anliegen verbunden ist. Purer, gefährlicher Hass darf nicht von der Verfassung geschützt werden (hier könnte man durchaus den Gedanken des Wunsiedel-Urteils zitieren). Der Straftatbestand kann als Gradmesser, als verfassungsrechtliche Auslotung der Freiheit fungieren, als Lackmus-Test dafür, was in unserer sich liberalisierenden Gesellschaft toleriert werden muss – und wo dann doch Liberalität auf der einen Seite zu kollektiver, den öffentlichen Frieden gefährdenden Unfreiheit führt. Nach dieser Auslotung wären die Charlie Hebdo-Karikaturen aller Voraussicht nach in Deutschland zwar als geschmacklos, aber eben nicht strafbar bewertet worden.
Auf zwei Punkte sei noch eingegangen: 1. Die Anzahl der Verurteilungen (ca. 15 jährlich) weist nicht auf eine Überfälligkeit der Abschaffung hin. Auch Tatbestände, die in der Rechtspraxis selten vorkommen, sind für unsere Rechtsordnung durchaus von Wichtigkeit, weil effektiver Grundrechtsschutz im Strafrecht sich nicht nur auf die „0815-Grundrechte“ wie das Eigentum mit Diebstahl etc. beschränken darf, sondern auch Randbereiche erfassen muss, die wegen ihrer Eingriffsintensität durch das Strafrecht schutzwürdig erscheinen. Die Gefährdung des öffentlichen Friedens durch hasserfüllte Erzeugnisse zählt dazu, ist also nicht Ausgeburt einer strafrechtlichen Bagtellisierungstendenz, der, wie oben gezeigt, ohnehin durch grundrechtliche Abwägung vorgebeugt wird.
2. Es ist keineswegs gesagt, dass dieser effektive Grundrechtsschutz mit den Beleidigungsdelikten abgedeckt wäre – die Beleidigungsfähigkeit der Gläubigen als (unbestimmte) Personenmehrheit könnte in den angesprochenen Fällen nämlich stets ein Problem sein.
Der Kommentar von Sebastian Schwab ist m.E. sehr bedenkenswert: Religionskonflikte eskalieren leicht. Über letzte Fragen lässt sich besonders intensiv streiten. Es geht um viel. Deshalb braucht die Gesellschaft Regeln für solche Konflikte. Dabei wird man zwischen sozialen Regeln und Rechtsnormen unterscheiden können. Tugenden wie Achtsamkeit und Toleranz lassen sich nicht einklagen, aber durch Erziehung und eine öffentliche Debattenkultur fördern. Hierzu gehören auch Selbstbeschränkungen wie in der deutschen Presse üblich. Einige Karikaturen aus Charlie Hebdo wären in deutschen Zeitschriften nie erschienen, habe ich mir sagen lassen.
Auf der anderen Seite bestehen beachtliche, grundrechtlich fundierte Schutzpflichten, soweit harsche Religionskritik in Ehrverletzungen zulasten konkreter Personen oder in Aufstachelung zu Gewalttaten umschlägt (man denke nur an die beschämende Geschichte der Pogrome gegen Juden in Europa). Die strafrechtliche Sanktionierungen von Beleidigungen (auch unter Kollektivbezeichnung) und von Volksverhetzung scheinen mir deshalb zwingende Bestandteile der Rechtsordnung zur Sicherung des Religionsfriedens zu sein. Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit kennen selbstredend Grenzen.
§ 166 StGB dürfte demgegenüber auf einer anderen Ebene stehen; er ist nicht Ausfluss grundrechtlicher Schutzpflichten, sondern setzt im Vorfeld an. Die Untersuchungen von Barbara Rox u.a. sind in der Hinsicht sehr überzeugend. Wenn ich die Debatten im Strafrecht verfolge, ist der Normzweck nun keineswegs klar. Das BVerfG versteht den Schutz des öffentlichen Friedens in der Wunsiedel-Entscheidung restriktiv; strafrechtliche Kollegen wollen hingegen bei § 166 StGB auch den religiösen Identitätsschutz darunter fassen. Weitere Probleme kommen hinzu: lassen sich in der Rechtspraxis bloß sehr provokante, ja geschmacklose Formen von Religionskritik hinreichend objektiv von einer Verächtlichmachung absetzten? Die Berliner Kollegin Tatjana Hörnle bezweifelt das mit beachtlichen Gründen. Und wie steht es mit der Frage, von wem die Gefährdung des öffentlichen Friedens ausgehen muss? Können Beschimpfte und Friedensgefährder in einem “Lager” stehen? Haben es dann die Beschimpften in der Hand, ihre Kritiker zu kriminalisieren? Prämiert § 166 StGB diejenigen, die zu heißen religiösen Gefühle neigen?
Schließlich: wenn § 166 StGB vor allem symbolische Bedeutung hat, weil Volksverhetzung und Beleidigungsdelikte den Schutzbedarf weitreichend abdecken, können dann nicht auch symbolische Gründe, die Betonung der Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit, zur Streichung führen?
Über Pros and Cons lässt sich da trefflich streiten. Für die religionspolitische Kultur wäre schon viel gewonnen, wenn wir solche Debatten führen könnten, ohne die Beteiligten persönlich herabzusetzen und deren Beiträge bösartig zu verzerren. Schaut man sich die Kommentareinträge bei Online-Medien so an, sind wir von diesem Ideal momentan weit entfernt. Vielleicht hat Bruno Latour recht, wenn er (in ganz anderem Zusammenhang) behauptet: Wir sind nie modern gewesen!