18 October 2017

Karlsruhe zum Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte – eine vertane Chance

Endlich: das Bundesverfassungsgericht äußert sich erstmals zur Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte – ach nein, doch nicht.

Am 11.Oktober 2017 erschien der langerwartete Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu dem Eilantrag eines 17-jährigen Syrers, der seine in Damaskus lebenden Eltern und Geschwister nachholen wollte. Im Kern ging es bei der Entscheidung um die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 104 Abs. 13 AufenthG. Diese im Zuge des Asylpakets II geschaffene Regelung setzt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aus, wenn die Anerkennung als Schutzberechtigter nach dem 17. März 2016 erfolgt ist. Der Eilantrag wurde gestellt, weil der 17-jährige subsidiär Schutzberechtigte am 13. Oktober 2017 volljährig wurde und der Familiennachzug der personensorgeberechtigten Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit nicht mehr geltend gemacht werden kann.

Die in wenigen Tagen eintretende Volljährigkeit nennt das Bundesverfassungsgericht letztlich als den entscheidenden Versagungsgrund und gemeinsam mit dem Ziel, Schaffung von vollendeten Tatsachen zu vermeiden: Der Familiennachzug zu Minderjährigen vermittele nur ein begrenztes Aufenthaltsrecht. Dieses ende mit dem Zeitpunkt der Volljährigkeit. Das Gericht räumt zwar ein, dass die Eltern nach ihrer Einreise aufgrund der Lage in Syrien voraussichtlich nicht dorthin zurückkehren müssten. Aber es sei nicht Schutzzweck der Norm [§ 36 AufenthG], Menschen in Deutschland die Stellung eines Asylantrags zu ermöglichen und zieht zur Begründung auch die (höchst bedauerliche) Entscheidung des EuGH zu humanitären Visen von diesem Jahr heran (hier und hier eine ausführliche Besprechung der Entscheidung im Verfassungsblog).

Zulässig, aber in der Sache unbegründet lautet deshalb das Urteil der Richter. Wie ist diese Entscheidung rechtlich zu bewerten?

Ein Streit auf vielen Bühnen

Ein kurzer Ausflug in die Geschichte: Wie kam es dazu, dass diese kleine Regelung, versteckt in der ellenlangen Norm des § 104 AufenthG, zu einem der derartigen Zankapfel des deutschen Migrationsrechts werden konnte?

Subsidiär Schutzberechtigten, also Menschen mit einem Schutzstatus nach § 4 AsylG, fehlt zwar das individuelle Verfolgungsschicksal von Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 16a GG, ihnen droht aber bei Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter und Gewalt. Diese Personengruppe ist rechtlich in vielerlei Hinsicht den Schutzberechtigten nach § 3 AsylG angenähert wie etwa beim Zugang zu Sozialleistungen und Arbeitsmarkt. Ein wichtiger Unterschied besteht in der Länge der erteilten Aufenthaltstitel, der zweite beim hier strittigen Familiennachzug.

Mit dem sogenannten Asylpaket II aus dem Jahr 2015 wurde der Familiennachzug für diese Personengruppe ausgesetzt in dem damals neugeschaffenen § 104 Abs. 13 AufenthG mit dem expliziten Ziel der Zuwanderungsbegrenzung (so die Gesetzesbegründung). Zeitlich darauf folgend wurde syrischen Asylantragstellenden vermehrt der subsidiäre Schutzstatus zugesprochen statt des „vollen“ Flüchtlingsstatus, so dass eine sich mehrende Personengruppe von der Aussetzung betroffen war (vgl. Angaben des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für 2016).

Der Streit um den Familiennachzug wird seither hitzig auf mehreren Bühnen geführt: Vor Gericht, innerhalb der Zivilgesellschaft, im Parlament und aktuell auch bei den Koalitionsverhandlungen zwischen den Grünen, der CDU/CSU und der FDP und dabei teilweise zur Grundsatzfrage über den Umgang mit Flüchtlingen und Migration in unserer Gesellschaft stilisiert.

Die Bedeutung von Familiennachzug im deutschen Migrationsrecht

Warum ist Familiennachzug so wichtig? Es handelt sich hierbei um einen der wenigen existierenden sicheren, legalen Zugangswege nach Deutschland. Der Weg nach Europa ist für den Großteil der Menschen, die Schutz vor Verfolgung oder Gewalt suchen, schlicht gefährlich: Die Mehrzahl der etwa 100 000 Menschen, die im vergangenen Jahr nach Europa kamen, nahmen eine der drei Routen: Die sogenannte zentrale Mittelmeerroute zwischen Italien und Libyen (ca. 5000 Tote im vergangenen Jahr laut UNHCR), die Balkanroute über Bulgarien, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und Ungarn oder die nördliche Mittelmeerroute via Spanien. All diese Wege sind nachgewiesenermaßen äußerst gefährlich, auch und besonders, weil die Grenzen zum großen Teil geschlossen sind, weshalb die Betroffenen so gut wie keine legale Reisemöglichkeiten haben oder sie über das Meer führen.

Zurück zu der Entscheidung aus Karlsruhe: Der unmittelbar bevorstehende 18. Geburtstag führt dazu, dass das Gewicht des Nachteils, „keine familiäre Lebensgemeinschaft eingehen zu können“ geringer bewertet wird als das Interesse des Staates an dem Vollzug der Regelung. Damit nähern wir uns nun aber zögerlich dem eigentlichen Grund.  “Würde zudem die einstweilige Anordnung, was hier allein in Betracht kommt, mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG begründet, so müsste dies für alle anderen Fälle des Familiennachzugs zu minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus ebenso gelten, was im Ergebnis der Aussetzung des Vollzugs der gesetzlichen Regelung gleichkäme.“ Angesichts der Tragweite der eigenen Handlung erstarrt Karlsruhe vor der eigenen Kühnheit und – tut lieber nichts. Das Gericht betont, dass die ohnehin hohe Hürde des § 32 Abs. 1 BVerfGG sich noch erhöhe, wenn der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden solle. „Größte Zurückhaltung“ sei geboten bei diesem „erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers“, und man sieht geradezu die besorgten Mienen in Karlsruhe.

Eine vertane Chance

Aus völker- und verfassungsrechtlicher Sicht ist sie bedauerlich. Denn die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG ist verfassungs- und völkerrechtlich kritisch zu betrachten. Art. 6 GG schützt das Recht auf Ehe und Familie. Damit einher geht auch die gelebte Familieneinheit. Das bedeutet zwar nicht, dass sich daraus reflexhaft ein Wahlrecht auf die Familieneinheit in einem bestimmten Land ergibt. Wenn jedoch – wie hier, und wie bei Flüchtlingen immer wieder der Fall – die Familieneinheit nirgendwo sonst hergestellt werden kann, muss dies Berücksichtigung finden im Rahmen der hoheitlichen Entscheidung und drängt  einwanderungspolitische Belange dann regelmäßig zurück. Auch Art. 8 EMRK betont die enorme Wichtigkeit des familiären Zusammenlebens und der familiären Einheit und ein Anspruch auf Familienzusammenführung kann dann entstehen, wenn – wie hier – diese Familieneinheit nirgendwo anders gelebt werden kann.

Auch die Kinderrechtskonvention (KRK), in deren personellen Anwendungsbereich der betroffene Antragsteller ja zum Zeitpunkt der Entscheidung ja noch fiel, gebietet in Art. 3, dass bei allen staatlichen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl im Rahmen der Abwägung ein Gesichtspunkt sein soll und „vorrangig zu berücksichtigen ist“. Art. 10 KRK enthält die Vorgabe, dass die Vertragsstaaten den Familiennachzug „wohlwollend, human und beschleunigt“ bearbeiten sollen. Das Kindeswohl muss also im Rahmen des Abwägungsvorgangs ein besonderes Gewicht erhalten.

Schließlich ist die Regelung auch europarechtlich bedenklich, wie Helene Heuser bereits ausführlich dargelegt hat: Das Recht zum Familiennachzug ist in verschiedenen Sekundärrechtsakten enthalten, darunter auch in der sogenannten Familienzusammenführungsrichtlinie. Diese erwähnt zwar subsidiär Schutzberechtigte nicht explizit, das hat aber einen historischen Grund: Sie stammt aus dem Jahr 2003, als subsidiär Schutzberechtigte im Europarecht als Schutzkategorie noch nicht existierten. Spätere Rechtsakte wie die sogenannte EU-Qualifikationsrichtlinie weisen jedoch darauf hin, dass die Staaten eine Gleichstellung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten anstreben sollen (vgl. Erwägungsgründe 8, 9 und 39, Art. 1 Qualfikations-RL)

Das strikte Korsett von § 104 Abs. 13 AufenthG erlaubt keinen Raum für diese verfassungs-, völker- und europarechtlichen Bedenken.  Auch die Regelung des § 22 AufenthG, deren Anwendung ausdrücklich der Prärogative der Verwaltung und damit nicht erzwungen werden kann, ist kein ausreichendes Mittel, zu gewährleisten, dass diesen verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken ausreichend Rechnung getragen wird.

Im Ergebnis bleibt es eine vertane Chance. Und gleichzeitig eine bittere Ironie, dass das erklärte Ziel des Gerichts, keine vollendeten Tatsachen im Rahmen einer Eilentscheidung zu schaffen, genau dies getan hat – aber auf Seiten des Antragstellers: Dieser ist nun volljährig und kann sein Recht auf Familienzusammenführung im Hauptsacheverfahren nicht mehr ausüben. Dies gilt leider nicht nur für ihn, sondern voraussichtlich für eine ganze Gruppe an Menschen mit subsidiärem Schutzstatus, die vor dem 17. März 2018 volljährig werden. Je nachdem, wie die Koalitionsverhandlungen laufen werden, wird die Gruppe der Betroffenen noch wachsen. Umso mehr bleibt zu hoffen, dass ein günstiger gelagerter Fall das Bundesverfassungsgericht erreichen wird und es dann Stellung beziehen muss.


SUGGESTED CITATION  Riebau, Meike: Karlsruhe zum Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte – eine vertane Chance, VerfBlog, 2017/10/18, https://verfassungsblog.de/karlsruhe-zum-familiennachzug-fuer-subsidiaer-schutzberechtigte-eine-vertane-chance/, DOI: 10.17176/20171018-111808.

7 Comments

  1. Pontifex Maximus Wed 18 Oct 2017 at 13:22 - Reply

    “Umso mehr bleibt zu hoffen, dass ein günstiger gelagerter Fall das Bundesverfassungsgericht erreichen wird und es dann Stellung beziehen muss.”

    Das BVerfG wird Stellung beziehen müssen. Dafür braucht es auch gar kein anderes Verfahren, sondern die Hauptsache in diesem.

    Das ist meiner Meinung nach leider auch das Problem dieses Beitrags. Er verkennt die Funktion und die Maßstäbe des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens.

    • Nina Jasmin Wed 18 Oct 2017 at 19:18 - Reply

      Die Hauptsache in diesem Verfahren wird es nicht geben, da der Anspruch auf Familiennachzug seit der Vollendung des 18. Lebensjahres unabhängig von der angegriffenen Regelung nicht mehr besteht – was der Artikel ja auch klarstellt.

      • Pontifex Maximus Wed 18 Oct 2017 at 19:49 - Reply

        Spielt doch keine Rolle. Gegenstand ist die OVG-Entscheidung. Und die löst sich nicht in Luft auf.

  2. Andrew Hammel Thu 19 Oct 2017 at 14:23 - Reply

    So, let’s review: A teenager arrives illegally in Germany and is accorded secondary protection. This means that he is subject to a temporary pause in the regulations allowing family reunification. Yet since he’s a minor — for a few more months — he seeks an injunction to require Germany to issue entry visas for *five* other family members currently living in Damascus. He cites the additional protections for children and families under various German and international laws. Which will apply to him only for a few months.

    As we all know, once those five family members arrive in Germany, they will never, ever leave. They will not want to, and there will be no way to force them to under Germany’s laughably ineffectual deportation regulations. Were they selected to relocate to Germany by a fair, rational process prioritizing those in the most need? No. Only because they happened to be the lucky ones in a totally random lottery: will my brother make it to the Promised Land of Germany? This one did, dozens of others didn’t. The other 1.7 million residents of Damascus? Hard luck to them.

    If they are typical of most other migrants who have arrived in Germany recently, It is almost certain that none of these 5 additional family members speaks *any* German, probably not even English. They have no connection to Germany whatsoever, except perhaps for relatives who live there. They have no understanding of German history, culture, or customs, and have not prepared themselves for the massive cultural transition. They will immediately enter German welfare rolls, and will doubtless stay there for years, some of them probably for life.

    All of this because, technically, their son — who survived a journey of thousands of kilometers on his own — claims to need the extra support not just of one, or two, but *every* other member of his immediate family — for the 3 months before he becomes a legal adult.

    In other words, he seeks a legal resolution of his case which will have *permanent* consequences for his family and German taxpayers in order to remedy a *transitory* situation. This result is absurd and arbitrary from every conceivable perspective.

    The author is apparently disappointed that the young man was unable to get his wish. But when a legal system starts consistently producing absurd results that make a mockery of common sense, it will soon lose its credibility and legitimacy, and that’s something none of us should wish for.

    Fortunately, both the OVG and the BVerfG allowed common sense to color their interpretation of the relevant legal provisions. Let’s hope they continue that responsible approach.

    • getthefacts Thu 19 Oct 2017 at 15:17 - Reply

      I admit: I didn’t read your comment to the end. I stopped right there where it says: Illegaly. Because obviously, you didn’t read the article you comment on either, nor are you aware of the legal situation refugees are facing trying to apply for asylum in Germany. As it says in the article: There are often no legal ways to enter the country.Furthermore your comment reflects the denial of history and with that the impact of European/US powers, waging war in the regions the refugees are comming from, beginning with the crusades in the 11th century to creating protectorates and colonies, encouriging tribal wars by artificial borders, exporting arms and exploiting the natural resources of the region just to mention a few of the challenges those regions are facing which have there origins right here in the western hemisphere, where we don’t want to help those we have been taken advantage of for centuries.

      • Andrew Hammel Fri 20 Oct 2017 at 11:34 - Reply

        If you didn’t read my comment to the end, then how do you know I didn’t read the original post to the end? I did, of course, which is why my counterarguments are on-point and compelling.

        Germany is a country like any other. If you arrive from a country which needs a visa to travel to Germany, and you have no such visa, you have entered the country illegally. You have committed the crime of illegal entry, and will be cited for doing so. Everyone who crossed the border from Austria into Germany in 2015 was cited for illegal entry. This is simply an accurate factual description, not even an argument.

        The article complains about the lack of legal means of entering Germany, but proposes *the worst possible* solution to the this problem: randomly scooping up an arbitrary assortment of family members (5 in this case, 3 in another, 18 in another) — many of whom are not in danger, have no need of protection, have zero connection to Germany and will be unable to make a successful transition to life here.

        Instead, Germany could offer visas to *registered refugees* via the UNHCR, like all other countries do, including Canada. Of course, after proper security screening and background checks.

        As for the history, white-guilt arguments like this prove nothing because they prove everything. If Europe is genuinely responsible for all the suffering in the world, then it should immediately open its borders to all of the hundreds of millions of people who want to relocate here. There is no other morally justifiable course. There are people who support this, but they are a tiny handful of extremists.

        Is that what you support? If so, then tell us so. If not, then how can you square that with your sweeping indictment of Europe’s allegedly solely negative influence in the world?

  3. Law as Integrity Thu 19 Oct 2017 at 14:29 - Reply

    Stimme der Autorin inhaltlich in allem zu, würde aber, tendenziell wie Pontifex, dem BVerfG doch insoweit beispringen, dass es verfassungsrechtlich wie demokratietheoretisch überaus heikel wäre, würde das Gericht diese Sache per einstweiliger Anordnung faktisch entscheiden. Das muss diesem oder einem anderen Hauptsacheverfahren überlassen bleiben – in dem Karlsruhe dann hoffentlich keine Angst vor potenziell negativen öffentlichen Reaktionen zeigt…

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