Keine Rechtfertigung für Sperrklauseln
Die im ersten Halbjahr 2023 erfolgte und lange überfällige Wahlrechtsänderung schaffte zwar die Grundmandatsklausel ab, behielt aber die 5%-Sperrklausel bei und erntete dafür viel Kritik. Nun haben 4242 Personen, organisiert über den Verein Mehr Demokratie e.V. und vertreten durch Prof. Kingreen eine Verfassungsbeschwerde gegen die in § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG verankerte 5%-Sperrklausel eingereicht.
Während die Bundestagswahl 2009 lediglich 6% der Zweitstimmen nicht in der Mandatsverteilung berücksichtigte, wuchs dieser Anteil – auch weil die FDP an der 5%-Sperrklausel scheiterte – bei der Bundestagswahl 2013 auf 15,7% und damit 6.861.439 Stimmen. Bei der Bundestagswahl 2017 sank der Anteil der nicht berücksichtigten Zweistimmen auf 5% und stieg bei der Bundestagswahl 2021 wieder auf 8,6% – immerhin knapp 3,9 Millionen Zweitstimmen. Allerdings, so die Verfassungsbeschwerde (S. 15), könnte es dazu kommen, dass bei Anwendung des beschlossenen neuen Wahlrechts und minimal anderen Ergebnissen der CSU sich 31,7% ihrer Zweitstimmenanteile nicht in Bundestagssitzen niederschlagen. Ein offensichtlich nicht akzeptables Ergebnis. Eine Abdeckungsregel würde den verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätzen besser entsprechen.
Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze durch Sperrklauseln
Sperrklauseln berühren die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und stellen einen Eingriff in die Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl dar. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl umfasst die Anforderung, dass für die Wählenden „ex ante erkennbar“ ist, „wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg und Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann“ (Morlok in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 79). Soweit Sperrklauseln existieren, ist für einen Teil der Wählenden gerade nicht erkennbar, wie sich ihre Stimmabgabe auswirkt, insbesondere wenn Parteien bei Prognosen im Vorfeld knapp über oder unter der Sperrklausel taxiert werden. Mit Sperrklauseln ist aber auch ein Eingriff in die Gleichheit der Wahl verbunden. Die Gleichheit der Wahl umfasst die Zählwert- und die Erfolgswertgleichheit. Im Rahmen der Verhältniswahl meint Erfolgswertgleichheit, dass jede*r Wählende mit „seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments“ haben können muss und deshalb gibt es „Anforderungen an eine spezifische Erfolgswertgleichheit für das Sitzzuteilungsverfahren.“ (Klein/Schwarz in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 38, Rz. 131). Es ist allgemein anerkannt, dass Sperrklauseln „eine empfindliche – mit ihrer Höhe zunehmende – Ungleichgewichtung des Erfolgswertes“ (Klein/Schwarz in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 38, Rz. 131) darstellen.
Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl werden aber nicht unbeschränkt gewährleistet. Einschränkungen der Unmittelbarkeit der Wahl sind zum Schutz anderer Verfassungswerte zulässig (vgl. Morlok in Dreier, GG, Art. 38, Rz. 85). Beeinträchtigungen der Gleichheit der Wahl bedürfen einer besonderen Rechtfertigung, das BVerfG spricht von einem „besonders zwingenden Grund“ (BVerfGE 95, 408, Rz. 43), der durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht ist, dass der Wahlgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 130. 212, Rz. 61).
Rechtfertigung der Sperrklauseln durch das BVerfG
Bislang hat das BVerfG Sperrklauseln bei der Bundestagswahl in mehreren Entscheidungen als zulässig angesehen und dies mit den mit der Wahl verfolgten Zielen begründet (vgl. BVerfGE 146, 327, Rz. 62). Dies dürfte sich aber nicht länger aufrechterhalten lassen.
Sperrklauseln müssen in ein Verhältnis zur Repräsentations-, Gesetzgebungs- und Kreationsfunktion der Wahl gesetzt werden. Während die Repräsentationsfunktion die Integration der politischen Kräfte im Volk sicherstellen und verhindern soll, dass gewichtige Anliegen von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben (vgl. Müller in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 38, Rz. 19), stellt die Gesetzgebungsfunktion darauf ab, dass das Parlament „das Hauptorgan der Gesetzgebung“ ist (vgl. Müller in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 38, GG, Rz. 22). Die wichtigste Aufgabe im Rahmen der Kreationsfunktion ist die Wahl des/der Bundeskanzler*in (vgl. Müller in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 38 GG, Rz. 24).
Um Sperrklauseln zu rechtfertigen, kommt es mithin darauf an, ob diese Funktionen ohne Sperrklausel beeinträchtigt oder verunmöglicht werden. So sieht es wohl auch das BVerfG, wenn es bei der Rechtfertigung darauf abstellt, dass mit der Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung auch die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung verbunden ist und eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung zu einer ernsthaften Beeinträchtigung ihrer Handlungsfähigkeit führt. (vgl. BVerfGE 130, 212, Rz. 62).
Offensichtlich ist, dass die unterschiedlichen mit einer Wahl verfolgten Ziele in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Repräsentationsfunktion vollumfänglich umgesetzt kommt es zu – behaupteten – Konflikten mit der Funktionsfähigkeit des Vertretungsorgans und möglichen Konflikten im Hinblick auf die Regierungsbildung und Gesetzgebung.
„unbedingte Erforderlichkeit“
Vor dem Hintergrund des beschriebenen Konfliktes ist es eine Frage der Verhältnismäßigkeit, ob angesichts der realen politischen Verhältnisse eine Sperrklausel generell und wenn ja in welchem Umfang verfassungsrechtlich zulässig ist. Das BVerfG (vgl. BVerfGE 55, 122, Rz. 53) hat ausgeführt, dass Differenzierungen des Erfolgswertes nur vorgenommen werden dürfen, soweit dies zur Sicherung der mit den Wahlen verfolgten Ziele „unbedingt erforderlich“ ist.
Auf den desintegrativen Charakter der aktuellen 5%-Sperrklausel wird in der von Mehr Demokratie e.V. organisierten Verfassungsbeschwerde ausführlich hingewiesen. Der § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG sei „desintegratives Recht“ und es ist von der „Zerrklausel“ die Rede, die „zu künstlichen Mehrheiten im Parlament (führt), die die Mehrheit der abgegebenen Stimmen verzerren“. Die Integrationsfunktion der Wahl werde gefährdet und „das parlamentarische Spektrum in einer Weise verengt, dass die tatsächliche parteipolitische und damit auch gesellschaftliche Vielfalt nicht mehr adäquat zum Ausdruck kommt“ (S. 68).
Die Bekämpfung von „Splitterparteien“ kann die zwingende Erforderlichkeit nicht begründen. Die Verfassungsbeschwerde verweist auf die Entscheidung BVerfGE 129, 300 (340), nach der es nicht Aufgabe des Wahlrechts ist, „die Bandbreite des politischen Meinungsspektrums – etwa im Sinne besserer Übersichtlichkeit der Entscheidungsprozesse in den Volksvertretungen – zu reduzieren“, und die die Bekämpfung von Splitterparteien überzeugend als „illegitimes Ziel“ (S. 42) bezeichnet. Die Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung wiederum – so auch die Verfassungsbeschwerde – sei in ein Verhältnis zur Funktion der Wahl als „Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes“ zu setzen. Die Verfassungsbeschwerde verweist (S. 44) darauf, dass über die „Relevanz des Willens der Mitglieder eines Volkes (…) nach dem in Art. 20 Abs. 2, S. 1 GG gewährleisteten Grundsatz der Volkssouveränität nicht der Staat (entscheidet), sondern (…) die Wählerinnen und Wähler („Willensbildung von unten nach oben“).“
Historisch findet sich dementsprechend auch kein Anknüpfungspunkt für eine Sperrklausel, im Gegenteil: Der Parlamentarische Rat hatte eine Sperrklausel mehrfach explizit abgelehnt, im ersten Bundeswahlgesetz war sie auf Beschluss der Ministerpräsidenten enthalten (vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 29, S. 812, Fn. 14). Becht weist – mit der Fehleranfälligkeit der Nichtvorhersehbarkeit des Wählendenverhaltens bei einem anderen Wahlsystem – nach, dass die Regierungsbildung in der Weimarer Republik mit einer Sperrklausel erschwert worden wäre (vgl. Becht, Die 5% Sperrklausel im Wahlrecht). Da das Weimar-Argument nicht zieht, wird in der Verfassungsbeschwerde geschlussfolgert (S. 56), dass der Gesetzgeber positiv begründen müsste, warum es einer Sperrklausel bedarf, um die Funktionsfähigkeit des Parlamentes zu sichern.
Um dies zu prüfen, wird mit rechnerischen Beispielen gearbeitet. In einer Art „Wette auf die Zukunft“ werden die bisherigen Ergebnisse von Wahlen zu Grunde gelegt. Allerdings sind diese nur bedingt „übertragbar“, denn sie können potenziell verändertes Wahlverhalten ohne Sperrklausel nicht berücksichtigen. Unbeachtet bleiben dabei andere Vorkehrungsmechanismen. Bei der Bundestagswahl 2009 wären, soweit die gesetzliche Anzahl der Bundestagsmandate zu Grunde gelegt wird, sieben weitere Parteien im Bundestag vertreten gewesen, bei der Bundestagswahl 2013 neben der FDP acht weitere Parteien, bei der Bundestagswahl 2017 sieben weitere Parteien und bei der Bundestagswahl 2021 acht weitere Parteien. Dies scheint zunächst für die Notwendigkeit einer Sperrklausel zu sprechen, um die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Vertretung sicherzustellen.
Warum die Sperrklausel nicht unbedingt erforderlich ist
Bei einem Blick auf die rechtlichen Vorkehrungsmechanismen ergibt sich allerdings, dass Sperrklauseln für die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (vgl. BVerfGE 146, 327 Rn. 62) nicht unbedingt erforderlich sind.
Auf der Ebene des Grundgesetzes kann insoweit auf Artikel 63 (Wahl des/der Bundeskanzler*in) und Artikel 67 (Konstruktives Misstrauensvotum) verwiesen werden. Neben dem Grundgesetz enthält aber vor allem die Geschäftsordnung des Bundestages umfassende Vorkehrungen gegen ein handlungsunfähiges Parlament. Die Legitimität entsprechende Regelungen zu schaffen, wurde vom BVerfG hat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1997 ausdrücklich anerkannt (Rz. 61/62):
„Das Recht des Bundestages nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG, sich eine Geschäftsordnung zu geben, setzt ihn in den Stand, seine Aufgaben zu erfüllen. Die Regelungen der Geschäftsordnung wirken sich notwendig immer auch als Beschränkungen der Rechte der einzelnen Abgeordneten aus (vgl. BVerfGE 84, 304 <321>). Differenzierungen zwischen Abgeordneten bedürfen jedoch stets eines besonderen rechtfertigenden Grundes (vgl. BVerfGE 93, 195 <204>). Ein verfassungsrechtlich tragfähiger Grund für die Festsetzung einer Fraktionsmindeststärke liegt in der Autonomie des Deutschen Bundestages, durch seine Geschäftsordnung die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Die Geschäftsordnung enthält vielfach Regelungen, die vorsehen, daß bestimmte Antragsrechte nur von einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages ausgeübt werden können. Die Differenzierung zwischen Fraktionen und anderen Zusammenschlüssen ist gerechtfertigt, da sie der Gefahr begegnet, daß die parlamentarische Arbeit durch eine Vielzahl von – letztlich aussichtslosen – Anträgen kleiner Gruppen behindert wird.“
In der Geschäftsordnung wird durch § 10 ausgeschlossen, dass sich Abgeordnete zu einer Fraktion zusammenschließen, die bei der Bundestagswahl noch auf konkurrierenden Listen angetreten sind. Nach den §§ 6, 12 GO BT dürfen nur Fraktionen Vertreter*innen im Ältestenrat bestimmen und namentliche Abstimmungen beantragen (§ 52 GO BT). Über die §§ 75, 76 GO BT wird sichergestellt, dass unter anderem nur Fraktionen Gesetzentwürfe, Anträge, Große Anfragen, Kleine Anfragen, Wahlvorschläge, Änderungsanträge und Entschließungsanträge einbringen können, es sei denn die Geschäftsordnung regelt etwas anderes. Abweichende Regelungen wurden in der 12. Und 13. Wahlperiode für Gruppen geschaffen. Jenseits von möglichen Gruppenregelungen verbleiben für die Bundestagsabgeordneten, die weder einer Fraktion noch einer Gruppe angehören, lediglich die Fragen in der Fragestunde, der schriftlichen Fragen und des Rederecht.
Bliebe noch das Argument, dass die Mehrheitsbildung schwieriger werden könnte. Dies ist sicherlich nicht auszuschließen, aber eben auch nicht zwingend. Zum einen ist nicht vorhersagbar, wie die fraktions- und gruppenlosen Abgeordneten „kleiner“ Parteien sich konkret bei Abstimmungen verhalten werden, zum anderen gibt es auch kein Recht auf „einfache“ oder vorab „planbare“ Mehrheitsbildung.
Wäre die Abdeckungsregelung eine überzeugende Alternative?
Als Alternative zur derzeitigen Regelung führt die Verfassungsbeschwerde sowohl regionalisierte und abgesenkte Sperrklausel an (S.58/59). Die regionalisierte Sperrklausel wird nicht auf das gesamte Wahlgebiet angewendet, sondern auf Teilgebiete. Eine abgesenkte Sperrklausel legt einen anderen zu überwindenden Prozentwert fest. Beide würden das Spektrum der im Parlament vertretenen Parteien im Parlament erweitern, stellen aber nicht sicher, dass eine Mindestanzahl der abgegebenen gültigen Stimmen im Parlament vertreten ist.
Eine weitere Alternative wäre eine Abdeckungsregelung, die Prof. Dr. Johannes Grabmeier mit dem überparteilichen Deggendorfer Bürgerforums für lebendige Demokratie und Toleranz e.V.im Jahr 2013 entwickelt hat und sicherstellen soll, dass mindestens 95% der abgegebenen gültigen Zweitstimmen im Parlament vertreten sind. Dazu werden die Parteien
„nach ihren Zweitstimmenanteilen der Größe nach absteigend gereiht und diese Anteile kumuliert. Die Partei, die als letzte dazu beiträgt, dass mindestens 95 % der Stimmen erreicht werden, ist die kleinste Partei, die noch Mandatszuteilungen erfährt. Alle anderen – deren Anteilsumme ist dann kleiner als 5 % – scheitern damit an einer kumulativen 5-Prozent-Hürde.“
Bei Anwendung dieser Regelung wären bei der Bundestagswahl 2009 nicht nur CDU, SPD, FDP, Grüne, LINKE und CSU im Bundestag vertreten gewesen, sondern auch die Piratenpartei. Bei der Bundestagswahl 2013 wäre die FDP nicht am Einzug in den Bundestag gescheitert und zusätzlich zu CDU, SPD, Grüne, LINKE und CSU sowie AfD und Piratenpartei im Parlament vertreten gewesen. Bei der Bundestagswahl 2017 wiederum hätte die Abdeckungsregelung keine andere Zusammensetzung zur Folge gehabt. In der jetzigen Legislaturperiode wären zusätzlich die Freien Wähler und die Tierschutzpartei im Parlament vertreten.
Diese Abdeckungsregelung ist weniger eingriffsintensiv als die 5%-Sperrklausel, ohne dass es zu einem handlungsunfähigen Parlament kommt. Auch die Abdeckungsregelung kann ein handlungsfähiges Parlament nicht garantieren. Allerdings gilt auch hier, dass die Geschäftsordnung des Bundestages Vorkehrungen enthält, um die Handlungsfähigkeit sicherzustellen.
Fazit
Die Änderung des Bundeswahlgesetzes, die eine Zweitstimmendeckung für die Wahlkreisbesten verlangt, ist im Kern zu begrüßen. Dass das neue Wahlrecht die Grundmandatsklausel abschafft, ohne die Sperrklausel anzutasten, mach es verfassungsrechtlich angreifbar. Die von Mehr Demokratie e.V. organisierte Verfassungsbeschwerde macht dies deutlich.
Für eine Sperrklausel gibt es derzeit keine zu ihrer Rechtfertigung erforderliche „unbedingte Erforderlichkeit“, da ausreichend rechtliche Sicherungsvorkehrungen vor allem in der Geschäftsordnung des Bundestages existieren, um die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Hält der Gesetzgeber es für unverzichtbar, die Zweitstimmenanteile zu begrenzen, bieten sich alternative Lösungen wie die Abdeckungsregelung an.
Sie meinen Bundestagswahl 2021, nicht 2023, richtig?
Ja
“Allerdings, so die Verfassungsbeschwerde (S. 15), könnte es dazu kommen, dass bei Anwendung des beschlossenen neuen Wahlrechts und minimal anderen Ergebnissen der CSU sich 31,7% der Zweitstimmenanteile nicht in Bundestagssitzen niederschlagen.”
Das ist falsch. Der Beschwerdetext ist an dieser Stelle tatsächlich ein wenig verworren, bei den 31,7% handelt es sich um den Zweitstimmenanteil der CSU in Bayern bei der Bundestagswahl 2021.
In Bayern wäre der Anteil aller Zweitstimmen, die ohne Auswirkung auf die Mandatsverhältnisse blieben, deutlich höher (ungefähr 50%, insbesondere aufgrund der guten Ergebnisse der Freien Wähler); während der bundesweite (und hier eigentlich gemeinte) Anteil bei etwa 20% liegen würde.
Im Ergebnis überzeugend, doch ist mir nicht ganz klar, warum erst mit Abschaffung der Grundmandatsklausel die Sperrklausel verfassungswidrig geworden sein soll. Nach Ihrer Argumentation war sie doch auch schon mit Grundmandatsklausel verfassungswidrig, oder? Denn schon damals war sie im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Bundestages angesichts der hypothetischen Sitzverteilungen und den Vorkehrungen in der GOBT nicht “unbedingt erforderlich”. Nur die Abweichung von der Erfolgswertgleichheit und die Beeinträchtigung der Integrationsfunktion der Wahl sind nun noch intensiver.
Aus meiner Sicht war sie schon vorher verfassungswidrig. Der Ausgangspunkt im Beitrag ist eher, dass durch den Wegfall der Grundmandatsklausel -als Option der Umgehung der Sperrklausel- die Verfassungswidrigkeit evidenter ist
Danke für Ihren Beitrag.
Sie schreiben richtig, dass Sperrklauseln sich eng an den Zielen der Wahl rechtfertigen müssen. Tatsächlich ist die fehlende Abdeckung ein Nachteil der Sperrklauseln. Aber immerhin sind Sperrklauseln ein geeignetes Mittel um die Kreations- und Gesetzgebungsfunktion zu erfüllen, da sie gesichert den Einzug kleinerer Parteien verhindern.
Diese Geeignetheit kann man bei der vorgeschlagenen Abdeckungsregelung anzweifeln. Sie kann den Ausschluss von Kleinstparteien nicht sicherstellt. Man stelle sich die Situation vor, bei der die größeren Parteien insgesamt 90% der Stimmen abdecken und die darauf folgenden Parteien, anders als aktuell die Linke oder die CSU, nur noch sehr kleine Anteile auf sich selbst vereinen. Der Bundestag ist dann, ähnlich wie aktuell das spanische oder britische Parlament, mit größeren Parteien besetzt, die jedoch ohne die Inklusion von Kleinstparteien oder Einzelsitzmandaten keine Mehrheit bilden können. Daher mag die Abdeckungsregelung der Sperrklausel in der Erfüllung der Repräsentationsfunktion überlegen sein. Sie ist jedoch ungeeignet ihr eigentliches Ziel zu erfüllen und daher deutlich schwerer, wenn überhaupt, zu rechtfertigen.
Die Abdeckungsregelung hat eine zweite Schwäche hinsichtlich der Erfolgswertgleichheit. Während für die Wähler:in im Vorfeld von Wahlen anhand von Umfragen erkennbar ist, ob die von ihr favorisierte Partei in die Nähe der Sperrklausel rückt und damit eine reelle Chance auf Einzug in das Parlament hat, ist das bei der Abdeckungsregelung nicht gegeben. Wer informiert eine Partei im zwei Prozentbereich wählt, tut dies in voller Kenntnis der fehlenden Erfolgswertgleichheit. Mit der Abdeckungsregelung wird die vorher starre Hürde der Sperrklausel zu einer Hürde in Bewegung, die für die Wähler:innen wesentlich schlechter einschätzbar ist und damit ihre Erfolgswertgleichheit mindert.
Der konsensuelle Staatsaufbau der BRD mit dem Element der Verhältniswahl erfordert eine hohe Kompromissfähigkeit von Parteien nach der Wahl. Die Sperrklausel verlagert einen kleinen Teil dieser Last des Kompromisses zurück auf die Wähler:innen. Bei der Abdeckungsregelung wird auch dieses, lohnenswerte Element der Sperrklauseln, geschwächt.
Der Verfassungsbeschwerde ist insoweit zuzustimmen, als dass die 5%-Sperrklausel in der Neufassung des BWahlG von Verfassungs wegen so nicht haltbar ist. Von der Gleichheit des Erfolgswerts jeder Stimme darf der Gesetzgeber nur abweichen, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages erforderlich ist. Dies ist nicht der Fall, wie die BF in ihrer Verfassungsbeschwerde ausführlich herleiten.
Die Frage ist jedoch, wie die beiden kontrahierenden Pole – einerseits der gleiche Erfolgswert jeder Stimme und anderseits die Funktionsfähigkeit des Parlaments – auszubalancieren sind. Die von den BF als gegenüber der 5%-Sperrklausel auf Bundesebene als milderndes Mittel bezeichnete regionalisierte 5%-Klausel birgt indes ebenfalls Verwerfungen: Erreicht die Partei X (z.B. die Linke oder die FDP) in Bremen 5% der Stimmen, wäre diese im BT vertreten, auch wenn sie die 5%-Hürde auf Bundeseben nicht erreicht. Hingegen wäre die Partei Y (z.B. FDP), wenn sie die 5%-Hürde (auch) auf Landesebene knapp nicht erreicht, nicht im BT vertreten, obwohl sie ein Vielfaches der Stimmen im Vergleich zur Partei X auf sich vereinigen könnte. Dies liegt schlicht darin begründet, dass die Anzahl der Wahlberechtigten in Bayern ein Vielfaches der in Bremen beträgt. Ein durchaus realistisches Szenario. Die Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen ist nicht mehr ansatzweise gewahrt.
Freilich: Irgendwelche Kompromisse hat der Gesetzgeber zu schließen. Was mir in der politischen und rechtlichen Diskussion zu kurz kommt, ist ein gänzlich anderer Ansatz zur Ausbalancierung der beiden kontrahierenden Grundsätze: Für die (bloße) Verteilung der Mandate wird jede Partei berücksichtigt, sofern auf sie rechnerisch mindestens ein Mandat entfällt; insoweit gilt keine 5%-Klausel. Jedoch haben die Abgeordneten, deren Partei die 5%-Hürde auf Bundeebene nicht schaffen, nur eingeschränkte Rechte: Bei der Wahl des Kanzlers, beim Misstrauensvotum und bei der Änderung der GO wären sie ausgeschlossen. Damit wird die Funktionsfähigkeit des BT gewahrt. Es ist zu konzedieren, dass diese Abgeordneten quasi welcher zweiter Klasse sind. Aufgrund der Einschränkung ihrer Rechte wird in den Grundsatz der Gleichheit der Mandatsträger (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) eingegriffen. Jedoch würde die Integrationsfunktion der Wahl gestärkt; es würden kaum Stimmen „unter den Tisch fallen“. Zudem würde die „Fallbeillösung“ (wenn 5% der Stimmen erreicht werden, sind die Gewählten mit vollen Rechten im BT vertreten, wenn die 5%-Hürde nicht erreicht wird, ist die betroffene Partei gar nicht vertreten) abgemildert.
Die Abdeckungsregelung hat auch ein Problem mit der Unmittelbarkeit der Wahl: Eine Stimme für eine Partei X, die (auch dadurch) bei der Mandatsvergabe nicht zu berücksichtigen ist, senkt den Stimmenanteil aller anderen Parteien und kann dazu führen, dass eine Partei Y nun an der Mandatsvergabe teilnahmeberechtigt ist, was sie vorher nicht war. Konkret hätte also eine Stimme für X der Partei Y zum (nicht unwesentlichen) Mandatsgewinn verholfen. Die Unmittelbarkeit wäre also deutlich unterlaufen, insbesondere, wenn X und Y völlig gegensätzliche Ansichten verträten, also eine Wählerin der Partei X alles wollen könnte, nur nicht eine Stärkung von Y…
meiner Meinung nach könnte man derart die 5% Klausel wirklich gut begründet abschaffen. Trotzdem stellt sich – auch mit 5% Klausel – die Wahl, wie in Zukunft regiert werden soll. Da sich über die Legislatur vor allem im Bundesrat die Mehrheiten verschieben, wird Durchregieren nicht möglich. Wollen wir uns als Volk wirklich leisten, dass im Ernstfall eine Regierung nur ein halbes oder ein ganzes Jahr halbwegs effektiv aus einem Guss regieren kann?
Meiner Meinung nach sollte deshalb darüber nachgedacht werden, ob ein Kanzler für eine Legislatur nicht nach der Bundestagswahl aus den stärksten 2 oder 3 Parteien per Abstimmung im neuen Parlament gewählt wird, und ihm durch die Wahl ein gewisses zusätzliches Gewicht – 5-10% der Stimmen – zuerkannt wird, damit Entscheidungen, die er vertritt, leichter durch gehen, auch wenn sie nicht unangreifbar sein werden. Irgendwie müsste man dann auch noch den Fraktionszwang verhindern, denn die Volksvertreter vertreten das Volk, nicht eine Partei.
Die vorgestellte Situation, dass es nach der kleinsten Partei > 5% nur noch ganz viele sehr kleine Parteien kommen ist sehr konstruiert und doch eher unwahrscheinlich. Die Wahlergebnisse sollten einer kontinuierlichen Verteilungsfunktion folgen. Ohne Einfluss spezifischer Regeln des Wahlsystems sollte es im Allgemeinen dort keine große Lücke geben. D.h die nächsten Parteien würde man bei etwa 4 und 3 und 2 Prozent erwarten. Damit wären mir drei weiteren Parteien schon weitere ca. 10% dabei.
Die Lücke entsteht zurzeit erst durch die 5% Klausel, weil diese “verlorenen stimmen” nach oben geschoben werden, um nicht ihren Einfluss zu verlieren.
Allerdings ist anzunehmen, dass derzeit nach oben verschobene Stimmen wieder nach unten wandern.