Nun also doch? Zurückweisungen von Asylbewerbern aufgrund einer „Notlage“
Friedrich Merz unterlief auf der Pressekonferenz ein Versprecher, als er seine asylpolitischen Vorschläge konkretisierte. Der Oppositionsführer hätte auf Artikel 72 anstelle von Artikel 74 des EU-Arbeitsweisevertrags verweisen müssen, um zu rechtfertigen, was Angela Merkel vor neun Jahren verweigerte: Asylbewerber an den deutschen Grenzen zurückzuweisen. Der Versprecher kommt nicht überraschend. Prominente Unionspolitiker begründen das Vorhaben mit wechselnden Argumenten: teils wird auf das nationale Recht verwiesen, teils die Einhaltung der Dublin-Regeln eingefordert. Beides suggeriert, dass es eine Notlage gar nicht bräuchte, weil Zurückweisungen bereits jetzt rechtmäßig wären. Auch Merz nennt Artikel 72 AEUV nur vorsichtshalber gleichsam als Notanker.
Die Dublin-Logik kennt keine Zurückweisungen
Juristisch ist der Notanker zwingend. Zwar besteht die Grundidee des europäischen Dublin-Systems darin, dass die Länder an den EU-Außengrenzen die meisten Asylanträge bearbeiten. Allerdings kann Deutschland deshalb Asylbewerber nicht einfach zurückweisen. Stattdessen verlangen die 28 eng bedruckten Seiten der Dublin III-Verordnung ein kompliziertes Verfahren, wenn jemand „an der Grenze“ (Art. 3 Abs. 1) um Asyl nachsucht. Diese Verfahrensschritte brauchen bestenfalls vier Wochen, derzeit jedoch knapp fünf Monate (hier, S. 6; hier, S. 49 f.). Erst nachdem ein Verwaltungsgericht grünes Licht gibt, darf Deutschland eine Person in den zuständigen Staat überstellen. Meistens sind das Italien, Bulgarien, Kroatien oder Griechenland, nicht jedoch unsere direkten Nachbarländer. Dieses Vorverfahren ist vor jeder Dublin-Überstellung zwingend zu durchlaufen.
Nicht nur CDU-Politiker sind zu Recht frustriert, dass die Überstellungen –nicht erst neuerdings – in der Praxis notorisch schlecht funktionieren. Eben hierfür trifft das Dublin-System freilich eine Vorkehrung. In der Verordnung steht schwarz auf weiß, dass Deutschland offiziell zuständig wird, wenn die Überstellung im Regelfall sechs Monate lang scheitert (hier, Art. 29 Abs. 2). Seit der Diskussion um den Attentäter von Solingen kennt selbst die breitere Öffentlichkeit diese Sechsmonatsfrist. Schon vor Jahren entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, dass Asylbewerber ein individuelles Recht besitzen, dass Deutschland ihnen ein reguläres zweites Asylverfahren bietet. Die EU-Asylreform, die 2026 in Kraft treten wird, ändert nur Details, obwohl jedenfalls ich mir gewünscht hätte, dass die EU-Organe mehrfache Asylanträge abschaffen. Theoretisch kann man das Paket jetzt erneut aufschnüren. Kurzfristig dürfte das freilich ein Wunschdenken bleiben, weil die Südländer einer Reform nur zustimmen werden, wenn nicht sie auf den meisten Personen sitzenbleiben.
Seit 2016 argumentieren einige Kollegen, dass eine obskure Klausel der Dublin III-Verordnung diese vergleichsweise eindeutigen Vorgaben überlagert. Man wird dies bestenfalls als Mindermeinung vermerken dürfen, die kaum eine realistische Chance besitzt, im Zweifel vor dem EuGH zu obsiegen. Ähnlich verhält es sich mit dem verbreiteten Argument, wonach das Grundgesetz oder § 18 AsylG zwingend Zurückweisungen verlangen. Beide treten hinter die EU-Vorgaben zurück. Im Fall des Asylgesetzes ergibt sich dies aus § 18 Abs. 4 Nr. 1 und für das Grundgesetz gilt im Ergebnis nichts anderes. Juristisch kann daher nur begrüßt werden, dass die jahrelange Debatte über Zurückweisungen endlich zur zentralen Rechtsnorm vorgestoßen ist, auch wenn Friedrich Merz die falsche Nummer nannte.
Die Dublin-Regeln verlieren nicht deshalb ihre rechtliche Bindungswirkung, weil sie praktisch schlecht funktionieren. Im Europarecht gilt nicht das völkerrechtliche Prinzip eines „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, wonach ein Land eine Verpflichtung missachten darf, weil andere Länder dasselbe machen. Zahlreiche Urteile des EuGH bekräftigen seit Jahren, dass die Dublin-Regeln trotz aller Defizite verbindlich sind. Die Politik muss Gesetze ändern, die ihr nicht gefallen. Das gelang jedoch nicht. Die EU-Asylreform bekräftigt, dass Deutschland ein reguläres zweites Asylverfahren anbieten muss, wenn die Überstellung in das zuständige Land scheitert.
Gerichtlich kontrollierbare Abweichungsklausel
Der Begriff der Notlage erinnert an einen Ausnahmezustand frei nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“. So plädiert etwa Jens Spahn in der ihm eigenen Rhetorik dafür, die Bundesrepublik solle als souveräner Staat im Zweifel rechtliche Bedenken beiseiteschieben. Dagegen präsentiert sich die CDU-Parteizentrale in einen Hintergrundpapier rechtstreu und verweist auf den europäischen „Ordre-Public-Vorbehalt“. Das sucht eine Lösung innerhalb des Rechts, anstatt dieses aus Gründen der politischen Opportunität aus den Angeln zu heben. Die Debatte dreht sich um einen vertrauten Argumentationstopos: Artikel 72 AEUV betrifft die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“.
Jahrelang war die juristische Tragweite dieser Ausnahmeklausel unklar, weil die Formulierung „berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten“ die Rechtsfolge offenließ. In einer nach eigenem Bekunden „ständigen Rechtsprechung“ (hier, Rn. 28) schloss sich der EuGH einer vermittelnden Ansicht an, die der Autor dieser Zeilen bereits zuvor vertreten hatte. Im Normalfall müssen die Mitgliedstaaten ihre Interessen innerhalb des Unionsrechts realisieren. Nur höchst ausnahmsweise erlaubt die Klausel eine vorübergehende und verhältnismäßige Abweichung von einzelnen Bestimmungen (hier; hier, S. 273-275). Damit entspricht Artikel 72 AEUV den Ausnahmeklauseln des Binnenmarkts, die juristisch geschulte Leserinnen und Leser aus den Europarechtsvorlesungen kennen.
Einen Freibrief bedeutet dies nicht. Zwar entscheiden die Mitgliedstaaten im ersten Zugriff alleine, ohne bei der EU-Kommission oder andernorts eine Genehmigung einholen zu können. Allerdings unterliegt jede Aktivierung der Ausnahmeklausel der gerichtlichen Kontrolle. Das bekräftigte der EuGH immer wieder (hier, Rn. 148-153). Bisher scheiterten alle Versuche der Mitgliedstaaten, sich vor dem EuGH auf eine Notlage zu berufen. Häufig handelte es sich um bloße Schutzbehauptungen, die die Regierungen weder juristisch noch tatsächlich substantiiert hatten.
Auch den Merzschen Vorschlag prüften die Gerichte intensiv. Die Hürde einer ernsthaften Gefahrenlage könnte überwunden werden, wenn der EuGH der Bundesregierung einen Beurteilungsspielrum zubilligte. Zwar sinken derzeit die Ankunftszahlen, allerdings könnten Statistiken die überlasteten Integrationskapazitäten belegen. In einem zweiten Schritt untersuchte der EuGH, ob das geltende Recht eine Abhilfe bietet (hier, Rn. 3c). Dazu gehört die zwischenstaatliche Zusammenarbeit ebenso wie EU-Hilfen, wie die aktuelle Unterstützungsmission der EU-Asylagentur. Eine Ausnahme scheidet außerdem aus, wenn der EU-Gesetzgeber einen Interessenausgleich vorgibt, der dem betroffenen Staat nicht gefallen mag, aber dennoch eindeutig ist (hier, Rn. 87-90). Die Zustimmung der Bundesregierung zur jüngsten GEAS-Reform, die den Status quo nur am Rande verändert, könnte sich insofern als Bumerang erweisen. Dieses Prozessrisiko ändert freilich nichts am Umstand, dass Artikel 72 AEUV eine im Grundsatz überzeugende Argumentationslinie bereitstellt. Juristisch falsch ist die pauschale Behauptung, Zurückweisungen seien generell rechtswidrig.
Deutsche Zurückweisungen sind keine „Pushbacks“
Nicht nur rechtlich relevant wäre, wie Zurückweisungen praktisch abliefen. Würden alle Asylbewerber zurückgeschickt oder nur, wer in einem anderen EU-Land bereits registriert wurde? Letzteres beträfe Personen, deren Fingerabdrücke in der Eurodac-Datenbank vorkommen. Hinzu kommt, dass CDU und CSU auch nach der nächsten Bundestagswahl keine absolute Mehrheit haben dürften. Künftige Koalitionspartner oder die aktuelle Regierung könnten ihre Zustimmung zum „Merz-Plan“ von Ausnahmen abhängig machen: etwa für Familien, Kranke oder unbegleitete Minderjährige. Soweit nicht pauschal alle zurückgewiesen würden, müsste ein kurzes Verfahren stattfinden. § 18 Abs. 5 AsylG verlangt ohnehin eine erkennungsdienstliche Behandlung. Rechtsschutz ist zwar möglich, muss kraft Art. 16a Abs. 2 S. 3 GG jedoch aus dem Ausland verfolgt werden.
Diese verfahrensrechtlichen Aspekte sind, wie wir sogleich sehen werden, für die menschenrechtliche Bewertung zentral. Das deutsche Grundgesetz verbietet die Zurückweisungen aber nicht. Das liegt nicht nur daran, dass das Asylgrundrecht mit Ausnahme von Verfahrensfragen wie dem Rechtsschutz zwischenzeitlich vom Europarecht überlagert wird. Selbst wenn dem nicht so wäre: Die Grundgesetzänderung von 1992/93 zielte gerade darauf ab, Zurückweisungen in Nachbarländer zu ermöglichen. Ausdrücklich gestattet diese vorbehaltlich eines kurzen Verfahrens der Art. 16a Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. § 18 AsylG. Nur auf internationalen Flughäfen bleiben Zurückweisungen unzulässig. Dort dürfte auch künftig ein Bundeskanzler Merz nach dem Europarecht nicht einfach zurückweisen.
Der zentrale Unterschied zwischen Landgrenzen und internationalen Flughäfen besteht darin, dass der Merzsche Vorschlag das individuelle Asylrecht nicht generell abschafft. Jede Person soll weiter Schutz erhalten können, nur eben nicht in Deutschland. Stattdessen erwartet die CDU von den Betroffenen, dass diese Asylanträge in anderen EU-Mitgliedstaaten stellen. Das unterscheidet das Vorhaben jedenfalls in der Theorie von den „Pushbacks“ an den Außengrenzen, die Griechenland, Kroatien, Polen und Litauen seit einigen Jahren mehr oder weniger offen durchführen. Sie verweigern den Zugang zum Asylrecht innerhalb der EU gänzlich.
Es spricht einiges dafür, dass diese „Pushbacks“ nicht nur die Asylverfahrensrichtlinie verletzen, sondern darüber hinaus das Asylgrundrecht in Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta. Der EuGH deutete dies mehrfach an (hier, Rn. 43-45; hier, Rn. 51), auch wenn Artikel 18 GRCh dogmatisch schwer zu fassen ist (hier, S. 353 f.; hier, S. 1110 f.). „Pushbacks“ an den Außengrenzen könnte man durch Artikel 72 AEUV wohl nicht rechtfertigen. Für unsere Zwecke kommt es hierauf jedoch nicht an. Eine Umsetzung des „Merz-Plans“ hinderte die Betroffenen nicht daran, es in einem anderen Mitgliedstaat zu versuchen, solange diese nicht ihrerseits das Asylrecht aussetzen. Deutsche Zurückweisungen an den Landgrenzen verletzten Art. 18 GRCh nur, wenn dieser mehrfache Asylantragsoptionen innerhalb der EU zwingend vorschreibt (mittelbar hier, Rn. 340-343). Manche mögen dies zu argumentieren versuchen, allein naheliegend ist dies nicht.
Unwägbarkeiten bei den Menschenrechten
Allerdings könnten die Zurückweisungen das Refoulementverbot verletzen, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dem Folterverbot nach Artikel 3 EMRK seit 30 Jahren entnimmt. Infolge einer dynamischen und umstrittenen Rechtsprechungsentwicklung verbietet der Straßburger Gerichtshof, eine Person in ein Land zurückzuschicken, wo ihr Verfolgung, Kriegsgefahren, schwerste Menschenrechtsverletzungen oder krasse Armut drohen. Nachdem der EGMR früher generell kein Problem damit hatte, wenn jemand in andere EU-Länder überstellt wird, änderte er im Jahr 2011 seine Meinung. Seither müssen die Staaten im Zweifel prüfen, wie die Situation sich dort gestaltet. Auf dieser Grundlage hielten deutsche Gerichte jahrelang die griechischen Aufnahmebedingungen für zu schlecht – ein Fazit, das der VGH Kassel nicht mehr teilt.
Nun gehört Griechenland nicht zu den unmittelbaren deutschen Nachbarn. Diese gewährleisten, prinzipiell jedenfalls, eine menschenrechtskonforme Aufnahme. Es gibt in den deutschen Nachbarländern eine leistungsfähige Asylverwaltung, die noch dazu von den nationalen Gerichten streng kontrolliert wird. Soweit die deutschen Zurückweisungen diese prinzipielle Sicherheit nicht ändern, erfolgte in Länder wie Österreich damit vergleichsweise eindeutig kein illegales Refoulement.
Dennoch bleibt unklar, was die Menschenrechte verlangen. In einem Urteil der Großen Kammer des EGMR heißt es, dass die Staaten normalerweise ein kurzes Verfahren durchführen müssen, das „gründlich untersucht“, ob durch eine Zurückweisung an der Grenze das Refoulementverbot verletzt wird; diese Prüfung muss „normalerweise in einem rechtlichen Verfahren stattfinden“ (hier, Rn. 135-138). Allerdings soll eine individuelle Prüfung entbehrlich sein, wenn das Nachbarland eindeutig sicher ist (Rn. 137), was sich offenbar an Lageberichten orientiert und keine Einzelfallprüfung erfordert (Rn. 137-141). Es bleibt also unklar, ob selbst bei eindeutig sicheren Ländern eine individuelle Prüfung stattfinden muss. Fest steht nur, dass eine evidente Sicherheit keinen Rechtsschutz mit aufschiebender Wirkung verlangt (hier, S. 16 f.). Die Zurückweisung könnte also durchgesetzt werden, bevor ein Gericht ein grünes Licht gab.
Die Notwendigkeit einer kurzen Prüfung könnte alternativ aus dem Kollektivausweisungsverbot nach Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK abgeleitet werden, das der EGMR in den letzten Jahren zu einem Ersatzasylrecht ausbaute. Für eine Umsetzung des „Merz-Plans“ folgte hieraus konkret, dass eine rudimentäre Kurzprüfung vor der Zurückweisung menschenrechtlichen Bedenken vorbeugte. Ausnahmen für bestimmte Personen wie Familien mit Kindern erhöhten außerdem die Chance, dass der EuGH die Aktivierung der Notstandsklausel als verhältnismäßig akzeptiert. Das gleich gilt, wenn nur zurückgewiesen würde, wer in einem anderen EU-Staat bereits registriert wurde und deshalb dort vergleichsweise zuverlässig ein Asylverfahren tatsächlich erhalten könnte. Die Politik befindet sich insofern in einem Dilemma. Der Abschreckungseffekt ist umso größer, je mehr Personen konsequent zurückgewiesen würden. Zugleich erhöhten Ausnahmen die Wahrscheinlichkeit, dass die Gerichte mitspielen.
Eines steht hierbei fest. Das kurze Verfahren an der Grenze könnte problemlos die Bundespolizei durchführen. Der EGMR anerkennt ausdrücklich, dass es nicht um ein reguläres Asylverfahren geht (hier, S. 999-1003). Daneben könnte die Bundesregierung gemeinsam mit anderen Ländern vor dem EGMR in Folgeverfahren dafür eintreten, dass dieser zur Rechtsprechung der Jahrtausendwende zurückkehrt u