Mehr Ely im deutschen Verfassungsrecht
Entscheidungen in eigener Sache und die Political Process Theory
Parlamente entscheiden ständig in eigener Sache. Bei Themen wie dem Wahlrecht oder Abgeordnetendiäten ist dies auch kaum anders denkbar. Wer soll auch sonst entscheiden? Angesichts dessen kann der Begriff der “Entscheidungen in eigener Sache”, den das Bundesverfassungsgericht als Argument für eine verschärfte gerichtliche Kontrolle einsetzt, in der Tat populistisch erscheinen: als Ausdruck des Misstrauens gegenüber denen “da oben” oder eben “in Berlin”. Gerichtlicher Populismus – Gerichte nehmen für sich eine Rolle als Wächter der wahren Interessen des Volkes gegenüber den korrupten Eliten in Anspruch – ist keine Seltenheit, wie der Rechtsvergleich etwa mit Indien oder Brasilien zeigt, und keine wünschenswerte Perspektive für Deutschland. Die Kritik am Begriff der “Entscheidungen in eigener Sache” auf dem Verfassungsblog und anderswo in der Literatur ist auch deshalb in vielerlei Hinsicht berechtigt.
Dennoch gilt: Der Begriff der Entscheidungen in eigener Sache hat einen richtigen Kern. Denn es geht ja nicht wirklich dabei um eine Verlagerung von Entscheidungen weg von Parlamenten, sondern vielmehr um genauere richterliche Kontrolle, um ein näheres Hinsehen, wenn Parlamentarier:innen im eigenen Interesse Gesetze verabschieden. Dennoch ist das Konzept, wie Thilo Streit bereits in seiner Dissertation von 2006 herausarbeitete, problematisch. Vor allem ist es zu vage – denn entscheidet nicht auch die Abgeordnete, die über die Steuergesetzgebung abstimmt, in eigener Sache? Zwar ist allen klar, dass das Argument so weit nicht reicht, aber wie weit genau es reichen soll, bleibt letztlich offen.
Diese Unbestimmtheit zieht sich auch durch die rechtswissenschaftliche Literatur, in der die Entscheidung in eigener Sache in unterschiedlicher Weise näher bestimmt und konzeptualisiert wird: als Erscheinungsform von Befangenheit, analog zu dem (im Zivilrecht verbotenen) Insichgeschäft oder als Interessenkollision, verwandt mit und verwurzelt (irgendwie) im Rechtsstaatsprinzip (Streit, 22-7). Auf den politischen Betrieb passt das alles nicht so richtig – und deshalb muss man sich auch über Kritik nicht wundern.
Trotz alledem ist das Konzept aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vor allem zum Wahlrecht nicht hinwegzudenken. Das ist auch gut so.
Ely und sein Revival in der Verfassungsvergleichung
Denn hinter dem Begriff der Entscheidung in eigener Sache stehen letztlich institutionelle Erwägungen, wie sie auch in der amerikanischen Verfassungstheorie unter dem Dach der sog. Political Process School vorgetragen werden. Vor allem John Hart Elys Verfassungstheorie, veröffentlich in seinem Buch Democracy and Distrust von 1980, steht für diesen Ansatz. Ely ging es freilich damals primär darum, die Entscheidungen des (damals noch progressiven) Supreme Court unter seinem Chief Justice Earl Warren zu rechtfertigen und zugleich dem Gericht Grenzen zu setzen. Unter Rückgriff auf eine Fussnote einer früheren Entscheidung des Supreme Court, die sog. Footnote 4 im Fall Carolene Products (die in den USA oft als die berühmteste Fussnote aller Zeiten bezeichnet wird), argumentierte Ely, das Gericht solle – natürlich – den Text der Verfassung auslegen, aber wenn dieser Text für die Entscheidung konkreter Fälle wenig hergebe, dann solle das Gericht grundsätzlich dem Gesetzgeber die Entscheidung überlassen – mit zwei wesentlichen Ausnahmen:
- wenn Insider den demokratischen Prozess blockierten, um Outsider nicht hineinzulassen,
- zum Schutz von Minderheiten, die aufgrund bestimmter Eigenschaften im demokratischen Prozess keine realen Chancen hätten, diesen Prozess durch Koalitionsbildung etc. zu beeinflussen.
Elys Theorie beeinflusste die amerikanische und manche anderen ausländischen Diskussionen nachhaltig; in Deutschland blieb ihre Bekanntheit und ihr Einfluss jedoch beschränkt. In den vergangenen fünf Jahren ist in der internationalen Diskussion in der Verfassungsvergleichung eine Art Ely-Revival zu beobachten, an dem auch die Autorin dieses Beitrags beteiligt ist. Dahinter steht das Bemühen, die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit für die Bekämpfung von autoritären oder semi-autoritären Rechtsänderungen einzusetzen und dadurch die Erosion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit soweit möglich aufzuhalten. So werben etwa David Landau und Manuel Cepeda und Stephen Gardbaum für eine neue Comparative Political Process Theory, und die australische Rechtswissenschaftlerin Rosalind Dixon betont in ihrer neu erschienenen Monographie zu Responsive Judicial Review, aufbauend auf Ely, die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit gerade auch in der Kompensation für demokratische Defizite. All dies wird in Deutschland kaum rezipiert, wäre aber gerade für das Nachdenken über die Rolle des Gerichts nicht nur, aber auch mit Blick auf das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in Deutschland relevant. Wer Thüringen 2024 diskutiert, sollte dabei auch über den nationalen Tellerrand blicken.
Was kann man aus alledem für den Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit “Entscheidungen in eigener Sache” lernen?
Machterhalt durch Insider statt Entscheidung in eigener Sache
Die amerikanische Diskussion macht deutlich, dass es grundsätzlich richtig und wichtig ist, dass Verfassungsgerichte institutionelle Erwägungen anstellen. Darüber nachzudenken, bei welchen Entscheidungen ein Gericht dem demokratischen Gesetzgeber weitgehend “vertrauen” kann und wann dies nicht gilt, sollte für die verfassungsgerichtliche Kontrolle eine wesentliche Rolle spielen. Dieser Gedanke ist auch in Deutschland unter dem Label der funktionell-rechtlichen Betrachtungsweise anzutreffen, die sich aber in Deutschland nie in gleichem Maße durchsetzen konnte wie in den USA.
Von diesem Ausgangspunkt aus wird dann auch schnell deutlich, dass eine stärkere verfassungsgerichtliche Kontrolle bei bestimmten Entscheidungen, die den politischen Prozess betreffen, sinnvoll sein kann. Elys Verweis auf Insider-Outsider-Szenarien als besonders kontrollbedürftige Fälle ist dabei hilfreich und geeigneter als der Topos der “Entscheidungen in eigener Sache” (siehe bereits Hailbronner, 2021). Denn im Kern geht es darum, Situationen herauszufiltern, bei denen das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberische Entscheidungen besonders genau überprüfen soll, weil die verabschiedeten Regelungen die Chancen einer Machterhaltung der gegenwärtigen Mehrheiten gegenüber Outsidern erhöhen. Andere gesetzgeberische Entscheidungen hingegen, die in Deutschland ebenfalls gerne unter den Begriff der Entscheidungen in eigener Sache gefasst werden, lösen nicht zwingend in gleichem Maße erhöhten Kontrollbedarf aus – etwa solche über Abgeordnetendiäten. Zwar mag sich hier das Problem einer “Selbstbedienung” ergeben, aber es spricht wenig dafür, dass in einer öffentlichen Diskussion entsprechende Verhaltensmuster nicht kritisiert und von den Wählern entsprechend abgestraft werden können. Der politische Prozess bedarf insoweit nicht zwingend einer Korrektur von außen.
Anderes kann, aber muss nicht für Änderungen im Wahlrecht gelten. Kommen geplante Änderungen eindeutig den Parteien zugute, die sie betreiben, dann besteht Grund für eine vertieftere gerichtliche Kontrolle im Sinne Elys. Diese mag freilich immer noch ergeben, dass die vorgenommenen Änderungen letztlich verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sind, aber die angelegten Kontrollmaßstäbe des Gerichts sollten dann eng ausfallen. Umgekehrt ist aber auch denkbar, dass Änderungen des Wahlrechts kaum Einfluss auf den Machterhalt haben. Das gilt etwa für die Einführung bzw. Beibehaltung der Sperrklausel, deren Verfassungswidrigkeit das Bundesverfassungsgericht zuletzt bei den Europawahlen u.a. unter Heranziehung des Begriffs der Entscheidung in eigener Sache feststellte. Eine genauere Fokussierung auf die Frage der Machterhaltung würde hier Zweifel aufwerfen, ob für Misstrauen und eine erhöhte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte wirklich Bedarf bestehen. Denn eine mögliche Zersplitterung des Parlaments mag zwar die Regierungsfähigkeit gefährden, allerdings stellt sich dabei die Frage, ob solche nur sehr mittelbaren und potentiellen politischen Vorteile tatsächlich für eine erhöhte richterliche Kontrolle Anlass geben sollten (in diesem Sinne auch das Sondervotum von Müller). Ähnliche Überlegungen dürften etwa gelten, sollte der Bundestag jemals eine Frauenquote für Listenvorschläge einführen. Hier würde es sich zwar um eine “Entscheidung in eigener Sache” handeln, aber nicht um eine Regelung, die mit dem Ziel des Machterhalts eingeführt wird. Denn konservative Parteien mögen zwar eine solche Frauenquote ablehnen, bisherige Erfahrungen aus dem Ausland (wie etwa Spanien) legen aber nicht nahe, dass sie aus deren Einführung Nachteile mit Blick auf den Stimmengewinn zu erwarten haben. Mit Ely spräche hier deshalb wenig für einen engeren gerichtlichen Kontrollmaßstab.
Eine solche enge Auslegung von Entscheidungen in eigener Sache ist auch deshalb geboten, weil die Frage, was Demokratie bedeutet, diesseits gewisser Grenzen auch selbst Gegenstand demokratischer Diskussionen ist und sein sollte, wie Christoph Möllers und andere immer wie zurecht betonen. Es mag zwar bestimmte demokratische Wesensgehalte der Demokratie geben, die David Landau und Rosalind Dixon in der internationalen Diskussion als “democratic minimum core” beschreiben und zu deren Aufrechterhaltung Verfassungsgerichte deshalb besonders berufen sind. Aber selbst diese Kerngehalte dürften nicht einfach zu fassen sein: regelmäßige freie, allgemeine, gleiche und geheime Wahlen für eine gesetzgeberische Körperschaft, Presse- und Meinungsfreiheit und manches andere gehören sicherlich dazu, aber nicht alle Aspekte dieser werden zugleich auch als Teil eines demokratischen Wesensgehalts zu begreifen sein.
Die Diskussionen um Parteienverbote, Sperrklauseln, Hate Speech oder eben auch die Frauenquote zeigen dies. Obwohl es um demokratische Kernanliegen gilt, dürfte ein demokratischer Wesensgehalt hier kaum betroffen sein. Vielmehr lässt sich mit guten Argumenten darüber streiten, was für unsere Demokratie in Deutschland jeweils der beste Ansatz ist – was genau noch als Meinungsfreiheit geschützt ist oder auch ob im Wahlrecht Frauenquoten verfassungsrechtlich zulässig sind. Der Text des Grundgesetzes selbst gibt hier vielfach keine wirklichen Antworten, diese müssen vielmehr primär im demokratischen Prozess gefunden werden. Das Bundesverfassungsgericht ist dabei natürlich zur Kontrolle der getroffenen Entscheidungen berufen. Welche Spielräume es dabei aber dem Gesetzgeber lässt, sollte vom Fall und institutionellen Kontext abhängen. Geht es um Entscheidungen, die die Wahrscheinlichkeit eines Machterhalts ganz konkret erhöhen, so sollten diese eng ausfallen. Geht es um sonstige Regelungen, mögen sie weiter zu ziehen sein. Darin liegt dann auch keine “Gesinnungsstrafe”, sondern es spiegelt sich hierin lediglich ein differenzierter, institutionell orientierter Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit wider.
Neben dem Fokus auf Insider-Machterhaltung können auch andere Argumente relevant werden. In der neueren rechtsvergleichenden Literatur oder auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte spielen oft prozedurale Erwägungen eine wichtige Rolle.
Wenn etwa grundsätzlich machterhaltungsrelevante Wahlrechtsänderungen mit breiten, koalitionsübergreifenden Mehrheiten verabschiedet werden, sollte dies als Argument für weitere Ermessensspielräume gelten. Wo dies umgekehrt nicht der Fall ist, sollte das Gericht die Begründung des Gesetzgebers für die entsprechenden Reformen sehr genau lesen und prüfen und im Zweifel eingreifen.
Fazit
Wie genau eine deutsche Political Process Theory auszusehen hätte, kann ein Blogpost nicht beantworten. Die verfassungsvergleichende Literatur macht jedenfalls deutlich, dass die Grenzen zwischen Demokratie-Optimierung und dem Aufhalten des Abgleitens in semi-autoritäre Strukturen nicht immer einfach zu bestimmen sind. Gerichtliche Interventionen im Dienst der Demokratie können zweifelhaft sein und leider auch missbräuchlich und antidemokratisch. Trotzdem spielen Verfassungsgerichte und auch das deutsche Bundesverfassungsgericht für den Schutz der rechtlichen Grundlagen der Demokratie eine wesentliche Rolle. Der Begriff der “Entscheidungen in eigener Sache” nimmt dies auf, sollte aber konkretisiert bzw. ersetzt werden durch eine explizite institutionelle Perspektive, die u.a. die Konsequenzen der jeweiligen Regelungen für den Machterhalt der an ihr beteiligten Parteien bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle berücksichtigt.
Der Beitrag stützt sich in wesentlichen Teilen auf einen längeren Aufsatz, der 2021 im International Journal of Constitutional Law veröffentlicht wurde unter dem Titel “Combatting malfunction or optimizing democracy? Lessons from Germany for a comparative political process theory“.