Mit Mut und Dogmatik die Luftreinhaltung gegen die öffentliche Hand durchsetzen
Das VG Stuttgart zeigt die nötige rechtsstaatliche Phantasie
In seinem Beschluss vom 21. Januar 2020 findet das Verwaltungsgericht Stuttgart Mut und dogmatische Lösungen, eine Zwangsvollstreckung gegen die öffentliche Hand zu verbessern (17 K 5255/19). Es bricht nicht nur mit der Praxis, die das Zwangsgeld letztlich in der öffentlichen Hand belässt, sondern schließt auch eine Zwangshaft gegen Amtsträger als ultima ratio nicht aus.
I.
„Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist der Schlussstein des Rechtsstaates“, schrieb der nachmalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch begeistert in wilhelminischer Zeit. Ganz so weit war es doch noch nicht. Das Grundgesetz formulierte kräftiger. „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG). Richard Thoma paraphrasiert dies zum Schlussstein „im Gewölbe“ des Rechtsstaates. Das ist ein kraftvolles Bild. Der entscheidende Satz steht indes an anderer Stelle: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut“ (Art. 92 GG). Die richterliche Gewalt ist eine eigene echte Gewalt, die in eben dieser Eigenschaft den anderen Gewalten selbständig gegenübertritt. Im System des Grundgesetzes übernimmt sie dazu die konstituierende Aufgabe, die beiden anderen Gewalten im Sinne freiheitsverbürgender und freiheitssichernder checks and balances zu kontrollieren. Das BVerfG interpretierte Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG alsbald dahin, dass der zugesicherte Rechtsschutz „effektiv“ zu sein habe. Natürlich. Diese Sichtweise betont vor allem die kontrollierende Prävalenz der Dritten Gewalt gegenüber der Exekutive. Der rechtsstaatliche Akzent liegt auf dem gerichtlichen Zugang und auf der zu erreichenden Feststellung, welche Rechtslage maßgebend ist, in prozessualer Sprache also auf dem Erkenntnisverfahren. An eine Zwangsvollstreckung gegen eine beklagte öffentliche Hand denkt man eher beiläufig. In den §§ 167 ff. VwGO normiert der Gesetzgeber dazu ein Minimalprogramm, immerhin. Eigentlich benötigt man es nicht, so die communis opinio. Reichsgericht und Bundesgerichtshof entwickelten die Auffassung, wegen der verfassungsmäßig verankerten festen Bindung der Exekutive an Gesetz und Recht dürfe die Respektierung von rechtskräftigen Gerichtsurteilen auch ohne dahinterstehenden Vollstreckungsdruck erwartet werden. Das Bundesverwaltungsgericht übernahm dieses Verständnis. Die Wendung „Respekt“ vor der Dritten Gewalt und seinen Richtern wird gerne benutzt.
Das Minimalprogramm der §§ 167 ff. VwGO verweist ergänzend auf das Zwangsvollstreckungsrecht der Zivilprozessordnung, soweit sich aus der VwGO selbst nichts anderes ergebe. Das ist mit § 172 VwGO in Grenzen der Fall. Kommt die Behörde der ihr vom Verwaltungsgericht rechtskräftig auferlegten Verpflichtung nicht nach, so kann dasselbe Gericht auf Antrag unter Fristsetzung gegen die Behörde ein Zwangsgeld bis zu 10.000 Euro androhen, nach fruchtlosem Fristablauf festsetzen und von Amts wegen vollstrecken. Das Ganze kann wiederholt werden. Wie § 172 VwGO genau zu verstehen sei, steht im Streit der Kommentarliteratur. Jedenfalls gilt: Der Gesetzgeber regelt nicht, wer das „verfallene“ Zwangsgeld erhält. Die entstehende Verwaltungspraxis zieht den Betrag seit jeher zugunsten der Justizkasse ein. Damit geht der Betrag in den allgemeinen Landeshaushalt ein, also von der einen Hand in die andere. § 172 VwGO besitzt neben der Limitierung des Betrags noch eine andere, „stillschweigende“ Besonderheit. Die Gesetzesnorm scheint die Möglichkeit einer Zwangshaft auch auszuschließen, dass ein, auch wiederholt verhängtes Zwangsgeld, den beabsichtigten Beugedruck nicht zu erreichen vermag. Ebenfalls nicht ausdrücklich normiert ist, ob das Zwangsgeld gegen die verurteilte Behörde als den formalen Vollstreckungsschuldner oder (auch) gegen den handlungsfähigen und zuständigen Amtsträger persönlich festzusetzen ist. So scheint das Gesetzeswerk in seiner Unvollkommenheit vor allem der Zielsetzung der prozessualen Symbolik zu folgen. Wie anders doch die zivilprozessuale Praxis, um den renitenten Schuldner mores zu lehren. So suggeriert die Praxis zu §§ 167 ff. VwGO zunächst ein Bild „geordneter“ Harmonie. Dass es der Staat selbst ist, der den „Respekt“ vermissen lässt, wird übersehen.
II.
Und doch müssen wir uns mit diesem Gedanken immer mehr vertraut machen. An einigen Rändern scheint der Rechtsstaat zu erodieren. Toxische Problemfälle jüngster Zeit sind: „Stadthalle Wetzlar“ [NPD]; „Luftreinhalteplan München“; „Luftreinhalteplan Stuttgart“; „Rückholung eines abgeschobenen Ausländers“ und als Altfall „Kongresshalle am Alexanderplatz“. Ist es noch möglich, dies als Einzelfälle abzutun? Den Fall der Anmietung der kommunalen Stadthalle Wetzlar durch die NPD im Frühjahr 2018 kann man als ein Menetekel betrachten. Die Stadt Wetzlar verweigerte die Anmietung entgegen § 5 PartG. Das VG Gießen verurteilte und verhängte zwei Zwangsgelder, einmal 7.500 €, dann 10.000 €, jeweils ohne beugenden Erfolg. Das BVerfG wird im Eilrechtsschutz angerufen. Das Gericht (Kammer) entscheidet gemäß § 32 BVerfGG zugunsten der NPD. Die Stadt Wetzlar folgt der Anordnung nicht. Einen ihr möglichen Widerspruch legt sie nicht ein (vgl. § 32 Abs. 3 S. 1 BVerfGG). Sie ignoriert schlicht alle gerichtlichen Entscheidungen, selbst die Anordnung des BVerfG. So etwas hatte es noch nie gegeben. Ein Aufschrei der Presse ist indes kaum zu vernehmen. Es muss zu denken geben, dass eine Behörde, hier die Stadt Wetzlar und deren Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD), welche durch eine einstweilige Anordnung des BVerfG zur Durchsetzung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung angewiesen wird, diese Anordnung mit wirklich fadenscheinigen Gründen missachtet. Die Rechtslage ist zweifelsfrei. Die Behörde hat sich nicht an die Stelle des BVerfG zu setzen. Res judicata. Wenn die Anordnung des BVerfG nicht befolgt wird, ist das bereits eine unsägliche Rechtsverweigerung. Skandalös ist es, dass die mit Juristen besetzte Kommunalaufsicht Gießen als Rechtsaufsicht das Verhalten der Stadt Wetzlar nach rechtlicher Prüfung für als noch „nachvollziehbar“ billigt. Regierungspräsident ist zu diesem Zeitpunkt Christoph Ullrich (CDU), ein ehemaliger Landgerichtspräsident. Niemand tritt zurück. Der zuständige Innenminister Peter Beuth (CDU), auch er Jurist, greift als oberste Kommunalaufsicht nicht ein. Man duckt sich weg. Die administrativen Kontrollinstanzen versagen. Die Erörterung im Landtag ist vom Hessischen Wahlkampf geprägt, sie ist polemisch und niveaulos. Um eines billigen politischen Vorteils willen nimmt man hin, dass der Rechtsstaat erodiert. Dass das Vertrauen vieler Bürger in die Bindekraft rechtlicher Regeln bei tagespolitisch orientierter Krisenbewältigung schwindet, ist kaum verwunderlich. Parteipolitische Ziele drängen sich in den Vordergrund. Die unteren politischen Chargen scheinen ihre „Verteidigungsbereitschaft“ zugunsten rechtsstaatlicher Regeln zu verlieren. § 172 VwGO hat sich als machtlos gezeigt. Ein Einzelfall? Genügen beschwörende Hinweis des Präsidenten des BVerfG? (Nachzulesen in NJW 2018, 3154.)
Szenenwechsel. Seit dem 1. Januar 2010 ist im Straßenverkehr ein über ein Kalenderjahr gemittelter Immissionsgrenzwert von 40 µg/m³ für Stickstoff NO2 einzuhalten. Das gilt kraft Unionsrecht. Dessen Vorrang ist zweifelfrei. Entsprechende Maßnahmen haben gebietsbezogen flächendeckend zu geschehen. Die Kommunen haben dazu Luftreinhaltepläne zu erlassen. Sie tun es nicht oder zögerlich. Die Kommunalaufsicht greift nur selten ein, genauer gesagt: fast nie. In etwa 60 deutschen Städten wird derzeit der zulässige Grenzwert von 40 µg/m³ im Jahresmittel überschritten. Die geschätzte Todesrates ist nicht unerheblich. Nach den Erkenntnissen der European Environment Agency (EEA) sterben in Deutschland jährlich 12.800 Menschen an der Luftbelastung durch NO2. Der Politik scheint dies gleichgültig zu sein. Die Klagen, die auf Erlass eines Luftreinhalteplanes gerichtet sind, haben bei den Verwaltungsgerichten fast stets Erfolg. Im Februar 2018 bestätigt das Bundesverwaltungsgericht die Rechtsprechung der Instanzgerichte. Versuche, die steuerliche Gemeinnützigkeit des Verbandsklägers (NGO) aufzuheben, scheitern, bereits der Versuch erscheint pervers. Die Kläger haben rechtskräftige Titel in den Händen. Die jetzt einsetzende verwaltungsgerichtliche Zwangsvollstreckung bleibt ohne Effekt. Stattdessen erlässt der Bundesgesetzgeber ein Gesetz, das den Toleranzbereich auf bis zu 50 µg/m³ ausdehnt. Erste Judikate erkennen dies zutreffend als unionswidrig. Der deutsche Gesetzgeber habe keine Ermächtigung zur Milderung der unionsrechtlichen Vorgaben. Das weiß eigentlich jeder. Die Gerichte lassen keinen Zweifel über die einzusetzenden Mittel: Es sind letztlich Fahrverbote. Umweltministerin (SPD) und Verkehrsminister (CSU) im Kabinett Merkel IV lavieren. Die Kanzlerin bietet im Dieselskandal selbst ein negatives Vorbild der Handlungsschwäche.
Der Bayerische Ministerpräsident erklärte am 18. April 2018 vor dem Bayerischen Landtag wörtlich: „Ich sage ganz klar: Bayern ist Autoland. Ich bekenne mich ausdrücklich zum Auto, nicht nur als Wirtschaftsfaktor, sondern auch als Ausdruck individueller Mobilität. Wir wollen keine Fahrverbote, sondern setzen auf den Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs und der Elektromobilität.“ Wann wird das sein? Damit sind die Fronten in Bayern jedenfalls geklärt. Da das begrenzte Zwangsgeld keinen dauernden Erfolg bietet, beantragte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen den Bayerischen Ministerpräsidenten die persönliche Zwangshaft. Der angerufene Bayerische Verwaltungsgerichtshof sieht im deutschen Recht keine Rechtsgrundlage für eine derart „persönliche“ Zwangshaft. Der Gerichtshof legt den Rechtsstreit dem EuGH vor. Fast hilflos. Die Antwort aus Luxemburg ist freundlich, aber negativ (EuGH Urt. v. 19.12.2019, Az. C-752/18). Wenn das vorlegende Gericht keine innerstaatliche Rechtsgrundlage finde, sei der EuGH daran gebunden. Man könne allerdings an ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland denken. Steine statt Brot. Ein Individualkläger kann ein derartiges Verfahren nicht auslösen. Das weiß der EuGH natürlich auch. Ohnedies hatte die angehörte EU-Kommission gemeint, sie stimme darin zu, dass Deutschland für eine Zwangshaft keine ausreichende innerstaatliche Rechtsgrundlage geschaffen hat. Die Durchsetzung rechtskräftiger Urteile befindet sich hier augenscheinlich in einer Sackgasse. Noch steht die erneute Verhandlung vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof an. Der VGH könnte seine recht zweifelhafte Meinung aufgeben, dass es keine gesetzliche Rechtsgrundlage für eine Zwanghaft gebe. Sie gibt es. Die Grundlage findet sich in § 167 VwGO in Verb. mit § 888 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Damit wäre dem formalen Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG Genüge getan. Nur Mut, möchte man dem bayerischen Gerichtshof zurufen.
III.
Diesen Mut hat das VG Stuttgart. In seinem Beschluss vom 21. Januar 2020 – 17 K 5255/19 schiebt das Gericht verkrustete Argumente beiseite, vor allem die der Kommentarliteratur. Es orientiert sich an einem Kammerbeschluss des BVerfG vom 9. August 1999 – 1 BvR 2245 – (Alexanderplatz). Es sind ganz einfache, erfrischende Sätze, mit denen das Verwaltungsgericht einen Zugang zu einer effektiveren Vollstreckung gegen die öffentliche Hand öffnet, ja aufbricht:
„Die Verwaltungsgerichte haben die Vollstreckungsvorschriften der VwGO so auszulegen und anzuwenden, dass ein wirkungsvoller Schutz der Rechte des Einzelnen auch gegenüber der Verwaltung gewährleistet ist. Das gilt auch für die Frage, ob zur Durchsetzung von Urteilen neben Zwangsgeldern nach § 172 VwGO weitere Zwangsmittel zulässig sind.“
Die Ausgangsüberlegung ist einfach. Erweist sich die Handhabung des § 172 VwGO in concreto als unvollkommen, schiebt diese Ineffektivität die Subsidiaritätsklausel des § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Seite. Jetzt gilt das Zwangsvollstreckungsrecht nach ZPO in vollem Umfang. So sah es bereits 1999 eine Kammer des BVerfG, wie erwähnt (DVBl 1999, 1646 = NVwZ 1999, 1330). Nota bene: Es geht um die Durchsetzung eines rechtskräftigen Urteils. Das Verwaltungsgericht Stuttgart diagnostiziert, trotz zweimaliger Anordnung eines Zwangsgeldes nach § 172 VwGO von jeweils 10.000 € lasse sich nicht erkennen, dass die öffentliche Hand als Vollstreckungsschuldnerin Willens sei, die ihr rechtskräftig auferlegten Verpflichtungen zu befolgen. Wie denn auch, der baden-württembergische Ministerpräsident selbst hatte sich gegen Fahrverbote ausgesprochen. Die prozessualen Verteidigungsbemerkungen der öffentlichen Hand sind rabulistisch, die geplanten Maßnahmen lassen eine Einhaltung des Grenzwerts nicht erwarten. Das Verwaltungsgericht Stuttgart legt sie zur Seite. Das Gericht denkt gleichwohl laut und entschlossen: Es bleibe offen, ob im Rahmen des § 888 ZPO gegen einen Amtsträger eine Zwangshaft verhängt werden könne. Dann wörtlich: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebiete es nämlich, … die Haft solange nicht als Zwangsmittel zu verhängen, wie noch ein Zwangsgeld ausreichend erscheint, um den Willen des Vollstreckungsschuldners zu beugen.“ Was wird hier annonciert? Glaubt das Gericht selbst an den Erfolg, wenn es den Höchstbetrag mit 25.000 € festsetzt? Wohl kaum. Und so fahren die Entscheidungsgründe fort: „Die Verhängung von Zwangshaft stellt sich auch unter Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben als ultima ratio dar, vor dessen Anwendbarkeit andere Vollstreckungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen“. Die nächste Runde scheint bereits avisiert zu sein. Und dann beendet das Gericht eine bislang bestehende Praxis: Das Zwangsgeld ist nicht an die Justizkasse, sondern an die Deutsche Kinderkrebsstiftung zu zahlen. Das entspricht der Konnexität des rechtswidrigen Verhaltens des Staates. Gratulation zu diesem Gedanken. Das ist ein dogmatischer Durchbruch, wenn auch als Beugemaßnahme vermutlich noch von geringem Effekt. Die Zahlung ist dem Verwaltungsgericht innerhalb von zwei Monaten nachzuweisen. Das Gericht denkt praktisch. Sein Beschluss gibt das maßgebende Bankkonto an.
Ein Blick in die USA ist an dieser Stelle eventuell interessant. Dort gab es kürzlich einen ähnlichen Fall – eine Richterin untersagte die Abschiebung eines Studenten (die ein gültiges Visum besaß). Dieser wurde trotzdem abgeschoben, nachdem das Urteil verkündet wurde.
Als danach ein anderer Richter über diesen Fall urteilte, gab die Abschiebebehörde als Argument an, dass die Abschiebung nun einmal Fakt sei und man daran nichts ändern könnte. Das Urteil klingt dann wie “Mimi, mir hört keiner zu, aber da kann man nichts machen”.
Tatsächlich haben Richter in den USA jedoch das Recht, Personen wegen “contempt of court” festzunehmen. Die Anwälte des Studenten bemühen sich derzeit, die ursprünglich urteiltende Richterin dazu zu bewegen.
Eventuell sollte man solche Regeln auch hier einführen.
Danke für diesen interessanten Blogbeitrag. Leider wird über die Problematik der Nichtbefolgung von verwaltungsgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Urteilen, wie Sie zu Recht kritisieren, in den allgemeinen Medien viel zu wenig berichtet. Auch in der juristischen Fachwelt fehlt es meines Erachtens an einer umfassenden Debatte. Die von Ihnen zitieren Fälle zeigen gerade, dass die Befolgung von Urteilen durch Amtsträger aktuell leider keine Selbstverständlichkeit ist. Mich hat dies dazu bewogen, mich dem Thema im Rahmen eines Dissertationsvorhabens zu widmen.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, scheinen Sie den Hinweis des EuGH hinsichtlich eines Vertragsverletzungsverfahrens (Rn. 53 des Urteils Rs. C-752/18) als wenig erfolgsvorsprechend einzustufen. Dem würde ich widersprechen. Zwar ist es nur auf Verstöße gegen die Verträge anwendbar, so dass rein nationale Befolgungsproblematiken ohne unionsrechtlichen Einschlag damit nicht lösbar wären. Gerade jedoch in dem vorliegenden Fall des Luftreinhalteplans erscheint ein Vertragsverletzungsverfahren nicht ausgeschlossen. Aus dem Umstand, dass die Kommission ebenso der Ansicht ist, dass das deutsche Recht keine Rechtsgrundlage für die Zwanghaft gegen Amtsträger vorläge, lässt sich meiner Meinung nach nicht schließen, dass sie die Nichtbefolgung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung billigt und tatenlos zusieht. Die Begrenzung der Zwangsgelder auf 10.000€ nach § 172 VwGO oder auf 25.00€ nach § 167 VWGO iVm. § 888 ZPO ist wohl zu gering, um die Amtsträger zu einer Befolgung zu veranlassen. Die Frage des Empfängers des Zwangsgeldes und die Effektivität bei Zahlung an einen Dritten statt an die Staatskasse sei hier mal bewusst beiseite gelassen. Hier scheint gerade ein drohendes Zwangsgeld im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens aufgrund dessen Nichtbeschränkung auf die oben genannten Beträge effektiver, auch wenn ein solches Verfahren einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Schließlich würde Baden-Württemberg (im vorliegenden Fall) oder der Freistaat Bayern (im Fall des Luftreinhalteplans München) nach Art. 104 a Abs. 6 GG die entsprechenden Lasten des Zwangsgeldes tragen.
Zu Raven Kirchner
Danke für die Reflexion. Ja, ich bin aus mehreren Gründen skeptisch. Die Erwägungen des EuGH sind nicht zu Ende gedacht. Es gibt kein individuelles subjektives Recht, ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten zu können. Weder nach Unionsrecht, erst recht nicht nach nationalem Recht. Damit bricht die Erwägung des EuGH zusammen. Es ist noch schlimmer. Der EuGH hat sich geweigert, Art. 9 Abs. 4 der Arhus-Konvention zu aktivieren. Und genau dies war sinngemäß die Vorlagefrage des VGH München gewesen. Damit hat der EuGH eine Chance vertan, rechtsstaatswidriges Verhalten kraft Unionsrechtes zu unterbinden. Auch darüber hätte ich vertieft schreiben können. Auch darüber, welche geringen verfassungsrechtlichen Kenntnisse der VGH München mit seiner Vorlagebegründung offenbarte. Umweltpolitisch sieht die vom EuGH beteiligte Kommission ganz schlecht aus. Es sollte gerade ihr ein Anliegen sein, die maßgebende Richtlinie, welche seit 2010 Grenzwerte für Stickoxyde im Straßenverkehr bestimmt, durchzusetzen. Ich habe selten eine so lieblose, desinteressierte Stellungnahme einer Kommission gelesen, wie diese im Verfahren vor dem EuGH. Darauf also zu hoffen, diese Kommission werde energisch für eine Durchsetzung der maßgebenden Richtlinie sorgen, scheint mir eine Illusion zu sein. Auch die Schlussanträge des Genetalanwaltes verbreiteten keine rechtsstaatlich motivierte Aufbruchsstimmung. In einem umweltpolitischen Sinne haben sich beim EuGH und bei der Kommission die konservativen Kräfte durchgesetzt. Das ist der Befund. Umso erfreulicher dagegen das VG Stuttgart. Mich erinnerte sein Urteil an einen neutestamentarischen Satz: „Und du Bethlehem im jüdischen Lande bist mitnichten die kleinste unter den Fürsten Judas“ (Matthäus 2:6).