Kein Handschlag – keine Einbürgerung
Rituelle Handlungen als Indiz für die Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse
Der Handschlag ist in der Pandemie aus der Mode gekommen. Ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg aus dem August dieses Jahres wirkt da wie aus der Zeit gefallen: Bei der Aushändigung seiner Einbürgerungsurkunde verweigerte ein Mann der zuständigen Sachbearbeiterin zur Begrüßung den Handschlag. Zur Aushändigung der Urkunde kam es nicht mehr, der Einbürgerungsantrag wurde abgelehnt. Der Kläger erhob Verpflichtungsgegenklage, die das VG Stuttgart in erster Instanz abwies. Der 12. Senat des VGH bestätigte die Entscheidung im Berufungsverfahren. Der Kläger habe durch den verweigerten Handschlag mit einer andersgeschlechtlichen Person seine fundamentalistische Kultur- und Wertvorstellung ausgedrückt. Deswegen sei seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nicht gewährleistet.
Damit verkennt der VGH, dass der Gesetzgeber mit dem Merkmal des Einordnens gerade nicht auf äußere Konformität abstellt. Stattdessen geht es ihm um Wertvorstellungen, die akzeptiert und gelebt werden müssen. Allein weil eine Handlung in Deutschland üblich ist wird sie dadurch nicht zum Bestandteil der deutschen Lebensverhältnisse. Zugleich ist es nur eingeschränkt möglich, von einer rituellen Handlung wie dem Handschlag auf eine dahinterstehende Wertvorstellung zu schließen. Das Urteil hat bisher nur geringe Resonanz gefunden, obwohl eine kritische Auseinandersetzung mit der 2019 als Tatbestandsmerkmal eingeführten „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ notwendig ist. Der Handschlag erweist sich dafür als ungeeignet.
Gesteigerte Relevanz durch veränderte Rechtslage
Ein Oberarzt mit libanesischer Staatsangehörigkeit beantragte 2015 seine Einbürgerung. Er war seit mehr als einem Jahrzehnt in Deutschland rechtmäßig ansässig und mit einer deutschen Staatsbürgerin verheiratet, bestand den Einbürgerungstest mit voller Punktzahl, unterschrieb das Merkblatt zur Verfassungstreue und zur Absage an jegliche Form von Extremismus und erfüllte alle sonstigen Voraussetzungen für seine Einbürgerung. Bei der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde verweigerte der Mann der Sachbearbeiterin zur Begrüßung aber den Handschlag, was zur Ablehnung seines Einbürgerungsantrags führte.
Die maßstabsetzende Entscheidung des VGH strahlt über den Einzelfall hinaus, denn sie erfolgte nach einer Gesetzesänderung im Jahr 2019, die die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse zur Voraussetzung des gebundenen Anspruchs auf Einbürgerung nach § 10 Abs. 1 StAG machte. Zuvor war sie nur Voraussetzung für die Ermessenseinbürgerung gem. § 8 Abs. 1 StAG (Hailbronner et al, StaatsAR, 2017, StAG § 8 Rn. 9).
Die Gesetzesänderung geschah als Reaktion (so die Deutung des VGH, vgl. Rn. 36) auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) in anderer Sache im Jahr 2018, in dem das BVerwG das Merkmal der Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung von der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse abgrenzte (dort Rn. 48). Während ersteres sich auf die Staatsordnung beziehe, sei letzteres auf das individuelle Verhalten gerichtet (dort Rn. 50-60, insb. 55). So entschied das BVerwG, dass eine Zweitehe der Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht entgegenstehe, wohl aber der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse (dort Rn. 60). Da diese aber nach damaliger Rechtslage keine Tatbestandsvoraussetzung für die Einbürgerung nach § 10 Abs. 1 StAG war, erkannte der Gesetzgeber eine Gesetzeslücke, die er sodann schloss.
Die veränderte Rechtslage führt zu einer gesteigerten Relevanz des Kriteriums. Wer sich nun um die Einbürgerung bemüht, kann nicht mehr die Einbürgerung nach § 10 Abs. 1 StAG statt § 8 Abs. 1 StAG anstreben und damit das Kriterium der Einordnung umgehen.
Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse
Der VGH war nun mit der Frage befasst, ob die Verweigerung des zwischengeschlechtlichen Handschlags als Indiz gegen die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse des Klägers zu werten ist.
Der Handschlag mit der Sachbearbeiterin im Landratsamt ist kein performativer Akt. Anders als beispielsweise bei der Verpflichtung eines Ratsmitglieds wird man wird nicht Deutscher, indem man die Hand schüttelt. Stattdessen verwendet das Gericht ihn als Indiz für eine mangelnde Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse. Anhand des in § 10 Abs. 1 StAG genannten Beispiels der Mehrehe schlussfolgert das Gericht, dass die Anerkennung der „gesellschaftlichen Grundsätze und sozialen Regeln in Deutschland, die auch im Recht eine klare und hochrangige Verankerung gefunden haben“ (Rn. 51) zur Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gehöre. Beispielhaft nennt es die Gleichberechtigung der Geschlechter, wobei eine patriarchale Familienstruktur die Einordnung ausschließe (Rn. 51).
Dabei fasst der VGH mit der Gleichberechtigung der Geschlechter ein Kriterium zur Bestimmung der Einordnung in die Lebensverhältnisse auf, von dem selbst die Verfassung in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG annimmt, dass es noch nicht verwirklicht ist und es zu seiner Durchsetzung sowie zur Beseitigung bestehender Nachteile im Verhältnis der Geschlechter eines Förderauftrags des Staates bedarf (vgl. Nußberger, in: Sachs, GG Kommentar, 2018, Art. 3 Rn. 264-6, insb. 5). Was das Gericht als elementaren Grundsatz der deutschen Gesellschaft annimmt ist nach Einschätzung der Verfassung in ebenjener Gesellschaft noch nicht verwirklicht. Ob es sich hier um einen normativistischen Fehlschluss handelt oder der Senat die deutschen Lebensverhältnisse bewusst normativ bestimmt bleibt dabei offen.
Interessanter noch ist aber das Kriterium, an dem der Senat die mangelnde Einordnung des Klägers festmacht. Der verweigerte Handschlag ist Dreh- und Angelpunkt des Falles. Das zeigt schon die Erwähnung im Leitsatz. Zwei Anknüpfungspunkte wählt der Senat, um den verweigerten Handschlag als mangelnder Einfügung in die deutschen Lebensverhältnisse aufzufassen. Einerseits geht es um den Handschlag als Konformitätszeichen, andererseits um seine symbolische Dimension. Weder der eine noch der andere Ansatzpunkt trägt die Wertung der mangelnden Einordnung.
Handschlag als Konformitätszeichen
Zunächst beschreibt der VGH den Handschlag als gängiges Begrüßungs-, Verabschiedungs- und Besiegelungsritual, das bis ins alte Rom zurückreicht (auch wenn das für die deutschen Lebensverhältnisse von geringer Bedeutung ist, vgl. Rn. 53). Der Handschlag würde bei förmlichen Gelegenheiten regelmäßig praktiziert und ihm komme in bestimmten Situationen eine performative Bedeutung zu (Vertragsschluss, Bestellung eines Vormunds, eines Nachlass- und Umgangspflegers, Verpflichtung als Bürgermeister oder Ratsmitglied, etc., vgl. Rn. 56-8). Der Handschlag – so könnte man zusammenfassen – ist Teil der deutschen Lebensverhältnisse, weil fast alle ihn praktizieren. Eine Einordnung liegt dann vor, wenn der Einbürgerungsbewerber sich in äußerer Konformität befindet.
Damit verkennt der VGH, dass der Gesetzgeber mit dem Merkmal des Einordnens gerade nicht auf eine äußere Konformität abstellt. Die Gesetzesbegründung stellt die deutschen Lebensverhältnisse in Zusammenhang mit der Ablehnung der Vielehe (vgl. BT-Drucksache 19/11083, S. 9-10). Allgemeiner formuliert die Gesetzesbegründung, die einzubürgernde Person müsse „die elementaren Grundsätze der hier geltenden gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung auch hinreichend akzeptieren“ (S. 10). Dem Gesetzgeber geht es also um bestimmte Wertvorstellungen, die akzeptiert und gelebt werden müssen, nicht um eine äußere Konformität mit in Deutschland üblichen Verhaltensweisen. Allein weil eine Handlung in Deutschland üblich ist – man denke an die Mitgliedschaft im Schützenverein, den samstäglichen Konsums der Sportschau oder von größeren Mengen Grillfleisch – wird sie dadurch nicht zum Bestandteil der deutschen Lebensverhältnisse i. S. v. § 10 Abs. 1 S. 1 Nach Nr. 7 StAG. Allein die Verbreitung des Handschlags bedeutungslos.
Der Handschlag als symbolische Handlung
Auf den ersten Blick aussichtsreicher ist das Abstellen auf das Ritual als symbolische Handlung: Wer ein Handschlag verweigere, weil die andere Person ein anderes Geschlecht habe, würdige sie durch die Verweigerung herab, weil das Gegenüber dadurch allein auf seine Sexualität reduziert werde (vgl. Rn. 78). Geschehe dies gegenüber einem Amtsträger oder einer Amtsträgerin, so stelle es den verfassungsrechtlich gewährleisteten gleichen Zugang von Männern und Frauen zu öffentlichen Ämtern in Frage und damit auch die Akzeptanz der Entscheidung der amtstragenden Person (vgl. Rn. 79).
Die Argumentation ist schon deshalb nicht einleuchtend, weil die Verweigerung und damit auch die Herabwürdigung von jedem Geschlecht ausgehen kann, wie der VGH ausdrücklich feststellt (vgl. Rn. 78). Dass aber eine Frau, die einem männlichen Amtsträger den Handschlag verweigert allen Männern den Zugang zu öffentlichen Ämtern abspricht, muss schon aus der inhärenten Logik bezweifelt werden, dass eine rein aus Amtsträgerinnen bestehende Verwaltung keine Handschläge mit Männern mehr ausführen könnte. Wer den zwischengeschlechtlichen Handschlag ablehnt, dem muss an einer geschlechterausgeglichenen Besetzung öffentlicher Ämter gerade gelegen sein, damit niemand mit einer amtswaltenden Person anderen Geschlechts verkehren muss.
Abgesehen von dieser Inkohärenz trägt die Verknüpfung zwischen dem Ritual und einer dahinterstehenden Wertvorstellung nicht. Das liegt in der Natur des Handschlags als Ritual. Jedes Ritual hat einen Aufführungscharakter, die dahinterstehende Intention liegt gerade in der Kommunikation durch die Handlung (Stollberg-Rilinger, Rituale, 2019, S. 10). Die Indizwirkung des Händeschüttelns wird allein durch seine rituelle Deutung als Handschlag und den darin verkörperten symbolischen Gehalt bewirkt. Indem man jemandes Hand schüttelt, kommuniziert man in gängiger, aber kulturabhängiger Deutung Respekt und Anerkennung für die Person. Ein verweigerter Handschlag kann Missachtung ausdrücken. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Handelnden sich innerhalb dieses symbolischen Rahmens bewegen. Außerhalb dieses Rahmens kann ein Verhalten nicht entsprechend gedeutet werden. Wer etwa eine Begrüßung per Hongi verweigert, ein traditionelles neuseeländisches Begrüßungsritual, bei dem die Nasen aneinandergedrückt werden, tut dies nicht zwingend aus fehlendem Respekt für das Gegenüber. Stattdessen fehlt es an einer Verknüpfung zwischen der Handlung und ihrem symbolischen Gehalt.
Eine solche Verknüpfung kann nicht zwangsweise hergestellt werden. Ob und welchen symbolischen Gehalt eine Person mit einer bestimmten Handlung verbindet ist allein ihren inneren Einstellungen überlassen. Menschen können zu einer körperlichen Handlung gezwungen werden, aber nie zu einer rituellen. Die geht über die reine körperliche Handlung hinaus und verlangt ebenjene Verknüpfung mit einem symbolischen Gehalt. Nicht umsonst ist die Zwangstaufe – die Durchführung der Basishandlung eines Rituals unter Ablehnung des symbolischen Gehalts durch den Täufling – von der christlichen Theologie überwiegend nicht anerkannt. Die erzwungene Basishandlung ist ohne ihren symbolischen Gehalt leer. Ebenso wenig wie ein Taufunwilliger durch Weihwasser zum Christen wird, drückt ein den Handschlag ablehnender Mensch durch einen erzwungenen Handschlag keinen Respekt aus. Es bleibt bei einem bloßen symbolisch bedeutungslosen Händeschütteln. Auf diese äußere Konformität des Händeschüttelns stellt die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse aber gerade nicht ab.
Die Folgen der Entscheidung
Den Einwand der fehlenden Verbindung zwischen der körperlichen Handlung des Händeschüttelns mit seinem symbolischen Gehalt könnte man im vorliegenden Fall deswegen bezweifeln, weil der Kläger den Handschlag aufgrund seiner salafistischen Einstellung verweigert und sich schon wegen dieser Einstellung nicht in die deutschen Lebensverhältnisse einfügt (vgl. dazu VGH Rn. 75).
Die vorgebrachten Einwände zielen weniger auf den konkreten Fall als auf die Auswirkungen des Urteils über das Verfahren hinaus ab: Wird das Händeschütteln verpflichtend, so führt es wohl weniger zum Ausschluss von Menschen, die sich aufgrund ihrer Werteinstellungen nicht in die deutschen Lebensverhältnisse einordnen. Fälle wie die des Klägers werden eine Seltenheit bleiben. Stattdessen darf man annehmen, dass die gesetzesauslegende Entscheidung des VGH künftigen Einbürgerungswilligen einen Grund gibt, die Hand eines Sachbearbeiters oder einer Sachbearbeiterin auch dann zu schütteln, wenn sie es für gewöhnlich nicht tun würden. Das Händeschütteln ist dann kein Indiz mehr für Respekt, sondern potenziell Ausdruck eines kalkulierten Verhaltens, hinter dem das Interesse an der Einbürgerung steht. Sobald der Handschlag verpflichtend wird, wird er bedeutungslos. Weil man durch den Zwang zum Händeschütteln nur Konformität – auf die das Gesetz nicht abstellt – herstellen, nicht aber die Wertvorstellungen Einbürgerungswilliger beeinflussen kann, ist das Händeschütteln kein geeignetes Indiz, um eine positive oder negative Aussage über die Einordnung eines Einbürgerungswilligen in deutschen Lebensverhältnisse zu treffen. Wie die faktische Pflicht zum Handschlag zu rechtfertigen ist, wenn sie als Indiz nicht geeignet ist, bleibt fraglich.
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