Ein „Königsteiner Schlüssel“ für die EU-Flüchtlingspolitik
Nach der Tragödie von Lampedusa diskutiert ganz Europa über die Flüchtlingspolitik. Diese Debatte hat verschiedene Facetten. Es geht um die Grenzschutzagentur Frontex, die Lebensbedingungen von Asylbewerbern, die wirtschaftliche Entwicklung der Herkunftsstaaten und die Bekämpfung des Menschenhandels. Hinzu tritt regelmäßig ein weiterer Aspekt: Die EU-Mitgliedstaaten und zuletzt speziell Italien und Deutschland werfen sich wechselseitig vor, dass die Lasten innerhalb Europas ungleich verteilt seien und der jeweils andere zu wenig unternehme. Prominent forderte Martin Schulz als EP-Präsident mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, ganz ähnlich wie sie die Bundesrepublik bei der Verteilung der Asylbewerber auf die Bundesländer praktiziert.
Wir nehmen diese Debatte zum Anlass zur Frage, wie die Situation in Europa aussähe, wenn – rein hypothetisch – innerhalb der EU derselbe Verteilungsschlüssel existierte, den Deutschland innerstaatlich anwendet. Das ärmere Thüringen soll pro Kopf nämlich nicht ebenso viele Asylbewerber betreuen wir das reiche Bayern. Stattdessen wird nach dem „Königsteiner Schlüssel“ das Steueraufkommen zur Bevölkerungszahl in Bezug gesetzt und hiernach Jahr für Jahr eine landesspezifische Quote ermittelt. Entwickelt wurde diese Methode im Jahr 1949 für die länderübergreifende Finanzierung von Forschungseinrichtungen wie die DFG. Später wurde sie auch auf das Asylverfahren übertragen, weil sich die Länder bisher auf kein anderes System einigen konnten. Auch die 5.000 Syrer, die derzeit mit einer speziellen Erlaubnis nach Deutschland einreisen, werden nach dem Königsteiner Schlüssel einem Wohnort zugewiesen (und landen bisweilen in ländlichen Gemeinden, die die Bundesländer auswählten).
Unser Berechnungsmodell
Konkret besteht der Königsteiner Schlüssel aus einer gewichteten Addition von Bevölkerungszahl (1/3) sowie Steueraufkommen (2/3). Gewiss kann man über die Sinnhaftigkeit dieser Formel trefflich streiten, aber eine gewisse intuitive Plausibilität kann man der gewichteten Kombination von Landesgröße sowie Finanzkraft nicht absprechen. Auf diesem Wege erfolgt jedenfalls eine Annäherung an einen Verteilungsmechanismus, der die Aufgaben solidarisch unter Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit zwischen den Ländern nach deren Fähigkeiten abstuft. Was folgt hieraus für die Europäische Union?
Wenn man den Schlüssel auf die EU-Situation überträgt, muss man eine Modifikation vornehmen, weil es keine belastbaren Vergleichsdaten zum Steueraufkommen gibt. Stattdessen verwenden wir das Bruttoinlandsprodukt und gewichten dieses bei der Quotenberechnung mit zwei Dritteln (ganz ähnlich wie die EU selbst, die die Anteile jedes Mitgliedslands zum EU-Haushalt am BIP orientiert). Hierbei benutzen wir die für ärmere Staaten vorteilhaften BIP-Zahlen ohne Kaufkraftausgleich. Hiernach ergibt sich für jedes Land eine Quote. Ein Beispiel: In Deutschland leben 16,1 % der EU-Bevölkerung und erwirtschaften hierbei 20,6 % des BIP, sodass der deutsche Schlüssel bei 19,1 % liegt. Umgekehrt ergibt sich für Rumänien „nur“ ein Schlüssel von 2,1 %, obgleich dort 4,2 % der EU-Bevölkerung wohnen. In einem zweiten Schritt setzen wir die landesspezifischen Verteilungsschlüssel zur Gesamtzahl der Asylanträge im Jahr 2012 in Bezug und ermitteln auf dieser Grundlage den „angemessenen“ Anteil eines jeden Landes.
Bei der Berechnung stützen wir uns durchweg auf offizielle Eurostat-Daten in dem Bewusstsein, dass die tatsächliche Situation teils anders aussieht. Speziell in süd- und osteuropäischen Ländern mit schwachen Asylsystemen, geringer Sozialhilfe sowie unattraktiven Aufnahmebedingungen stellen weniger Ausländer einen Asylantrag als in Belgien oder Schweden. Stattdessen leben in Süd- und Osteuropa mehr Ausländer im Untergrund (oder ziehen über die Schengen-Binnengrenzen von Lampedusa nach Hamburg). Dieser Unterschied zeigt sich auch daran, dass es bei den jüngsten, öffentlichkeitswirksamen Proteste gegen das deutsche Asylsystem vorwiegend um Asylbewerber sowie so genannte Geduldete ging, die mit Kenntnis der Behörden in Deutschland leben und eine reduzierte Sozialhilfe erhalten. Hingegen protestieren in Italien und auch Spanien vielfach „clandestinos“, die im Untergrund leben und in der Eurostat-Statistik nicht auftauchen. Dennoch benutzen wir letztere; wir haben schlicht keine besseren Daten.
Das Ergebnis zeigt, dass das europäische Asylsystem in der Tat ein Solidaritätsdefizit kennzeichnet. Es gibt teils gravierende Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten – und die Verteilung ist durchaus überraschend. Es sind keineswegs nur die Grenzstaaten im Süden und Osten der Union, die nach unserem Berechnungsmodell die Hauptlast tragen, sondern gerade auch Länder wie Belgien oder Schweden, die über tausend Kilometer von Lampedusa entfernt liegen. Länder wie Malta und Zypern sind sicherlich überlastet, umgekehrt gibt es jedoch in den meisten osteuropäischen Staaten sowie Italien und Spanien relativ wenig Asylanträge (alle Einzelheiten auch als PDF-Datei).
Rechtspolitische Konsequenzen
Ziel unserer Berechnung war zuerst einmal die Neugierde. Was kommt raus, wenn wir das deutsche System auf die EU übertragen? Es wird so viel über Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gesprochen, aber die Vorwürfe und Forderungen bleiben zumeist abstrakt. Im Idealfall kann unsere Berechnung einen Beitrag leisten, dass wir vermehrt über die Ursachen, Zusammenhänge und Lösungsmöglichkeiten sprechen. Offensichtlich hängen die Schwierigkeiten, die NGOs speziell den Asylsystemen in Italien, Ungarn oder Polen vorwerfen, nicht allein mit der geographischen Lage und der vermeintlich großen Zahl an Anträgen zusammen. Nach Größe und Wirtschaftskraft sind diese Länder aufgrund unserer Berechnung eben gerade nicht überfordert. Das Problem scheint tiefer zu legen. Es fehlen in einigen Ländern offenbar der Wille und die Bereitschaft, aus eigenen Stücken ein leistungsfähiges und zuverlässiges Asylsystem aufzubauen. Nicht umsonst verklagte die EU-Kommission jüngst Italien wegen Mängeln im Asylsystem.
Zugleich zeigt unsere Berechnung, dass das viel diskutierte Dublin-System zur Asylzuständigkeitsabgrenzung innerhalb der EU allenfalls einen Einstieg in eine wirkliche Aufgabenteilung darstellt, wenn es die EU-Mitgliedstaaten ermächtigt, Asylbewerber unter gewissen Umständen in den Staat des ersten Asylantrags zu überstellen. Ein Blick auf die deutsche Statistik zeigt, dass hierdurch die Verteilungsasymmetrien nach Maßgabe unseres Modells teils entschärft (etwa gegenüber Italien), teils jedoch auch verstärkt werden (gegenüber Belgien und Malta). Die Zahlen allein erlauben mithin keine angemessene Bewertung des Dublin-Systems. Allenfalls zeigt sich, dass Europa ergänzende oder alternative Mechanismen für die Aufgabenteilung braucht.
Unterstützung verdient nach unserer Überzeugung insbesondere das EU-Asylbüro EASO mit Sitz in Malta, wenn dieses nationale Behördenmitarbeiter schult und eine europaweite Kooperation über die Voraussetzungen einer Flüchtlingsanerkennung fördert. Auch begrüßen wir, dass der EU-Gesetzgeber jüngst neue und detaillierte Regeln für das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen annahm. All dies unterstützt den europaweiten Aufbau von Asylsystemen, die zuverlässig und schnell die schutzberechtigten Personen identifizieren und die EU-Regeln wirkungsvoll umsetzen. Ohne diese Verlässlichkeit kann ein Gemeineuropäisches Asylsystem, von dem die EU-Verträge sprechen, auf Dauer nicht existieren. Wenn dies gelingt, kann man Schritt für Schritt die Entwicklung von verschiedenen Formen der Solidarität und Aufgabenteilung angehen. Derartige Regelungen wären gewiss komplexer als unser Quotenmodell, das humanitäre Erwägungen ebenso ausblendet wie die Familieneinheit. Um derartige Fragen geht es uns heute nicht. Unsere Berechnung will nur ein Anstoß für die weitere Debatte sein.
Wir würden diese Entwicklung begrüßen. Uns eint die Überzeugung, dass die Zeiten, in denen jeder Staat für sich alleine Flüchtlinge schützte, ohne mit seinen Nachbarn zu kooperieren oder die Fluchtursachen zu beheben, vorbei sind. Wirksamen Flüchtlingsschutz von der Ursachenbekämpfung über effektive und effiziente Verfahrensregeln bis hin zu dauerhaften Lösungen müssen die Staaten gemeinschaftlich angehen. Hierbei lehrt die Sozialwissenschaft, dass kollektives Handeln häufig durch die Tragik der Allmende (tragedy of the commons) erschwert wird, wenn jeder auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Diese Einsicht zeigt den größten Mehrwert einer vergleichsweise starren Aufgabenteilung nach dem Vorbild des Königsteiner Schlüssels. Die Mitgliedstaaten würden von Rivalen zu Partnern; wechselseitige Schuldzuweisungen würden der gemeinschaftlichen Suche nach der richtigen Lösung und geeigneten Verfahren weichen.
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