Wer ist Flüchtling? Zum Hin und Her der Entscheidungspraxis zu Asylsuchenden aus Syrien
Syrische Flüchtlinge sind die größte Gruppe von Asylsuchenden in Deutschland und erhalten hier Schutz – aber nicht unbedingt einen einheitlichen Status. Das erstaunt zunächst nicht, da Asylanträge individuell zu prüfen sind. Die Frage der Statusgewährung hängt jedoch nicht nur von der persönlichen Situation der Betroffenen ab, sondern maßgeblich von der rechtlichen Wertung, die daraus gezogen wird. Dabei wirft die verfassungsrechtlich nicht weiter spannende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) ein Schlaglicht auf die bemerkenswerten Schlenker der Entscheidungspraxis zu syrischen Flüchtlingen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG einer Asylsuchenden aus Syrien und ihrer beiden minderjährigen Kinder festgestellt, weil das mit der Sache befasste Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen das Vorliegen einer die Berufungszulassung rechtfertigenden klärungsbedürftigen Rechtsfrage im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG verneint hatte. Es ging darum, ob Asylsuchende aus Syrien bei drohender Folter im Rahmen von Rückkehrbefragungen durch das syrische Regime die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. § 3 AsylG zuzuerkennen sei oder die drohenden Gefahren lediglich ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG (bzw. den subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG) begründeten. Während das OVG darin eine tatsächliche und somit nicht klärungsbedürftige Frage sah, stellt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss klar, dass es sich um eine ungeklärte Rechtsfrage handele, da die bisherige Rechtsprechung bei gleicher Tatsachengrundlage zu unterschiedlichen Ergebnissen gelange.
Obwohl die Entscheidung einen Fall aus dem Jahr 2013 betrifft, könnte sie aktueller nicht sein. Denn der Streit um die einst als geklärt geltende Frage, ob die syrischen Rückkehrenden drohende Folter an ein flüchtlingsrechtliches Merkmal anknüpft, wurde dieses Jahr wieder neu entfacht. Im Grunde geht es darum, ob der syrische Staat nach Lust und Laune foltert oder dabei ein bestimmtes, in der Person des Flüchtlings liegendes Motiv verfolgt. Aber wie kommt es, dass diese Frage trotz des gleich bleibenden Konflikts in Syrien erneut umstritten ist?
Die entscheidende Frage: Gibt es einen individuellen Verfolgungsgrund?
Es ist unstrittig, dass Personen, die seit 2011 aus Syrien geflohen sind, erhebliche Gefahren bei Rückkehr drohen. Es geht daher meistens nicht darum, ob sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen Schutzstatus erhalten, sondern welchen. Da die im Rahmen eines Asylantrags zu prüfende Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG überwiegend wegen einer Einreise auf dem Landweg ausscheidet (Art. 16a Abs. 2 GG), kommt es auf den internationalen Schutz an, also den Flüchtlingsschutz nach der GFK (§ 3 AsylG) oder den subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) nach den Vorgaben der europäischen Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU). Letzterer umfasst dabei typischerweise „Bürgerkriegsflüchtlinge“. Da in Syrien seit 2011 bekanntermaßen ein Bürgerkrieg herrscht, scheint dieser Status in jedem Fall gut zu passen. Doch so einfach ist die Lage nicht.
Während häufig behauptet wird, dass Konventionsflüchtlinge im Gegensatz zu „Bürgerkriegsflüchtlingen“ individuell verfolgt würden, liegt der Unterschied vielmehr in den Motiven des Verfolgers. Denn in beiden Fällen droht den Betroffenen eine individuelle Gefahr. Doch Konventionsflüchtlingen droht die Gefahr (einer Verfolgung) gerade wegen bestimmter individueller Gründe wie Religion, Ethnie oder politischer Überzeugung, unabhängig davon, ob diese dem Flüchtling tatsächlich anhaften oder nicht. Es kann sich auch um eine Verfolgung aller (vermeintlichen) Mitglieder einer bestimmten Gruppe handeln, denen ein gemeinsames Merkmal zugeschrieben wird. So argumentierte die obergerichtliche Rechtsprechung seit 2012 für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für Asylsuchende aus Syrien, unabhängig vom Vortrag (sonstiger) individueller Verfolgungsgründe: Der syrische Staat werte die (illegale) Ausreise aus Syrien, die Asylantragstellung und den Aufenthalt im (westlichen) Ausland als Ausdruck einer regimefeindlichen Gesinnung und den Betroffenen drohe demnach eine Verfolgung in Anknüpfung an eine unterstellte politische Überzeugung.
Aber auch unabhängig von der Gefahr der Inhaftierung und Folter im Rahmen von „Rückkehrer-Befragungen“ erfüllen Schutzsuchende aus Syrien in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nach der GFK. Denn die Gewalt im Rahmen bewaffneter Konflikte ist häufig nur scheinbar willkürlich (siehe dazu die Erwägungen von UNHCR). So wird der Konflikt in Syrien von gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung ganzer Dörfer und Gemeinden geprägt, gerade weil den jeweiligen Personen eine bestimmte religiöse, ethnische oder politische Zugehörigkeit zugeschrieben wird (siehe zu den einzelnen Risikoprofilen die Erwägungen von UNHCR zum Schutzbedarf von Personen aus Syrien).
Welcher Argumentation das BAMF folgte, als es sich – dem äußeren Anschein nach – der obergerichtlichen Rechtsprechung beugte und Asylsuchenden aus Syrien schließlich sogar im Wege beschleunigter Verfahren ganz überwiegend die Flüchtlingseigenschaft zuerkannte, kann offen bleiben. Ob der Druck der Oberverwaltungsgerichte jedoch der einzige Grund für das Verebben des Streits um den Status syrischer Flüchtlinge war, lässt sich durchaus anzweifeln.
Worum es wirklich geht: das Recht auf Familiennachzug
Sowohl die behördliche Entscheidungspraxis in den Jahren 2011 bis 2013 sowie die jetzige Entscheidungspraxis seit März 2016 wirken sich unmittelbar auf die Möglichkeit der Familienzusammenführung aus. Denn bis zu einer Gesetzesänderung Ende 2013 erhielten subsidiär Schutzberechtigte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, mit der sie ihre Familie nicht wie Konventionsflüchtlinge innerhalb der ersten drei Monate nach Anerkennung unter privilegierten Voraussetzungen nachholen konnten. Das bedeutete, dass für einen Nachzug grundsätzlich sowohl der Lebensunterhalt gesichert als auch ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen musste – Hürden, die viele Betroffene faktisch an einem Nachzug hinderten. Im Zuge der europarechtlich vorgesehenen Vereinheitlichung der beiden internationalen Schutzformen erhielten mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz von 2013 auch subsidiär Schutzberechtigte die Möglichkeit einer privilegierten Familienzusammenführung nach § 29 Abs. 2 S. 2 AufenthG für Mitglieder der „Kernfamilie“ (Ehegatten, Eltern und ihre minderjährige Kinder). Es machte für das Recht auf Familienzusammenführung also keinen Unterschied mehr, ob im Verfahren subsidiärer Schutz oder Flüchtlingsschutz gewährt wurde. Neben die obergerichtliche Rechtsprechung trat 2013 demnach auch eine wichtige Gesetzesänderung, die sich erheblich auf die rechtlichen und tatsächlichen Folgen der Schutzgewährung auswirkte.
Und so verebbte der bis dahin tobende Streit zwischen dem BAMF und den Gerichten zunächst, flammte jedoch wieder auf, als die Möglichkeit des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte im März 2016 für zwei Jahre ausgesetzt wurde (vgl. § 104 Abs. 13 AufenthG). Danach macht es erneut einen ganz erheblichen Unterschied, ob jemand als Konventionsflüchtling anerkannt wird oder „nur“ subsidiären Schutz erhält. Die Einschätzung, dass diese Gesetzesänderung die größte Gruppe der Asylsuchenden in Deutschland nicht wesentlich betreffen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Denn plötzlich ist das BAMF wieder davon überzeugt, dass es sich bei Asylsuchenden aus Syrien um subsidiär Schutzberechtigte handele, sofern sie keine (besonderen) individuellen Gründe vortragen. Erneut kommt es zu tausenden Klagen vor den Verwaltungsgerichten. Diese hielten anfänglich an der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung fest und entschieden mehrheitlich zugunsten der Betroffenen. Nunmehr sind auch Oberverwaltungsgerichte wieder mit der Frage des Schutzstatus syrischer Flüchtlinge befasst. Doch der politische Wind hat sich gedreht und so auch die Entscheidungspraxis. Das erste (negative) Urteil in der Sache fällte das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein in einer Entscheidung vom 23. November 2016. Nach Ansicht des Gerichts gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass syrischen Rückkehrern allein wegen einer Asylantragstellung und eines Aufenthaltes im Ausland eine flüchtlingsrechtliche Verfolgung aus (vermeintlich) politischen Gründen drohe.
Diese Argumentation überzeugt schon deshalb nicht, weil niemand heute zuverlässiger als vor drei Jahren prognostizieren kann, ob und aus welchen Motiven im Rahmen von „Rückkehrer-Befragungen“ gefoltert wird. Denn seit Ausbruch des Konflikts ist auch wegen der entsprechenden Abschiebestopps niemand nach Syrien zurückgeführt worden. Die geänderte rechtliche Einschätzung der identisch fortbestehenden Tatsachengrundlage lädt ein zu Spekulationen. Auffällig ist jedenfalls der unmittelbare zeitliche Zusammenhang mit der Einschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung. Abgesehen von gravierenden rechtlichen Bedenken gegen diese Einschränkung, ist die offensichtliche Kehrtwende der Verwaltung und der Rechtsprechung nach einer für den Ausgang der Verfahren maßgeblichen Gesetzesänderung rechtsstaatlich äußerst fragwürdig. Neben diesen Bedenken bleibt die Notwendigkeit der Klärung der zugrundeliegenden Rechtsfrage im Sinne einer Rechtssicherheit für die Betroffenen. Während das eingangs erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch vor einigen Monaten wenig relevant gewesen wäre, kam es demnach genau zur richtigen Zeit.
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