Kippt in Brüssel das individuelle Asylrecht?
EU-Kommission für legale „Pushbacks“ an den EU-Außengrenzen
Während ganz Deutschland leidenschaftlich den „Merz-Plan“ für Zurückweisungen an den deutschen Grenzen diskutiert, hat in Brüssel eine Grundsatzdebatte von viel größerer Tragweite begonnen. In einer spektakulären Wendung erachtet die EU-Kommission „Pushbacks“ unter Umständen neuerdings für rechtmäßig. Das ist heikel, weil Pushbacks an den Außengrenzen das individuelle Asylrecht beseitigen. Dagegen hebelten deutsche Zurückweisungen „nur“ die EU-Gesetzgebung aus. Das Asylrecht bliebe bestehen, würde allerdings in den Nachbarländern gewährt – genauso wie es die Grundgesetzänderung von 1993 vorgesehen hatte. Solange die Nachbarländer allen Zurückgewiesenen ein Asylverfahren gewähren und diese unterbringen, droht kein Menschenrechtsverstoß. Bei „Pushbacks“ ist das anders. Griechenland, Ungarn, Spanien in Nordafrika, Polen, Finnland und Litauen planen oder praktizieren diese bereits – nach Meinung der Kommission unter Umständen zu Recht.
„Pushbacks“ sind viel radikaler als „Zurückweisungen“
Es war insofern ein hinkender Vergleich, als Friedrich Merz im TV-Duell mit Olaf Scholz auf diese Länder verwies (hier, ab Minute 18‘30). Gemeinsam ist dem „Merz-Plan“ und „Pushbacks“ an den Außengrenzen, dass der Notlageklausel in Artikel 72 EU-Arbeitsweisevertrag (AEUV) eine juristische Schlüsselrolle zukommt. Nur an den Außengrenzen jedoch werden die Menschenrechte eingeschränkt. Deswegen unterscheide ich sprachlich zwischen „Zurückweisungen“, die einzig die Dublin-Regeln suspendieren, und „Pushbacks“, die das individuelle Asylrecht aufheben und das Refoulementverbot relativieren.
Früher stritten die Regierungen offiziell ab, dass sie Asylbewerber an den Außengrenzen an der Einreise hindern. Das änderte sich erstmals, als im Februar 2020 der türkische Präsident Erdoğan eine Grenzöffnung inszenierte. Die griechische Regierung reagierte offiziell mit Pushbacks, indem es die Grenzen schloss und Asylbewerber, die es dennoch irgendwie schafften, in die Türkei zurücktransportierte. Ursula von der Leyen pries Griechenland als “ασπίδα” (Schild) Europas. Die rechtliche Debatte versandete alsbald, weil die Türkei einen Rückzieher machte und die Pandemie den Grenzverkehr stoppte.
Sie flammte wieder auf, als der weißrussische Diktator kurz vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine potentielle Asylbewerber über Touristenvisa einreisen ließ und diese sodann über die grüne Grenze nach Polen und Litauen verfrachtete. Der Europäische Rat beklagte einen „hybriden Angriff“ (hier, Nr. 19). In Brüssel wird seither über die „Instrumentalisierung“ von Migration gestritten; die EU-Kommission spricht in einer sprachlichen Verhärtung nunmehr vom „Einsatz als Waffe“ (weaponisation). In einer bemerkenswerten, wenn auch unverbindlichen Mitteilung kurz vor Weihnachten unterstützte sie „Pushbacks“.
Die Mitteilung bereitete den Boden für eine Grundsatzdebatte
Die Kommission reagierte auf die Strategie der polnischen Regierung unter Donald Tusk, der während der „Flüchtlingskrise“ in Brüssel als Präsident des Europäischen Rates der Gegenspieler von Angela Merkel gewesen war. Donald Tusk nutzt die Asylpolitik, anders als der Ungar Viktor Orbán, nicht zur antieuropäischen Propaganda, worauf die Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit strenger Kritik reagieren. Stattdessen will Tusk die Brüsseler Institutionen auf seine Seite ziehen. Im Oktober holte er sich die politische Unterstützung der Staats- und Regierungschefs (hier, Nr. 38). Selbst Olaf Scholz stimmte einer vagen Formulierung zu, die als politische Unterstützung von Pushbacks gelesen werden kann.
Die Mitteilung der Kommission ist die Antwort auf die Forderungen von Donald Tusk, auch wenn sie – jedenfalls vorerst – davor zurückschreckt, die EU-Gesetzgebung zu ändern. Die Aktivierung von Artikel 72 AEUV überantwortet die rechtliche Verantwortung den nationalen Regierungen. Nichtsdestotrotz ist die Mitteilung ein kaum verhüllter Versuch, drei laufende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie potentielle künftige Klagen vor dem EuGH zu beeinflussen. Falls diese Pushbacks in Reaktion auf eine Instrumentalisierung gutheißen, dürfte nicht nur Polen auf eine förmliche Gesetzesänderung drängen.
Doch auch ein Urteil, das polnische Pushbacks für menschenrechtswidrig erklärt, könnte eine Grundsatzdebatte entfachen. Beim informellen EU-Innenministerrat in Warschau zirkulierte die polnische Ratspräsidentschaft vor zwei Wochen ein Hintergrundpapier, das offen eine Änderung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und anderer Verträge anspricht. In Deutschland registriert all das kaum jemand – nur das Wahlprogramm der Grünen lehnt solche Praktiken ab (hier, S. 131 am Ende).
Stattdessen konzentrieren sich die deutsche Öffentlichkeit und Politik auf eine national verengte Debatte über Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Das könnte sich nach der Bundestagswahl schnell ändern, wenn die künftige Bundesregierung realisiert, dass der Merz-Plan nachhaltig nur bei einer europäischen Einbettung funktioniert. Dann könnte wahr werden, was Torsten Frei (CDU) vor 18 Monaten in der FAZ verlangte und jüngst der Historiker Heinrich August Winkler in DER SPIEGEL skizzierte: eine förmliche Abschaffung des individuellen Asylrechts. Juristisch geht das heutzutage nur noch mittels einer EU-weiten Reform.
Erneut im Zentrum: Notlagenklausel des Artikels 72 AEUV
In ihrer Mitteilung rekurriert die Kommission auf eine Bestimmung, die in Deutschland inzwischen die breitere Öffentlichkeit kennt: Artikel 72 AEUV. Diese erachtet der EuGH in einer „ständigen Rechtsprechung“ als potentielle Rechtfertigung, um die EU-Gesetzgebung bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorübergehend zu missachten. In der Praxis war damit bisher kein Mitgliedstaat erfolgreich. Theoretisch denkbar ist es jedoch, weshalb es – wie ich in einem früheren Beitrag darlegte – juristisch falsch ist, den Merz-Plan als evident rechtswidrig abzukanzeln.
Die Kommission stützt nun das Argument, dass die Instrumentalisierung durch Belarus eine Notlage begründet. Ein EuGH-Urteil aus dem Juni 2022 hatte das zwar anders gesehen, lehnte die Idee jedoch nicht generell ab. Der Sachverhalt betraf die Sekundärmigration zwischen Polen und Litauen und damit keine direkte Einreise aus Belarus. Außerdem hatte Litauen die Notlage vor dem Gerichtshof nicht substantiiert und so den Gedanken praktisch aufgegeben. Es bleibt damit offen, ob der EuGH das bestehende Sekundärrecht, insbesondere Grenzverfahren und Haftoption sowie die künftige Krisenverordnung, für ausreichend erachtet, um „hybriden Gefahren“ an den Außengrenzen wirksam zu begegnen (hier, Rn. 74). Die Kommission lässt keinen Zweifel, dass sie dies anders sieht, auch wenn sie dieses Ergebnis nicht explizit formuliert.
Refoulementverbot als absolute Grenze
Nicht nur im Wahlkampf wünschen viele klare Antworten, die die übergroße Komplexität des Migrationsrechts häufig nicht liefern kann. Es gibt – wie bei der aktuellen Debatte über den Familiennachzug zu Bürgerkriegsflüchtlingen – häufig Umwege und Abzweigungen, die selbst Fachleute verwirren können. Für „Pushbacks“ ist die Unterscheidung zwischen dem Refoulementverbot und dem Asylrecht essenziell. Beide Garantien hängen zusammen und meinen doch etwas anderes. In den Worten des EGMR: „Weder die EMRK noch ihre Protokolle gewährleisten ein Asylrecht. Ihr Schutz beschränkt sich auf … das Verbot der Zurückweisung“ (hier, § 188). Was also ist der Unterschied zwischen beiden Garantien?
Das Refoulementverbot verpflichtet die Staaten, niemanden in unsichere Gebiete zurückzuschicken. Das Asylrecht geht insofern weiter, als alle Antragsteller zuerst einmal einreisen dürfen, um ein Asylverfahren zu durchlaufen; im Fall einer positiven Entscheidung bekommen sie weitgehende Rechte. Für unsere Zwecke sind das Einreise- und vorläufige Bleiberecht entscheidend. Pointiert formuliert: Wer das Wort „Asyl“ sagt, darf auch dann einreisen, wenn evident keine Verfolgung droht (hier, Rn. 86-94; hier, Rn. 95-106). Dies geht weiter als das Refoulementverbot, wenn eine Zurückweisung keine „reale Gefahr“ einer Misshandlung mit sich bringt. Auch eine Kanadierin, die am Frankfurter Flughafen um Asyl nachsucht, darf während des Asylverfahrens zuerst einmal bleiben.
Der juristische Kern der jüngsten Kommissionsmitteilung besteht darin, das vorläufige Einreise- und Bleiberecht gemäß der Artikel 6 und 9 der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU im Lichte des Artikels 72 AEUV aufzuheben. Einzig das Refoulementverbot sei zwingend zu beachten. Nun ist letzteres jedoch nach der EGMR-Rechtsprechung eine „absolute“ Garantie (hier, § 124-127). Ganz ähnlich wie bei der deutschen Menschenwürde sind Eingriffe nicht möglich. Das anerkennt die Mitteilung in der Fußnote 29, die man leicht überliest. Für manche ist damit die Debatte beendet: Wenn das Refoulementverbot absolut gilt, sind „Pushbacks“ immer illegal.
Laut EGMR-Rechtsprechung gibt es legale „Pushbacks“
Das stimmt so nicht. Der Schlüssel zum Verständnis für den Grund hierfür, ist die Reichweite des Refoulementverbots. „Pushbacks“ verletzten dieses nicht immer. Das Refoulementverbot verbietet keine Zurückweisung in Länder, in denen objektiv keine Verfolgung droht (hier, §§ 134-141). Zwar eröffnet dann das Kollektivausweisungsverbot den Betroffenen die Möglichkeit, Argumente vorzubringen, warum eine Zurückweisung dennoch nicht stattfinden soll. Das hindert jedoch nicht Sofortvollzug der Zurückweisung, noch bevor ein Gericht zustimmte, soweit kein illegales Refoulement droht (hier, S. 309-311, 184). Deutsche Zurückweisungen nach dem Merz-Plan könnten hiernach menschenrechtskonform sein. An der EU-Ostgrenze scheidet dies wegen der instabilen Lage in Belarus jedoch aus.
Einen Schritt weiter ging der EGMR, als das N.D. & N.T.-Urteil eine Ausnahme einführte. Spanische Pushbacks waren rechtmäßig, weil das „eigene Verhalten“ (own conduct) einer Gruppe von jungen Männern dies rechtfertigte, die gewaltsam über den sieben Meter hohen Grenzzaun zur spanischen Exklave Melilla in Nordafrika geklettert waren. Es gibt also eine Ausnahme, deren Reichweite freilich unklar bleibt. Bisherige Urteile schwanken zwischen Gewaltanwendung, hohen Zahlen und legalen Einreiseoptionen (hier, §§ 207-209; hier, §§ 59-65; hier, §§ 114-122; hier, §§ 117-119). Außerdem erstreckten zwei Urteile die Ausnahme auf das Refoulementverbot (hier, §§ 19-20; hier, § 117). Es lässt sich mit dogmatischen Argumenten nicht verlässlich prognostizieren, ob die Situation an der Ostgrenze der N.D. & N.T.-Ausnahme unterfällt. Wenn dem so wäre, bliebe das Refoulementverbot eine absolute Garantie, die Pushbacks nicht verbietet.
Die Frage ist nicht nur rechtspolitisch relevant. Am 12. Februar 2025 findet vor dem EGMR die mündliche Verhandlung zu drei Verfahren statt, die die Reichweite des Refoulementverbots angesichts einer Instrumentalisierung entscheiden müssen (hier; hier; hier). Soweit die Große Kammer im anstehenden Urteil keinen Menschenrechtsverstoß feststellt, würde letztlich eine Variation der Sicherheitsausnahme in Artikel 33 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in die EMRK integriert. Die Kommissionsmitteilung nennt die Norm prominent. Gewiss deuten einige die GFK im Sinn einer individuellen Prüfung restriktiv. Es steht jedoch nicht fest, ob diese Vorschläge das Völkerrecht adäquat widerspiegeln.
Menschenrechtskonforme Pushbacks wären eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Flüchtlingsvölkerrechts. Noch 1967 hatte die UN-Generalversammlung explizit Zurückweisungen bei einem Massenzustrom und Sicherheitsgefahren für zulässig erachtet. In den Jahren nach 1990 beseitigte zahlreiche EGMR-Judikatur die früheren Staatenspielräume. In der Gegenwart könnten diese zurückkehren. Das „lebende Instrument“ (living instrument), als das der EGMR die EMRK beschreibt, muss keine Einbahnstraße darstellen, um das Schutzniveau beständig zu erhöhen. Eine Trendumkehr in diese Richtung will die Kommission augenscheinlich erreichen.
Mehrwert des Asylrechts in der EU-Grundrechtecharta
Nun urteilte der EGMR im Asylrecht zuletzt vorsichtig, während die Grundrechtsurteile des EuGH sich dynamisch entwickeln. Demgemäß richtete sich der Blick schnell nach Luxemburg, wenn der Straßburger EGMR die polnischen Pushbacks billigte. Zwar gilt dessen Ergebnis gemäß Artikel 52 Absatz 3 der EU-Grundrechtecharta (GRCh) auch für deren Folter- und das Refoulementverbot in den Artikeln 4 und 19. Zugleich reicht die Charta jedoch weiter als die EMRK und gewährleistet auch ein Asylrecht.
Das bringt uns zu einer letzten Frage: Umfasst das Asylgrundrecht in Artikel 18 GRCh ein vorläufiges Einreise- und Bleiberecht für alle Antragsteller? Wenn dem so wäre, könnten Pushbacks selbst dann gegen die Charta verstoßen, wenn der EGMR diese billigte. Ganz in diesem Sinne schlussfolgerte ein EuGH-Urteil kürzlich, dass Pushback-Praktiken gegen die Verfahrensrichtlinie „verstoßen“, während sie das Refoulementverbot „verletzen … kann“ (hier, Rn. 50, 53). Der Gerichtshof unterscheidet subtil zwischen dem Asylrecht, das Pushbacks immer verbietet, und dem Refoulementverbot, gegen das diese nicht automatisch verstoßen.
Damit schließt sich der Kreis. Selbst wenn man die gesetzlichen Garantien der Asylverfahrensrichtlinie unter Rückgriff auf Artikel 72 AEUV vorübergehend außer Kraft setzt, bleibt die Frage, ob dies mit Artikel 18 GRCh vereinbar ist, dessen Gehalt nach Ansicht des EuGH durch die Asylverfahrensrichtlinie „konkretisiert“ wird (hier, Rn. 192; hier, Rn. 44). Artikel 72 AEUV beantwortet diese Frage nicht, denn die Grundrechte können nicht pauschal unter Verweis auf die Ausnahmeklausel beiseite geschoben werden. Auch dies ist jedoch nur scheinbar das Ende der juristischen Analyse: Gerade deutsche Juristen wissen aus den Grundrechtsvorlesungen, dass man Eingriffe in die Grundrechte häufig rechtfertigen kann.
Rechtfertigung von Eingriffen in das Asylgrundrecht
Dogmatisch könnten die Regierungen unterschiedliche Argumentationslinien verfolgen. Aufgrund einer bewusst vorsichtigen Formulierung entzieht sich Artikel 18 GRCh einer einfachen Definition (hier, S. 309-311, 351-354). So wird der Inhalt des Asylrechts unter Verweis auf die GFK definiert, obwohl diese das Refoulementverbot gewährleistet, für sich genommen jedoch kein individuelles Asylrecht enthält (hier, §§ 161-182). Man könnte insofern ein mögliches EGMR-Urteil, das Pushbacks bei Instrumentalisierung akzeptiert, in den Artikel 18 GRCh hineinlesen, soweit man den Wortlaut der Charta so deutet, dass dieser im Kern das Refoulementverbot gemäß der GFK und sonstiger Menschenrechtsverträge schützt. Theoretisch denkbar ist dies angesichts der offenen Formulierung.
Wahrscheinlicher ist angesichts der EuGH-Rechtsprechung, dass das vorläufige Einreise- und Bleiberecht nach der Asylverfahrensrichtlinie den Tatbestand des EU-Asylgrundrechts konkretisiert. Wenn dem so ist, kommt die horizontale Schrankenbestimmung des Artikels 52 Absatz 1 GRCh ins Spiel. So hält auch die Kommissionsmitteilung bei einer Instrumentalisierung ausdrücklich „schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte“ für möglich (hier, S. 6). Eine dogmatische Stütze findet dies in einem EuGH-Urteil, das ungarische Vorregistrierungsanforderungen während der Pandemie als „offensichtlich unverhältnismäßigen Eingriff“ einstufte, was die Möglichkeit einer Rechtfertigung impliziert (hier, Rn. 59).
Fazit: Verhältnismäßigkeit als letzte Hürde
Dieser Beitrag soll eine Orientierungshilfe bieten, um sich gedanklich einen Weg durch das dogmatische Dickicht des europäischen Asylrechts zu bahnen. Wir sahen, dass Artikel 72 AEUV nach Meinung der Kommission ein Vehikel bereitstellt, um die gesetzlichen Garantien der Asylverfahrensrichtlinie vorübergehend beiseite zu schieben. Ob dasselbe bei einer Instrumentalisierung für das Refoulementverbot und das Verbot der Kollektivausweisung gilt, werden anstehende EGMR-Urteile zeigen, über die die Große Kammer am 12. Februar 2025 öffentlich verhandelte.
Doch selbst wenn die Regierungen vor dem EGMR obsiegten, müssten sie den EuGH davon überzeugen, dass die strengen Anforderungen von Artikel 72 AEUV eingehalten werden und der Eingriff in das Asylgrundrecht den Anforderungen von Artikel 52 Absatz 1 GRCh genügt. Dafür müssten Pushbacks im nationalen Recht „gesetzlich vorgesehen“ sein, so wie es Polen, Litauen und Finnland planen oder bereits machten. Letztlich spitzte sich, wie so häufig, alles bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu, die sowohl Artikel 72 AEUV als auch Artikel 52 GRCh einfordern.
Hier verbleibt Raum für Mittelwege und Einschränkungen, die die genannte Gesetzgebung auch vorsieht. Minderjährige oder besonders schutzbedürftige Gruppen könnten von den Pushbacks ausgenommen werden. Denkbar ist auch eine rudimentäre Refoulement-Prüfung aufgrund strenger Standards, wie sie die Regierung von US-Präsident Joe Biden im Jahr 2023 implementierte. Schließlich müsste der EuGH den „Wesensgehalt“ des Asylgrundrechts bestimmen – eine Garantie, die die Charta dem deutschen Verfassungsrecht entlehnt, obwohl deutsche Juristinnen und Juristen nicht so genau wissen, was dies meint.
Jenseits der juristischen Feinheiten bleibt ein doppeltes Fazit. Erstens signalisiert allein die Debatte über legale Pushbacks, dass die Phase der expansiven Grundrechtsrechtsprechung vorbei ist. Dynamik wird es weiterhin geben, ebenso wie in den letzten drei Jahrzehnten – allein die Zielrichtung dürfte eine andere sein. Staaten möchten eine Freiheit zurückgewinnen, die die Gerichte und Gesetzgebung ihnen nahmen. Zweitens ist die Gefahr groß, dass Regierungen das dogmatische Dickicht früher oder später als Zwangsjacke empfinden. Polen und Dänemark fordern bereits eine Grundsatzdebatte. Nach der Bundestagswahl könnte Deutschland dasselbe anregen. Dann stünde in Brüssel alles zur Disposition.