Zwischen Entlastung und Entkernung
Wie die EU beim Lieferkettenrecht ihre eigenen Werte riskiert
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) sollte Unternehmen verpflichten, menschenrechtliche Risiken in ihren globalen Lieferketten zu verhindern. Stattdessen droht nun einer seiner wichtigsten Mechanismen – die Berichtspflicht – ersatzlos gestrichen zu werden. Die Bundesregierung handelt damit vor dem Hintergrund einer geplanten EU-Reform, die den Schutz in den Lieferketten deutlich abschwächt. Statt Bürokratieabbau geht es auf politischer Ebene um einen tiefgehenden Rückschritt im Menschenrechtsschutz, der erhebliche völkerrechtliche Fragen aufwirft.
Bürokratieabbau und politische Kurskorrektur
Seit seinem Inkrafttreten im Januar 2023 hat kaum ein Gesetz so viel politische Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG). Vor allem die Wirtschaftsverbände kritisieren die hohe Belastung der Unternehmen durch die bürokratischen Anforderungen, die bei der Umsetzung des Gesetzes eingehalten werden müssten. Zwar sind aus der Wirtschaft durchaus auch andere Stimmen zu vernehmen. Die Bundesregierung ist jedoch der Kritik der Verbände gefolgt und hat Anfang September beschlossen, die im LkSG vorgesehenen Berichtspflichten zu streichen und die Sanktionen auf schwerwiegende Verstöße zu beschränken.
Damit geht sie zwar nicht so weit, wie es die CDU/CSU-Fraktion noch vor der Bundestagswahl postuliert hatte. In ihrem Gesetzentwurf vom Dezember 2024 hatte die Fraktion für eine Aufhebung des gesamten LkSG plädiert. Ihre Begründung lautete, es sei widersprüchlich, an den „Verpflichtungen aus dem deutschen LkSG festzuhalten und gleichzeitig von den Unternehmen zu erwarten, dass sie sich auf das Inkrafttreten der europäischen Lieferkettenrichtlinie vorbereiten.“ Der im Koalitionsvertrag mit der SPD-Fraktion ausgehandelte Kompromiss sieht hingegen vor, dass das LkSG ersetzt werde „durch ein Gesetz über die internationale Unternehmensverantwortung, das die Europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) bürokratiearm und vollzugsfreundlich umsetzt“. Allerdings werde die Berichtspflicht nach dem LkSG schon vorher entfallen. Diesen Schritt hat die Bundesregierung nun vorbereitet. Die Bundesarbeitsministerin betont zwar, dass das Gesetz „nahtlos“ weitergelte, bis die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sei, und dass die „Standards aus dem Bereich Menschenrechte nicht abgesenkt werden“. Doch dieser Hinweis kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass mit der Berichtspflicht ein wesentliches Instrument zur Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten aufgegeben wird und dass dadurch das Gesetz massiv abgeschwächt wird.
Reformpläne auf EU-Ebene
Und dabei wird es aller Voraussicht nach nicht bleiben. Bei seinem Antrittsbesuch bei der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Mai 2025 hatte Bundeskanzler Friedrich Merz Aufsehen mit der Forderung erregt, auch die europäische Lieferkettenrichtlinie abzuschaffen. Ganz so weit wird es zwar nicht kommen, doch auch auf EU-Ebene stehen nun einige tiefgreifende Änderungen an. Als Reaktion auf den Draghi-Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der EU hat die Kommission im Februar 2025 das sogenannte Omnibus-Paket vorgestellt. Zu diesem Paketgehört auch eine umfassende Reform der CSDDD. Bereits beschlossen ist eine Aufschiebung der Umsetzungsfrist der Richtlinie um ein Jahr. Darüber hinaus liegt ein Kommissionsvorschlag mit substanziellen Änderungen u.a. bzgl. der Reichweite der Sorgfaltspflichten und des Durchsetzungsregimes vor. Der Rat hat seine Position hierzu im Juni 2025 veröffentlicht und zusätzlich vorgeschlagen, den Anwendungsbereich der CSDDD deutlich einzuschränken: Künftig sollen lediglich Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von über 1,5 Milliarden Euro erfasst werden. Nun wird noch das Europäische Parlament entscheiden müssen, wie es sich zu diesen Vorschlägen verhalten will. Der Rechtsausschuss ist am 13. Oktober dem Rat weitgehend gefolgt. Nach der Entscheidung des Parlaments, die in dieser Woche ansteht, werden nun voraussichtlich sehr bald die Trilog-Verhandlungen starten. Menschenrechtsexperten sehen in den geplanten Änderungen eine „Entrechtung der Schwächsten“: Sollten diese Vorschläge sich am Ende durchsetzen, würde die Europäische Union, so Armin Paasch von der Entwicklungsorganisation Misereor, sich in fundamentalen Widerspruch zu dem „Anspruch der selbsternannten europäischen Wertegemeinschaft“ setzen – und nicht zuletzt auch der Wirtschaft schaden.
Welche Änderungen der CSDDD sind vorgesehen?
Dass die Reaktion der Zivilgesellschaft so heftig ausfällt, ist angesichts der massiven Einschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie nicht verwunderlich. Nach ersten Berechnungen würden nur noch etwa 30 Prozent der bislang unter die CSDDD fallenden Unternehmen sich an die dort verankerten Sorgfaltspflichten halten müssen. Aber dies ist längst nicht der einzige Kritikpunkt. Zu den zentralen Änderungen, die vorgeschlagen werden, zählt die stärkere Fokussierung auf die erste Ebene der Wertschöpfungskette. Risikoanalysen wären künftig nur noch für den eigenen Tätigkeitsbereich, Tochterunternehmen und direkte Geschäftspartner (sog. „Tier 1“-Begrenzung) verpflichtend. Indirekte Geschäftspartner müssten nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden – etwa wenn die Geschäftsstruktur offensichtlich zur Umgehung von Verpflichtungen gewählt wurde oder wenn Beschwerden oder glaubwürdige NGO- bzw. Medienberichte auf Missstände hinweisen. Damit entfiele die Pflicht zur systematischen Untersuchung der gesamten Lieferkette auf gravierende Risiken für die Menschenrechte und den Umweltschutz. Eine Reduzierung des Verwaltungsaufwands soll zudem durch größere zeitliche Intervalle beim Monitoring und durch eine Verkleinerung des Kreises der einzubeziehenden Interessenträger erreicht werden.
Auch wenn die Änderungsvorschläge insgesamt eine Tendenz zu einer stärkeren Harmonisierung des Lieferkettenrechts aufweisen, ist eine Ausnahme hiervon nun im Haftungsrecht vorgesehen. Die – ursprünglich sowohl von der Kommission („Better access to justice for victims“) als auch von NGOs als wichtige Errungenschaft auf dem Weg zu einem besseren Menschenrechtsschutz gelobte – Pflicht zur einheitlichen Einführung einer zivilrechtlichen Haftung soll nun wieder gestrichen werden. Das Gleiche gilt für die Regelung, nach der die Mitgliedstaaten „angemessene Bedingungen“ für Klagen von Gewerkschaften und NGOs zugunsten von mutmaßlich Geschädigten schaffen müssen. Die zivilrechtliche Haftung würde damit wieder optional, der bisherige Harmonisierungsansatz wäre in diesem Bereich aufgegeben.
Auch die Bürokratielasten, die durch Berichtspflichten entstehen, sollen spürbar verringert werden. Dies wird allerdings vor allem durch eine Reform der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) erreicht werden. Geplant ist, die Zahl der berichtspflichtigen Unternehmen drastisch zu reduzieren – eine Maßnahme, die indirekt auch kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) entlastet, weil weniger große Unternehmen Berichtspflichten entlang der Lieferkette weiterreichen würden (sog. trickle-down-Effekt).
Verstöße gegen das völkerrechtliche Rückschrittsverbot?
Wie sind diese – politisch hochumstrittenen (siehe nur hier, hier, hier und hier) – Änderungsvorschläge völkerrechtlich einzuordnen?
Nach den Vorstellungen der Kommission soll der Aufwand für Unternehmen verringert werden, „ohne die politischen Ziele“ der CSDDD „zu untergraben“. Mit etwas gutem Willen kann man das so lesen, dass der Kommission bewusst gewesen ist, was das Völkerrecht von ihr verlangt – nämlich einen Rückfall hinter den einmal erlangten menschenrechtlichen Schutzstandard zu vermeiden. Nach Auffassung des UN-Sozialausschusses ergibt sich aus der im Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) verankerten Verpflichtung zur progressiven Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte ein Rückschrittsverbot. Dieses Verbot gilt auch für die im Fall der Lieferkettenregulierung maßgeblichen (extraterritorialen) Schutzpflichten. Der Ausschuss hat in seinen General Comments betont, dass jedes Absenken des menschenrechtlichen Schutzniveaus einer besonderen Begründung bedarf (siehe auch hier, hier und hier). Dem europäischen Gesetzgeber verbleibt also ein gewisser Spielraum bei Anpassungen seines ursprünglichen Regelungsansatzes, doch jede Änderung muss einer gesonderten Rechtfertigungsprüfung unterzogen werden.
Bürokratieabbau mit möglichen Schutzlücken
Ziel des Omnibus-Pakets ist es, die Bürokratielasten der Wirtschaft zu mindern (ob dies tatsächlich gelingen wird, wird teilweise durchaus kritisch gesehen). Vor allem die zahlreichen Berichtspflichten werden als Belastung empfunden. Wenn nun durch Überarbeitung der CSRD- und der CSDDD-Richtlinie dafür gesorgt wird, dass diese besser koordiniert und im Ergebnis auch verschlankt werden, kann dies eine auch aus menschenrechtlicher Perspektive sinnvolle Hilfestellung für die Unternehmen sein. Denn eine solche Maßnahme – ebenso wie eine stärkere Standardisierung der Berichte oder eine Präzisierung der Vorgaben für die Berichtspflichten – würde vermutlich zu einer Entlastung der Unternehmen beitragen. Dies würde wiederum an anderer Stelle Freiräume für einen verbesserten Menschenrechtsschutz schaffen. Schließlich stellt die Implementierung eines risikobasierten Sorgfaltspflichtensystems eine erhebliche Herausforderung für viele Unternehmen dar. Die Risikoanalyse, die Entwicklung von Beschwerdemechanismen, Präventions- und Abhilfemaßnahmen und nicht zuletzt die Berichterstattung erfordern zum Teil erhebliche interne Ressourcen. Da die Berichtspflicht – worauf das Deutsche Institut für Menschenrechte zu Recht hingewiesen hat – „gegenüber den weiteren Sorgfaltspflichten … als nachrangig zu bewerten“ ist, wäre eine maßvolle Einschränkung vertretbar – eine vollständige Abschaffung jedoch nicht. Außerdem dürften dann nicht zugleich auch andere Elemente des Sorgfaltspflichtensystems geschwächt werden. Eine Entlastung für die Unternehmen, insbesondere für KMU, könnte eher durch zusätzliche staatliche Unterstützungsangebote erreicht werden (etwa durch Bereitstellung sektorspezifischer Fragebögen, praxisnaher Tools und Checklisten für konkrete Prozessschritte sowie durch zusätzliche Beratungsangebote).
Potenzial und Grenzen der Reform
Es gibt also durchaus Optionen, über die das mit der CSDDD verfolgte Ziel einer Stärkung des Menschenrechtsschutzes in den globalen Lieferketten ähnlich effizient, wie in der derzeit geltenden Version der Richtlinie oder möglicherweise sogar effizienter erreicht werden kann. Die prozeduralen Elemente der Sorgfaltspflichten könnten so austariert werden, dass ein Verzicht auf bürokratischen Aufwand an der einen Stelle zu einem Gewinn an zeitlichen und finanziellen Ressourcen an einer anderen, für die Zielerreichung wichtigeren Stelle führt. Dies würde dann auch gewiss keinen Verstoß gegen das völkerrechtliche Rückschrittsverbot darstellen.
Anders sieht es jedoch bei solchen Reformmaßnahmen aus, von denen keine Effizienzgewinne für den Menschenrechtsschutz zu erwarten sind, sondern die mit eher gegenteiligen Effekten verbunden sein werden. Besonders deutlich wird dies bei der geplanten Einschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie auf knapp ein Drittel der bisher erfassten Unternehmen. Völkerrechtlich problematisch sind aber auch diejenigen Änderungsvorschläge, die auf eine Konzentration der Risikoanalyse auf die erste Zulieferebene und auf eine Einschränkung der zivilrechtlichen Haftung hinauslaufen.
Bekanntlich liegen die größten Risiken für den Menschenrechts- und Umweltschutz in der Regel auf den ersten Stufen der Lieferkette – beim Rohstoffabbau, in der landwirtschaftlichen Produktion oder auch auf den ersten Fertigungsstufen in der Textilindustrie. Eine auf „Tier 1“ beschränkte Prüfpflicht mag auf den ersten Blick entlastend erscheinen, verfehlt aber die Realität globaler Wertschöpfung. Sie würde ausgerechnet jene Bereiche von den Prüfpflichten weitgehend ausnehmen, in denen menschenrechtlicher Schutz am dringendsten geboten ist. Zwar sind Ausnahmen vorgesehen, etwa wenn plausible Informationen über Probleme auf der Ebene der indirekten Geschäftspartner vorliegen. Diese reichen jedoch nicht aus, um die Abweichung vom Rückschrittsverbot zu rechtfertigen. Der UN-Sozialausschuss hat sich klar gegen Maßnahmen ausgesprochen, die Unternehmensinteressen ohne ausreichende Rechtfertigung gegenüber dem Menschenrechtsschutz priorisieren. Eine stärkere Fokussierung auf die erste Ebene der Lieferkette würde zu einer Fehlallokation wertvoller zeitlicher und personeller Ressourcen im Sorgfaltspflichtenmanagement führen. Der risikobasierte Ansatz, auf dem die CSDDD bislang basiert, erlaubt hingegen, sich auf die besonders wahrscheinlichen oder schwerwiegenden Gefahren für den Menschenrechtsschutz in den Wertschöpfungsprozessen zu konzentrieren. Ihn aufzugeben oder zu schwächen, wäre ein gravierender Rückschritt gegenüber dem auf EU-Ebene bereits erreichten menschenrechtlichen Schutzniveau und ist daher äußerst kritisch zu sehen (so auch hier).
Risiken für einen effektiven Rechtsschutz
Auch der Plan, die in der CSDDD vorgesehenen Regeln zur zivilrechtlichen Haftung zu lockern, sollte dringend noch einmal überdacht werden. Die vorgeschlagenen Änderungen weisen nicht nur eine Reihe von systematischen Ungereimtheiten auf. Es ist auch mehr als fraglich, ob diese tatsächlich den Unternehmen nützen würden. Die bisherige Regelung schafft auf Durchsetzungsebene ein „level-playing field“ und ermöglicht effektiven Rechtsschutz für Betroffene. Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten die Haftung als international zwingendes Recht ausgestalten, so dass das inländische Recht und nicht mehr das Recht am Sitz des Zulieferbetriebs (gemäß den Regeln der Rom II-Verordnung zur Erfolgsortsanknüpfung) Anwendung finden würde. Wenn dieser Harmonisierungsansatz nun im Rahmen der Omnibus-Reform aufgegeben wird, ginge der ursprünglich erhoffte Gewinn an Wettbewerbsgleichheit verloren. Außerdem wären die Unternehmen (weiterhin) mit beträchtlicher Rechtsunsicherheit belastet. Entscheidend ist aber vor allem, dass eine solche Einschränkung des in der CSDDD vorgesehenen zivilrechtlichen Haftungsregimes einen deutlichen Rückschritt für den Menschenrechtsschutz darstellen würde. Für die Betroffenen blieb nicht nur die Unsicherheit, ob und nach welchem Recht sie Ersatz für die erlittenen Schäden einklagen können. Sie sind womöglich auch weiterhin mit nicht unerheblichen praktischen Schwierigkeiten im Rechtsschutzverfahren konfrontiert, denn nach dem Wunsch der Kommission soll auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten entfallen, Gewerkschaften und NGOs als Prozessstandschafter zuzulassen. Die rechtliche Konsequenz, die sich hieraus ergibt, ist eindeutig: Da nicht ersichtlich ist, wie die Änderungsvorschläge zur zivilrechtlichen Haftung einen Beitrag zu mehr Effizienz bei der Umsetzung der Sorgfaltspflichten leisten könnten (s. auch hier), und da für diese Änderungsvorschläge auch keine anderweitige tragfähige Rechtfertigung erkennbar ist, widersprechen sie dem völkerrechtlichen Rückschrittsverbot.
Fazit: Reform mit Maß und Ziel
Zahlreiche Unternehmen und Investoren haben sich noch jüngst zu Wort gemeldet und deutlich gemacht, dass sie eine Vereinfachung der Nachhaltigkeitsvorschriften für machbar halten, ohne dass deren Substanz darunter leiden müsste. In der Tat ist eine Fortentwicklung des europäischen Lieferkettensorgfaltspflichtenrechts möglich, die sowohl der berechtigten Kritik am bürokratischen Aufwand Rechnung trägt als auch den für Änderungen des Menschenrechtsschutzes maßgeblichen völkerrechtlichen Rahmen einhält. Das im ICESCR enthaltene Rückschrittsverbot bietet hierfür klare Maßstäbe, die im Reformprozess beachtet werden müssen. Sollte die Richtlinie mit den Inhalten, die Anfang Oktober im EU-Parlament ausgehandelt wurden, verabschiedet werden, wäre dies mit den ICESCR-Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten nicht vereinbar.