Kultur der Ungleichbehandlung
Warum Sächsische Knabenchöre aus dem bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO zu streichen sind
In der kommenden Woche werden die ersten Mädchen in der Schule der Regensburger Domspatzen aufgenommen. Sensation? Überfällig. Im Chor sollen sie Abstand von den Knaben halten, indem sie getrennt werden. Equal but separate? In der ZEIT spricht Historiker Stefan Lindl von der Universität Augsburg vom Fortbestand der Diskriminierung durch das kirchliche Konzept Knabenchor. Was ist vom Konzept Knabenchor nun rechtlich zu halten und wie kommt er in das bundesweite Verzeichnis „Immaterielles Kulturerbe“?
Die deutsche UNESCO-Kommission (DUK) hat im Jahr 2014 die „Sächsischen Knabenchöre“ als erhaltenswertes Kulturerbe in das bundesweite Verzeichnis Immateriellen Kulturerbes (IKE) aufgenommen. Der Eintrag irritiert, weil die Kommission nach eigenem Bekunden besonderen Wert auf eine offene, inklusive und partizipative Traditionspflege legt. Der Eintrag widerspricht auch dem UNESCO-Übereinkommen, dem Deutschland 2013 beigetreten ist. Nach Art. 2 Ziff. 1 soll nur das Kulturerbe Berücksichtigung finden, das mit den bestehenden Rechtsinstrumenten im Bereich der Menschenrechte sowie der Forderung nach gegenseitiger Achtung von Gemeinschaften, Gruppen und Individuen und einer nachhaltigen Entwicklung im Einklang steht. Entsprechend den Richtlinien zur Umsetzung von 2014 sollen die Parteien dafür Sorge tragen, dass Fördermaßnahmen nicht zur Rechtfertigung irgendeiner Form von politischer, religiöser oder geschlechtsbedingter Diskriminierung beitragen. Schließlich erwähnt die DUK selbst für die Rechtmäßigkeit der Eintragungspraxis auch das Grundgesetz als verbindlich.
Ungeklärte Rechtsnatur des bundesweiten Verzeichnisses für Immaterielles Kulturerbe
Das wirft die Frage auf, wie das bundesweite Verzeichnis immateriellen Kulturerbes und das Aufnahmeverfahren rechtlich einzuordnen sind. Schließlich hatte ein Gerichtsverfahren zur Aufnahme eines Mädchens in den sogenannten Knabenchor der Universität der Künste Berlin im Jahr 2019 für öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. In ihren ablehnenden Entscheidungen bezogen sich die Verwaltungsgerichte explizit auf den Knabenchor-Eintrag im bundesweiten Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe (IKE). Hieraus leiteten die Gerichte ab, dass ein spezifischer Knabenchorklang für jedermann wahrnehmbar sei (VG Berlin v. 16.08.2019 – 3 K 113.19; OVG v. 21.05.2021 – 5 B 32.19). Die Entscheidungen belegen also, dass diese Art von Listeneinträgen grundrechtsrelevant sein könnte.
Herausgeber des bundesweiten Verzeichnisses ist die deutsche UNESCO-Kommission (DUK), die es seit 1959 gibt und in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins organisiert ist. Sie bildet die nationale Präsenz der UNESCO in Deutschland entsprechend Art. VII der UNESCO-Verfassung. Jedoch handelt es sich um eine von der UNESCO unabhängige, rein inländische Organisation. Die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) ist eine internationale Organisation und gleichzeitig eine der 17 rechtlich selbstständigen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen im Sinne des Völkerrechts.
Die DUK nimmt mehrere Aufgaben wahr. Sie soll an der Umsetzung des „Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ von 1972 mitwirken und den Nominierungsprozess für die Aufnahme in die internationale Liste koordinieren. Materielles Kulturerbe umfasst den Schutz von Denkmälern und Ensembles von außergewöhnlichem universellem Wert. Dagegen bezieht sich Immaterielles Kulturerbe auf erhaltenswerte kulturelle Ausdruckformen. Das hierfür einschlägige Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen wurde von der UNESCO-Generalkonferenz im Jahr 2003 verabschiedet und trat 2006 in Kraft. Die Geschäftsstelle für Immaterielles Kulturerbe hat ihren Sitz in Bonn und koordiniert das Bewerbungs- und Auswahlverfahren sowohl für die internationale als auch die nationale Liste. Seit 2013 führt die DUK auch ein bundesweites Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes. Das Auswärtige Amt fördert das materielle Kulturerbe, während die Geschäftsstelle für das Immaterielle Kulturerbe und damit das bundesweite Verzeichnis von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert wird.
An dem mehrstufigen Nominierungs- und Auswahlverfahren sind die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) und die Beauftragte des Bundes für Kultur und Medien (BKM) beteiligt. Das Expertengremium bei der DUK erarbeitet Empfehlungen, welche kulturelle Ausdruckform in die Liste aufgenommen werden soll. Die Auswahlentscheidung bestätigen jedoch die KMK und die BKM. Der Eintrag in die nationale Liste ist zwingende Voraussetzung für die Aufnahme in die von der UNESCO verantwortete internationale Liste.
Insoweit stellt sich die Frage, ob die Einträge in das bundesweite Verzeichnis dem Privatrecht zuzuordnen sind und die Liste gemäß der Vereinssatzung, also im Grundsatz willkürlich gefüllt werden darf oder ob sie nicht vielmehr unter das öffentliche Recht fallen, woraus sich für die Eintragungspraxis eine unmittelbare Grundrechtsbindung ergäbe. Meiner Ansicht nach sprechen die Ausgestaltung des Auswahlverfahrens und der Umstand, dass die Auswahlentscheidung des DUK-Expertengremiums durch die KMK und die BKM bestätigt werden müssen, für eine Zuordnung der Listeneinträge zum öffentlichen Recht. Die Organisation der DUK in der Rechtsform eines Vereins privaten Rechts sollte seinerzeit allein Vorgaben der UNESCO an die Staatsferne der in Art. VII der UNESCO-Verfassung vorgesehen nationalen Organisationen sichern, was auf Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit der nationalen UNESCO-Organisationen abzielte. Allerdings war damit nicht beabsichtigt, staatliche Hoheitsträger durch eine „Flucht ins Privatrecht“ von den für staatliches Handeln ansonsten selbstverständlichen Bindungen an die Grund- und Menschenrechte freizustellen. Von der Grundrechtsbindung der Eintragungsspraxis geht schließlich selbst die DUK aus, indem sie hinsichtlich der Aufnahmekriterien auf das Grundgesetz und das Übereinkommen verweist. Insoweit wäre die Vereinbarkeit des Knabenchor-Eintrags insbesondere mit Art. 3 Abs. 2 und 3 GG geboten gewesen.
Stellt der Knabenchor-Eintrag eine Diskriminierung dar?
Die Listeneinträge wären demnach Äußerungen von Hoheitsträgern und sie enthalten Werturteile. Mit der Aufnahme in die Liste ist für Antragsteller die Berechtigung verbunden, das Logo „Immaterielles Kulturerbe. Wissen. Können. Weitergeben.“ in der werbenden Öffentlichkeitsarbeit zu verwenden. Das Konzept des Knabenchors, das in den benannten Institutionen gepflegt wird, wird im entsprechenden Eintrag als wertvoll und erhaltenswürdig dargestellt. Dabei wird insbesondere auf einen spezifischen Klang Bezug genommen. Allerdings impliziert die geschlechtsbezogene Besetzungspraxis zugleich die geschlechtsbezogene Ausschlusspraxis.
Die Äußerungsbefugnis und ihre Grenzen ergeben sich aus dem Kompetenzbereich des Hoheitsträgers, welchen hier das Übereinkommen definiert. Zudem verpflichten das Willkürverbot und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dazu, dass Werturteile auf zutreffenden und sachgerechten Tatsachen beruhen müssen. Geschlechtsbezogene Werturteile wie der vorliegende Knabenchoreintrag haben darüber hinaus ein den Gleichberechtigungs- und Nichtdiskriminierungsschutz überwiegendes, legitimes Informationsziel zu verfolgen.
Diesen Anforderungen wird der Eintrag nicht gerecht. Knabenchöre sind aufgrund der kirchlichen Praxis entstanden, Frauen und Mädchen von der Mitwirkung in der Liturgie generell und allein wegen ihres Geschlechts auszuschließen. Der Begriff „Knabenchor“ entstand erst im 19. Jahrhundert, als Kirchen sich zunehmend für Frauen öffneten und die Berechtigung von Sängerknaben in Frage gestellt zu werden drohte. Die Ausbildung von Sängerknaben war am Ideal der weiblichen Stimme ausgerichtet. Die Geschlechtsdiskriminierung gehört damit zum Kern des Knabenchor-Konzepts.
Dass der Eintrag auf einen „spezifischen Klang“ verweist, kann dies auch nicht rechtfertigen, denn dieses Werturteil entbehrt einer Tatsachengrundlage. Knabenchören wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein besonderer Klang zugeschrieben. Diese Zuschreibung findet sich in verschiedenen Publikationen dieser Zeit und wirkt offenbar bis in die heutige Zeit fort. Eine musikspezifische Betrachtung dazu fehlt. Es ist auch nicht erkennbar, worin sich der künstlerische Schaffensprozess in sogenannten Knabenchören von dem in anderen Chören unterscheiden soll. Die Besonderheit von Knabenchören scheint sich also auf das Ausschlussprinzip zu beschränken sowie auf die hervorragende musikalische Ausbildung, die nicht zuletzt einer besonderen staatlichen Förderung zu verdanken ist. Die in der Behauptung eines besonderen Klangs enthaltene These eines höherwertigen Klangs männlicher gegenüber weiblichen Kinderstimmen wird schließlich durch die englische Musikpraxis widerlegt. Hier hat man sich aus Gleichstellungsgründen von der kirchlich geprägten, ausgrenzenden Knabenchorpraxis an den großen Kathedralen nahezu vollständig gelöst und die Chorschulen für Mädchen geöffnet. Wissenschaftliche Untersuchungen haben in diesem Zusammenhang ergeben, dass die Gesangsausbildung für den wahrnehmbaren Klang von Kinderstimmen und Chorformationen eine im Vergleich zum Geschlecht weitaus größere Bedeutung hat. Gerade diese hochwertige – in den herausragenden Chorschulen – angebotene musikalische Ausbildung wird Mädchen indes vorenthalten. Im Übrigen wäre wegen der Bedeutung des Diskriminierungsverbots die Behörde zum Nachweis verpflichtet, dass ihr Werturteil auf zutreffenden Tatsachen beruht.
Zwar richten sich die Listeneinträge nicht an konkrete Personen. Insofern kommt nur eine mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigung nach Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 GG in Frage, die sich daraus ergeben könnte, dass die geschlechtsbezogene Aufwertung von Knaben Personen weiblichen Geschlechts geschlechtsbezogen herabsetzt. Außerdem erschwert der Listeneintrag den Zugang zur musikalischen Ausbildung konkret, weil die geschlechtsbezogene Besetzung privilegiert wird. Dies zeigen exemplarisch die erwähnten Gerichtsentscheidungen. Das hinreichende Gewicht der Grundrechtsbeeinträchtigung dürfte sich aus der mit dem Eintrag verbundenen Abschreckungswirkung für mitwirkungsinteressierte Personen anderer Geschlechter ergeben.
Wer den Knabenchor-Eintrag zu streichen hätte
Zur Streichung des Knabenchor-Eintrags wäre diejenige Stelle verpflichtet, welcher die Äußerung zuzurechnen ist. Angesichts des dargestellten Verfahrens ist nicht einfach zu beantworten, wer hier die Letztverantwortung trägt. Insofern wäre es wohl Aufgabe der im Entscheidungsverfahren zuletzt agierenden und die DUK in diesem Bereich fördernden Behörde, auf die Streichung des Listeneintrags hinzuwirken – also der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM).
Seit 2015 gehört zu den ethischen Standards der UNESCO auch die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals). Ziel 5 der Agenda formuliert explizit, Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen zu erreichen. Dem Ziel einer gleichberechtigen musikalischen Ausbildung läuft die Hervorhebung der geschlechtsdiskriminierenden Knabenchorpraxis eklatant zuwider.
Meiner Meinung nach kann die Mitgliedschaft in einem Knabenchor nicht einklagbar sein. Wenn die beschlossene Satzung des Chores die Mitgliedschaft ausschließlich für Jungen öffnet und dann die Mitglieder in einer Abstimmung beschließen, daß sie ein Knabenchor bleiben möchten, dann ist das ein legitimer Beschluß.
Danke für diesen Beitrag! – ‘Was ist vom Konzept Knabenchor nun rechtlich zu halten und wie kommt er in das bundesweite Verzeichnis „Immaterielles Kulturerbe“?’ – Das sind jedenfalls zwei verschiedene Fragen. Ich bin nur Privat-, nicht Verfassungsrechtler, Anwalt, IP, und Laienmusiker, als Knabe auch Kichenchor (immer gemischt, weit unter Domspatzen-Niveau). Haben nicht unterschiedliche Menschen unterschiedliche Stimmen, und spielt nicht das Geschlecht eine Rolle? Ich weiß, ich weiß. Aber wenn es so wäre – viel spricht m.E. dafür, und das ist jedenfalls erst mal keine rechtliche Frage -, wäre dann nicht eine an den Unterschied anknüpfende Choraufstellung im Grundsatz zu rechtfertigen? Ich meine, das Recht, einen Chor nach Gutdünken zusammenzustellen, erst recht nach künstlerischen Gesichtspunkten, genießt auch Verfassungsrang. England mag in mancher Hinsicht ein Vorbild sein, aber nicht in jeder, schon gar nicht, was die Gleichbehandlung von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft angeht, und es könnte sich, was die Chöre angeht, auch um eine Art Politik, oder einfach eine ges