30 June 2024

Lessons from New York

Ein Erfahrungsbericht

Von Januar bis Ende Mai war ich als Gastprofessor an der New York University (NYU). Dort habe ich die Studierendenproteste gegen den Gaza-Krieg hautnah miterlebt. Ich habe dabei gesehen, wie wichtig es ist, dass die unterschiedlichen Lager zu Wort kommen und gehört werden. Beides ist derzeit kaum möglich. Jüdische Studenten haben keine echte Chance, mit nuancierten Positionen wahrgenommen zu werden, die sowohl Teile der Protestcamps als auch die israelische Kriegsführung kritisieren. Umgekehrt werden Teilnehmer:innen der Protestcamps ohne weiteres als antisemitisch und das bloße Tragen einer Kuffiyah als „Israelhass“ eingeordnet. Dies ist kein klassischer Blogpost, sondern ein persönlicher und natürlich subjektiver Erfahrungsbericht aus meiner Zeit in New York.

Studentenproteste im Kontext des aktuellen Israel-Gaza-Krieges gab es in New York wie fast überall seit den schrecklichen Ereignissen vom 7. Oktober. Zu einer breiten Studentenbewegung wurden die Proteste allerdings erst nach der Entscheidung von Minouche Shafik, Präsidentin der Columbia University, die New Yorker Polizei (NYPD) am 19 April aufzurufen, ein zwei Tage vorher errichtetes „Gaza Solidarity Encampment“ mit Gewalt aufzulösen. Shafik, die sich am ersten Tag des Encampments bei einer Kongressanhörung für Columbias Reaktion auf Antisemitismusvorwürfe verantworten musste, wollte hiermit offensichtlich zeigen, dass sie hart durchgreifen kann. Obwohl Shafik bei ihrer Anhörung geschickter argumentierte als andere Elite-Uni Präsidenten vor ihr, sah sie sich wohl gezwungen, mehr als 100 Columbia-Studenten des friedlichen Protest-Camps – unter Berufung auf eine angebliche Gefahr für das Funktionieren der gesamten Universität – durch die NYPD in Kampfausrüstung verhaften zu lassen. Sollte dieses Vorgehen Studentenproteste und weitere Camps verhindern, so trat das Gegenteil ein.  Innerhalb kürzester Zeit entstand ein neues Protest-Camp an der Columbia, gefolgt von Camps an der NYU, der City University of New York (CUNY), The New School, dem Fashion Institute of Technology (FIT) und an insgesamt fast 200 Unis überall auf dem Globus.

Ich selbst habe vor allem die NYU-Proteste miterlebt und will zwei Ereignisse hervorheben. Am 22. April bauten NYU-Studenten auf dem „Gould Plaza“ vor der NYU Stern School of Business ein Protest-Camp auf. Zentrale Forderung war ein umfassendes Divestment von Unternehmen, die am Krieg in Gaza beteiligt sind und entsprechende Transparenz seitens der NYU. Auf meinem Weg zur Law School am Vormittag waren die lauten, aber friedlichen Proteste nicht zu übersehen.  Abends feierten wir mit jüdischen Freunden den ersten Tag des Passah-Fests. Auf dem Weg nach Hause kamen meine Frau und ich wieder am Gould Plaza vorbei: Mittlerweile hatte die NYPD unter Einsatz von Pfefferspray auf Bitte der NYU Präsidentin Linda Mills eingegriffen, mehr als 100 Studenten und ca. 20 Fakultätsmitglieder verhaftet und den Platz komplett geräumt.  Es sei zu antisemitischen Äußerungen gekommen und „outside agitators“ hätten das Camp infiltriert (ein oft haltloser Vorwurf, gegen den sich schon Martin Luther King und das Civil Rights Movement wehren mussten).   Die jüdischen Studenten unter den Demonstranten hatten kurz zuvor einen Seder des Passah-Fests gefeiert. Muslimische Studenten beteten grade das Maghrib Gebet als die NYPD Gould Plaza stürmte. Die Stimmung blieb noch den ganzen Abend über aufgeheizt und Gould Plaza blieb durch 2m hohe Holzwände abgesperrt.

Die Reaktionen auf die Räumung von Gould Plaza blieb nicht lange aus. Innerhalb weniger Tage hatten NYU-Studenten ein neues Camp aufgebaut, das diesmal gut eine Woche bestand, bevor die NYPD erneut einschritt. Vor allem aber protestierten viele NYU-Kollegen mit offenen Briefen – so auch eine Gruppe jüdischer Professoren, die sich gegen die Instrumentalisierung von Antisemitismus aussprechen:

“We write this public letter as Jewish faculty at NYU requesting that the university administration discontinue its practice of relying on specious charges of antisemitism when adjudicating matters of student conduct and faculty discipline concerning pro-Palestinian speech and protest.  (…)

We reject outright the administration’s insistence that criticism of Israeli state policy is inherently antisemitic and so constitutes discrimination. There is nothing Jewish about supporting Israel’s destruction of Gaza or about the US bombs that have killed more than 10,000 children there, nor is it antisemitic to denounce Israeli state violence or to protest American imperialism.”

Das neue NYU-Protest-Camp war nur wenige Blocks von uns entfernt und wir haben es öfters besucht. Die Stimmung war friedlich. Ein von Studenten und Dozenten gestaltetes Programm mit Teach-Ins, Musik und Deeskalations-Trainings setzte zum Ende des Semesters ein. Ein Teach-In zur Rolle von KI Technologie im Gaza-Krieg (siehe auch hier), unter anderem von einem Google-Mitarbeiter, dem Wochen vorher wegen seines Protests gegen Googles „Project Nimbus“ gekündigt wurde, zeigte in erschreckender Weise, wie dehumanisierend  die neue Welt „effizienter“ urbaner Kriegsführung (z.B. mittels Gesichtserkennung, Tracking und automatisierter Ziel-Identifikation) sein kann. Zwar weist die israelische Armeeführung den Einsatz von KI in der beschriebenen Weise vehement zurück, aber der Einsatz manch solcher Technologien wurde von einem IDF-Experten schon 2023 bestätigt.

Ein weiteres Ereignis am Camp ist mir in bleibender Erinnerung geblieben: während es öfters friedliche Gegendemonstrationen gab, trafen wir an einem Nachmittag auf eine Gruppe extrem aggressiv auftretender  Unterstützer der israelischen Armee, die vor dem Camp wahllos Leute beschimpften.  Im Camp gab es für solche Fälle eine allgemeine „not-engage“-Policy. Aber ich wollte die Chance nutzen, eine andere Perspektive zu verstehen und habe angefangen, mich mit der Gruppe zu unterhalten.  Die Diskussion zeigte, dass die meisten vor allem mit ihrer Sichtweise gehört werden und auf Fakten hinweisen wollten, die für sie entscheidend sind. Im Gegenzug entstand eine Bereitschaft, sich auch andere Perspektiven anzuhören.  Einen breiten Konsens gab es nicht – aber immerhin Momente des Dialogs. Nur einer aus der Gruppe der IDF-Unterstützer zeigte sich unzufrieden und war wenig am Dialog interessiert: „This is useless. Let’s move.“  Zurück am Camp schlug er dann wahllos auf Demonstranten ein, bevor er von seinen Freunden weggezerrt wurde.

Warum erzähle ich das alles? Gegenseitiges Zuhören und die Chance auf Verständnis bedingt, dass der andere sprechen darf.  “The right to speak” ist in den USA natürlich umfassend durch das First Amendment geschützt. Freedom of Speech ist zwar nicht absolut – aber wie ein anerkannter US-Verfassungsrechtler feststellte:  “Once the First Amendment shows up, much of the game is over.”  Allerdings scheint es eine ‚Palestine exception‘ von diesem Grundsatz zu geben. Und diese Ausnahme wird an Universitäten nicht nur durch ‚doxxing‘ (einer Form öffentlichen Bloßstellens von protestierenden Studenten, z.B. auf  Doxxing Trucks) seitens rechter Medien-Kampagnen, sondern auch durch brutale Polizeieinsätze durchgesetzt.  Manche sehen dahinter eine Kampagne der amerikanischen Rechten gegen ‘Wokeness‘ – und vor allem einen Kulturkampf über Bildungsinhalte an (Elite)Universitäten.  Unabhängig von eventuellen Hintergründen wird so einem möglichen Dialog und dem gegenseitigen Zuhören von vornherein die Basis entzogen.

Dies manifestiert sich aber auch dann, wenn jüdische und andere pro-israelische Stimmen mit nuancierten Positionen nicht mehr gehört werden. Kaum Beachtung fand beispielsweise ein offener Brief jüdischer Studenten der Columbia University, in dem es heißt:

“Our love for Israel does not necessitate blind political conformity. It’s quite the opposite. For many of us, it is our deep love for and commitment to Israel that pushes us to object when its government acts in ways we find problematic. Israeli political disagreement is an inherently Zionist activity; look no further than the protests against Netanyahu’s judicial reforms – from New York to Tel Aviv – to understand what it means to fight for the Israel we imagine. All it takes are a couple of coffee chats with us to realize that our visions for Israel differ dramatically from one another. Yet we all come from a place of love and an aspiration for a better future for Israelis and Palestinians alike.”

Neben den schon erwähnten Diskussionen mit Gegendemonstranten am Camp habe ich auch in anderen Gesprächen mit jüdischen Kollegen und Freunden die Bandbreite an Sichtweisen und Ansätzen erlebt, die hoffentlich auch eine Grundlage für eine friedlichere Zukunft bieten. Um einen Dialog hin zum Miteinander und Frieden zu ermöglichen, müssen solche Perspektiven Gehör finden.  Und das gilt erst recht für diejenigen, die ihre Ohnmacht, Wut und Trauer über das Leid und Sterben in Gaza zum Ausdruck bringen wollen. Sich gegenseitig zuhören heißt zum Beispiel, hinter Slogans wie „From the River to the Sea, Palestine will be free“ nicht automatisch Aufrufe zur Vertreibung oder gar Vernichtung zu sehen – sondern auch andere Interpretationen zuzulassen, etwa die Forderung nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung der Palästinenser in Israel, den besetzten Gebieten und in Gaza.  Dies wird vor allem auch von Historikern so gesehen:  “’From the river to the sea’ is a rejoinder to the fragmentation of Palestinian land and people by Israeli occupation and discrimination“ (Yousef Munayyer). Nach Maha Nasser ging es seit den 1960er Jahren vor allem um das Recht auf ein gleichberechtigtes Miteinander von Palästinensern und Juden in einem gemeinsamen Staat. Natürlich kann der Slogan in seiner Ambiguität auch Ausdruck von Antisemitismus sein. Aber dies muss sich dann jeweils  aus dem Kontext ergeben oder anderweitig belegbar sein.  Mit anderen Worten: Im Zweifel für den Dialog.

Eine auf Verständigung ausgelegte Interpretation wird nicht zuletzt auch von der Jerusalem Declaration on Antisemitism mitgetragen. Diese Erklärung wurde 2020 von Wissenschaftlern im Bereich der Holocaust, Jewish und Middle East Studies aus aller Welt verabschiedet, um klarere Differenzierungen zwischen Antisemitismus und legitimer Meinungsäußerung zu ermöglichen. Sie fungiert explizit als Reaktion auf die Unklarheiten, die sich insoweit aus der 2016 Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ergeben.  Kenneth Stern, Leitautor des (inhaltlich wesentlich identischen) IHRA-Vorgängers, zeigte 2019 die Gefahren auf, wenn Kritik an Israel und israelischer Regierungspolitik per se als antisemitisch disqualifiziert wird.  Im Guardian schreibt er: „The ‘working definition of antisemitism’ was never intended to silence speech“.  Genau dies stellen auch die umfassenden Beispiele zulässiger Israel-Kritik in Teil B und C der Jerusalem Declaration klar.

Hieraus folgt schließlich auch die Gefahr, dass eine unsubstantiierte Verbindung zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Kriegsführung, der Diskriminierung des Palästinensischen Volkes (siehe zB den umfassenden Bericht von Human Rights Watch hier und von Amnesty International hier) und an dem Verhalten des israelischen Staates gegenüber den Palästinensern (siehe zB die UN Untersuchungen hierhier und hier) auf Dauer den Vorwurf des Antisemitismus verwässert.  Vor allem im Kontext der US-Studentenproteste nimmt kaum noch jemand einen solchen Vorwurf ernst, wenn er sich allein auf Kritik der israelischen Regierung stützt. Aber er wird dann eben auch dort weniger ernst genommen, wo es um Äußerungen und Handlungen geht, die Jüdinnen und Juden tatsächlich gefährden.  Wer ein ’Nie wieder’ ernst nimmt, muss unbedingt ein Interesse daran haben, dass die Warn- und Signalwirkung des Begriffs „Antisemitismus“ erhalten bleibt. Das kann aber nur gewährleistet werden, wenn der Begriff nicht weiter entgrenzt wird und nicht auch auf grundrechtlich geschützte Meinungsäußerung und legitime politische Kritik angewendet wird.


SUGGESTED CITATION  Grosse Ruse-Khan, Henning: Lessons from New York: Ein Erfahrungsbericht, VerfBlog, 2024/6/30, https://verfassungsblog.de/lessons-from-new-york/, DOI: 10.59704/5a1cef345f2e9491.

One Comment

  1. Dr. Bernd Arnold Sun 30 Jun 2024 at 19:21 - Reply

    Vielen Dank für die Schilderungen und Berichte aus erster Hand einschließlich der differenzierenden zitierten und eigenen Stellungnahmen sowie Dialog-Initiativen.

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