Mehr als nur Formalien: zur Vermittlungsausschuss-Entscheidung des BVerfG
Das Grundgesetz formalisiert den Vorgang der Gesetzgebung. Es pocht auf Gleichheit, Pluralismus, Inklusivität und inhaltliche Offenheit, verpflichtet zu Öffentlichkeit und politischer Verantwortlichkeit, zur Repräsentanz der Opposition und gewährt den Abgeordneten grundsätzlich gleiche Teilhaberechte. Das macht den politischen Prozess schwerfällig und hat für die handelnden Akteure Transaktionskosten. Die Formalisierung des Gesetzgebungsprozesses begrenzt entlang legitimatorischer Erwägungen die legislative Handlungsfähigkeit. Deswegen sind informale politische Prozesse, die außerhalb des verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsverfahrens stattfinden, wichtig: Von den Beteiligten organisierte Praktiken tragen zur Funktionsfähigkeit des demokratischen Verfahrens bei, indem sie mehrheitsfähige legislative Politiken finden.
Vor diesem Hintergrund ist die gestrige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Vermittlungsausschuss von besonderem Interesse. Wie eng – so die zu entscheidende Frage – ist der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat an diese vermeintlichen Formalien gebunden, wenn er seine Arbeit möglichst effizient zu organisieren versucht?
Die Selbstorganisation der politischen Akteure im legislativen Prozess hat selbst legitimatorische Bedeutung: Sie erleichtert kollektives Handeln in der Form des demokratischen Gesetzes; unter Umständen ermöglicht sie es erst. Aber Selbstorganisation ist mit ihrer Dynamik, den Vorgang der Gesetzgebung zu deformalisieren, auch risikoreich für dessen demokratische Funktion. Deswegen stellt sich die Frage, wie weit der Geltungsanspruch des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips gegenüber der Selbstorganisation der politischen Akteure im legislativen Prozess reicht und durchgesetzt werden muss.
Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, dass das legitimatorische Prinzip der spiegelbildlichen Besetzung von Ausschüssen des Parlaments nicht für Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses gilt.
Gegenstand der Entscheidung des Gerichts ist ein Organstreitverfahren zweier – ehemaliger –Bundestagsabgeordneter, die Mitglieder des Vermittlungsausschusses waren, und der Fraktion Die Linke gegen den Vermittlungsausschuss, den Bundestag und den Bundesrat. Der Antrag richtete sich gegen den Ausschluss der Abgeordneten von der Teilnahme an einer Arbeitsgruppe und einer informellen Gesprächsrunde im Umfeld des Vermittlungsverfahrens zur Hartz-IV-Reform 2010. In einer ersten Phase des Konflikts beantragten die Streitführer in einem Eilverfahren den Zugang zu einer Arbeitsgruppe, deren Einrichtung der Vermittlungsausschuss in informeller Sitzung beschlossen hatte. Daraufhin wurde eine Delegierte der Linken zur Arbeitsgruppe zugelassen, die aber kurz darauf aufgelöst wurde. Danach wurden ohne Beteiligung der Linken Gespräche geführt. Von zwei erarbeiteten Einigungsvorschläge nahm der Vermittlungsausschuss in der Folge denjenigen an, den die CDU/CSU- und FDP-Vertreter von Bundesrat und Bundestag erarbeitet hatten. Anders als der Bundestag lehnte der Bundesrat die Einigung dann jedoch ab.
Das Gericht setzt sich ausführlich mit der demokratischen Bedeutung der spiegelbildlichen Besetzung von Untereinheiten des Parlaments auseinander, die Aspekte der parlamentarischen Willensbildung übernehmen. Die innerparlamentarische Arbeitsteilung, in der Ausschüsse die parlamentarische politische Willensbildung inhaltlich vorformen und das Plenum von Detailarbeit entlasten, muss sich, so das Gericht, streng an demokratischen Prinzipien messen lassen (Rn. 91 – 100). Es präsentiert einen strengen legitimatorischen Maßstab der internen Selbstorganisation des Parlaments – das Demokratieprinzip entfaltet damit inhaltliche Gebote für die Selbstorganisation. Organisationsautonomie und Geltungsanspruch des Demokratieprinzips sind kein Widerspruch.
Diesen Geltungsanspruch der verfassungsrechtlichen Legitimationsprinzipien nimmt das Gericht aber für Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses zurück (Rn. 101 ff.). Diese Beschränkung der Reichweite der Verfassung gelte unabhängig davon, ob die Arbeitsgruppe durch einen förmlichen Beschluss des Vermittlungsausschusses oder durch eine informelle Entscheidung eingerichtet wird. Nun wird die Geschäftsordnungsautonomie des Vermittlungsausschusses – anders als im Falle innerparlamentarischer Delegation von Aspekten der Willensbildung – zum Gegensatz der Geltung des Demokratieprinzips aufgebaut. Für das Vermittlungsverfahren gelten, so das Gericht, keine zwingenden Vorgaben aus den verfassungsrechtlichen Legitimationsprinzipien (Rn. 103). Das begründet es wesentlich mit einer Deutung des Vermittlungsverfahrens als Mechanismus, legislative Handlungsfähigkeit in einem Zwei-Kammer-System möglichst effizient herzustellen. Demgegenüber treten Erwägungen der demokratischen Funktion des Verfahrens der Gesetzgebung zurück (Rn. 104 – 106). Die Effizienzerwägung legitimiert auch die Delegation der Vermittlungsaufgabe in Arbeitsgruppen, die selektiv besetzt sind und nicht die politischen Verhältnisse im Parlament repräsentieren (Rn. 107 – 108).
Mir scheint dagegen das Folgende bedenkenswert: Das Grundgesetz erhebt nicht den Anspruch, das Handeln der Beteiligten im legislativen Prozess abschließend zu regeln. Selbstorganisation hat verfassungsrechtliche Berechtigung – sie ist normativ getragen von Prinzipien der Organautonomie und dadurch, dass formalisierte politische Prozesse wie das Gesetzgebungsverfahren der Vorbereitung und Entlastung bedürfen, um als Verfahren des kollektiven Handelns zu funktionieren. Aber das Grundgesetz erhebt doch in Bereichen der legislativen Willensbildung, die es nicht selbst organisiert, sondern der Selbstorganisation der Akteure überlässt, einen Geltungsanspruch. Das Demokratieprinzip gilt jedenfalls für das gesamte – auch das innere selbstorganisierte – Handeln der Verfassungsorgane im Gesetzgebungsvorgang, nicht nur für jenes, das verfassungsrechtlich konkret geregelt ist. Daraus ergibt sich das Prinzip der Spiegelbildlichkeit der Besetzung parlamentarischer Ausschüsse, deren Tätigkeit im Gesetzgebungsverfahren weitgehend vom Parlament selbst verrechtlicht wird.
Weitergehend möchte ich aber argumentieren, dass sich der Geltungsanspruch des Demokratieprinzips seinem Sinn und Zweck nach auf das Handeln politischer Akteure auch außerhalb des verfassungsrechtlichen Verfahrens richten muss, soweit es auf die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt gerichtet ist und die Voraussetzungen für diese schafft. Natürlich stellt sich die Frage, wie effektiv es ist, informale Praktiken zu reformalisieren und entlang von Legitimationserwägungen zu verrechtlichen. Der politische Prozess wird wiederum versuchen, sich zu entziehen. Das zeigt der vorliegende Fall: die politische Verhandlung verlagerte sich von einer halbwegs formalisierten Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses mit feststellbarer Teilnehmerschaft, als dieser durch den Eilantrag vor dem Verfassungsgericht die Reformalisierung drohte, in eine vollends informelle Gesprächsrunde.
Trotzdem müssen, um die demokratische Legitimation der Gesetze zu sichern, für den Gesetzgebungsprozess legitimatorische Prinzipien kontrafaktisch aufrechterhalten werden. Das gilt meines Erachtens auch für die unvermeidlich entstehenden informalen Praktiken im Umfeld des offiziellen Gesetzgebungsverfahrens, in denen durch Mehrheitsfindung über konkrete legislative Politiken gesetzgeberische Handlungsfähigkeit hergestellt wird. Für diese Praktiken, die den Gesetzgebungsprozess deformalisieren, lässt sich aber eine differenzierte Forderung legitimer Organisation formulieren. Dabei geht es mir nicht um das Herstellen von perfekter Formalität, sondern um graduelle Formalisierungen: Von Öffentlichkeits- und Transparenzgeboten kann man solche Praktiken freistellen, um ihre Effektivität zu sichern. Aber die Forderung, in Prozessen der legislativen Willensbildung, die in selbstorganisierte Verhandlungsrunden delegiert werden, die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu reproduzieren, sollten meines Erachtens gestellt und gegen Deformalisierungsbewegungen stets erneuert werden. Sonst relativiert die Effizienzerwägung legislativer Handlungsfähigkeit die demokratische Legitimation der gesetzgebenden Gewalt.