„Mr. President, Does the TikTok ban conform with the Constitution?“
Der US-Kongress hat ein Verbot von TikTok beschlossen, dies im Rahmen von zwei Gesetzen, welche sich – aus Gründen der nationalen Sicherheit und des Datenschutzes – gegen von feindlichen ausländischen Staaten (Foreign Adversary Countries) beherrschten Unternehmungen richten. Damit soll es in den USA nunmehr zwei Standards bei Plattformregulierungen geben: Sehr liberale als Normalfall, und strenge in Zusammenhang mit sog. Foreign Adversary Countries. Die Gerichte haben zu entscheiden, ob dies vor dem First Amendment standhält. Das Hauptproblem bleibt: Das Fehlen einer allgemeinen Plattformregulierung in den USA, welche diesen Namen verdient, und die verfassungsrechtlichen Determinanten einer solchen Regulierung.
Die US-Amerikaner und TikTok
Sie könnte dann wohl doch nur von kurzlebiger Natur gewesen sein, die Existenz des TikTok-Accounts des amtierenden US-Präsidenten Joe Bidens (@bidenhq). Dort auf TikTok sind sie für ihn besonders gut erreichbar, die jungen US-Amerikaner, um deren Stimmengunst Biden für die Präsidentenwahl hofft, wenn er seit Februar 2024 im TikTok-typischen Hochkant-Format unter anderem „This or That“-Fragen beantwortet oder – wie er es in seinem ersten TikTok tat – eine ihn betreffende Verschwörungstheorie parodiert. Denn TikTok ist eine Kommunikationsplattform, die sich vor allem bei jungen US-Amerikanern hoher Beliebtheit erfreut. In einer Umfrage von Januar 2024 gaben 35 % der Amerikaner ab 12 Jahren an, dass sie derzeit TikTok nutzen.
Neue Regelungen mit Ausnahmecharakter
In Amerika könnte die App und damit auch der Account von Biden schon im Jahr 2025 der Vergangenheit angehören: Am 23. April 2024 stimmte der US-Senat mit überwältigender Mehrheit (79 zu 18 Stimmen) für ein Gesetz (The Protecting Americans from Foreign Adversary Controlled Applications Act), das den in China ansässigen Mutterkonzern Bytedance dazu zwingt, sich innerhalb von 9 Monaten von der App zu trennen, indem entweder die Aktivitäten eingestellt oder das US-Geschäft verkauft wird. Sollte Bytedance dieser Forderung nicht nachkommen, droht die Verbannung von TikTok aus den amerikanischen App-Stores.
Zugleich wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet, der Protecting Americans’ Data from Foreign Adversaries Act. Dieses Gesetz verbietet Unternehmen, die Daten verkaufen, die Weitergabe sensibler personenbezogener Daten von US-Bürgern an sog. Foreign Adversary Countries und Institutionen oder Unternehmen, welche von diesen Ländern gesteuert werden. Dazu gehört auch TikTok.
Beide Gesetze sind bemerkenswert. Das TikTok-Verbot steht in klarem Gegensatz zur sehr liberalen Plattformgesetzgebung der USA, welche immer noch weitgehend von Sec. 230 (c) Communication Decency Act von 1996 bestimmt wird und Plattformen von einer Haftung weitgehend freistellt. Trotz der verhängnisvollen Rolle der sozialen Medien anlässlich der Erstürmung des Capitols durch einen Mob ist es dem Kongress bis jetzt nicht gelungen, eine Plattformgesetzgebung zu erlassen, die eine solche Bezeichnung verdient. Die Verhältnisse werden unverändert von den rechtlichen und wirtschaftlichen Regeln der Märkte sowie von den Selbstregulierungen der Plattformen bestimmt. Ähnlich ist die Situation bezüglich des Gesetzes, dass die Daten von US-Bürgern schützen soll. Die amerikanische Datenschutzgesetzgebung ist sehr liberal und für europäische Verhältnisse äußerst lasch. Viele Personendaten können von spezialisierten Unternehmungen gekauft werden. Völlig anders das neue Datenschutz-Spezialgesetz: es enthält eine lange Liste sensitiver Daten, die nicht Foreign Adversaries oder von diesen beherrschten Unternehmen weitergegeben werden dürfen.
Die Standards sind also völlig verschieden. Dies hängt mit einer weiteren Gemeinsamkeit der Gesetze zusammen: Beide richten sich gegen sog. Foreign Adversary Countries. Zu diesen gehören die üblichen Verdächtigen: Russland, China, Nordkorea, Iran, Kuba und Venezuela unter Präsident Maduro. Die USA sehen sich gegenüber diesen Staaten veranlasst, aus Gründen der Außen- und Sicherheitspolitik besondere Maßnahmen zu ergreifen, wobei deren Ursachen durchaus unterschiedlich sind. Klar ist indes mit dieser Kategorisierung, dass nach Auffassung der relevanten politischen Akteure bei TikTok wesentliche US-amerikanische Sicherheitsinteressen betroffen sind.
Ähnlich gelagerte (gescheiterte) Regelungsinitiativen
Die nun verabschiedete TikTok-Regulierung hat eine Vorgeschichte. Bereits unter der Regierung von Donald Trump wurde im Jahr 2020 eine Exekutivanordnung (Executive Order 13943, 48641) erlassen, die ein Verbot der chinesischen Plattform „WeChat“ vorsah. Dieses Verbot wurde mit dem Argument des Schutzes der nationalen Sicherheit begründet, da die App automatisch sensible Nutzerdaten erfasse und eine potenzielle Gefahr für den Zugriff und Missbrauch durch die chinesische Regierung darstelle. Es war also schon hier die Kombination von Sicherheitsbedrohung und Datenschutzbedürfnisse, welche Anlass für spezifische Restriktionen war.
Ein Gericht stellte jedoch im Wege einer einstweiligen Verfügung fest, dass möglicherweise der erste Verfassungszusatz – namentlich das First Amendment – verletzt sei (siehe auch die Wikipedia-Kommentierung). Obwohl China als erhebliche Sicherheitsbedrohung betrachtet werde, gab es laut dem Richter nicht genügend Beweise für eine unmittelbare Gefährdung der nationalen Sicherheit durch die App WeChat.
Im selben Jahr versuchte Präsident Trump durch eine Exekutivanordnung die Nutzung von TikTok einzuschränken und ByteDance innerhalb einer bestimmten Frist zum Verkauf seines US-Geschäfts zu zwingen (zu den Hintergründen). Die Anordnung untersagte sämtliche kommerziellen Transaktionen mit ByteDance gemäß der amerikanischen Wirtschaftsnotstandsgesetzgebung. Trump erklärte sogar den nationalen Notstand, um diesen Schritt zu legitimieren. Vorübergehend war es auch untersagt, die App herunterzuladen. Als Reaktion auf diese Maßnahmen begann TikTok Verhandlungen mit Oracle über einen Teilverkauf. Gleichzeitig klagte TikTok vor Gericht, und erneut stoppte ein Bundesrichter Trumps Vorhaben, da die Bundesregierung erneut nicht in der Lage war, eine hinreichende Gefährdung nachzuweisen (TikTok v. Trump, No. 1:20-cv-02658-CJN (Order) (D.D.C. Sep. 27, 2020) und TikTok v. Trump, No. 1:20-cv-02658-CJN (Opinion) (D.D.C. Sep. 27, 2020).
Für Aufsehen sorgte auch ein Gesetz im Bundesstaat Montana, das darauf abzielte, die persönlichen und privaten Daten der Bevölkerung Montanas vor Staat und kommunistische Partei in China zu schützen (hierzu auch Anna Conley), Es sollte ursprünglich am 1. Januar 2024 in Kraft treten und hätte die private Nutzung von TikTok für alle Einwohner des Bundesstaates verboten. In einer einstweiligen Verfügung wurde jedoch bezweifelt, ob Montana ein legitimes Interesse an dieser Regelung hatte, da diese wahrscheinlich in die konstitutionellen Zuständigkeiten der Bundesregierung im Bereich der Sicherheits- sowie Außenpolitik eingriff sowie gegen die Commerce Clause (Artikel 1, Abschnitt 8, Absatz 3 der US-Verfassung) verstieß. Das Gesetz missachtete ferner wohl auch den ersten Verfassungszusatz, weil es TikTok generell verbot, obwohl das Verbot nur sekundär mit den verbreiteten Inhalten begründet wurde. Die Auswirkungen auf die Kommunikationsmöglichkeiten von TikTok und der Nutzer genügten für eine mögliche Verletzung.
Das Recht auf freie Kommunikation
Das neue „Divestment-or-Ban“-Gesetz, welches das Ende von TikTok in den USA einläuten könnte, markiert damit lediglich den neuesten Höhepunkt einer langanhaltenden Auseinandersetzung, deren Hintergrund der außenpolitische Konflikt zwischen den USA und China bildet. Es ist schon jetzt klar, dass das Gesetz Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung sein wird: ByteDance hat angekündigt, gerichtlich dieses wegen einer Verletzung von Kommunikationsgrundrechten, also des First Amendment vorzugehen. Dies werden wohl auch Interessenverbände von Nutzern tun.
Das First Amendment ist in der Tat eine entscheidende Verfassungshürde: Es garantiert die Freiheit der Kommunikation nahezu vorbehaltlos, und die von einer reichhaltigen Supreme-Court-Praxis bestimmte Rechtsprechung schützt auch einseitige, radikale oder schockierende Minderheitenmeinungen, von denen es auf TikTok wimmelt. Ein Verbot wäre ein schwerwiegender Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit von Millionen. Obwohl es möglicherweise Gründe gibt, ein solches Verbot zu erwägen, müssen diese Gründe eine sehr ernsthafte Bedrohung für den Staat und die Gesellschaft darstellen, um im Kontext der Meinungsfreiheit Bestand zu haben (allgemein zum TikTok-Verbot im Licht des First Amendment Alan Z. Rozenshtein).
Können nun die im Gesetzgebungsprozess geäußerten Bedrohungsszenarien bezüglich des Datenschutzes und der nationalen Sicherheit ein Verbot der Plattform rechtfertigen? Sind die geschützten Interessen wichtig genug und genügend stark bedroht?
Datenschutz
In China ermöglichen Gesetze die heimliche Anforderung von Daten durch die Behörden (§ 7 und § 14 Nationales Nachrichtendienstegesetz der Volksrepublik China). In Washington bestand deshalb bei den politischen Verantwortlichen in Administration und Kongress parteiübergreifend die große Sorge, dass sensible US-Nutzerdaten seitens der chinesischen Regierung von Bytedance abgefangen und missbraucht werden könnten, wofür aber eigentliche Beweise fehlen. Unter dem Gesichtswinkel der Erforderlichkeit ist die Maßnahme, nämlich die Verbannung der App aus den App-Stores, teilweise problematisch. Der USA fehlt es an einem nationalen Datenschutzgesetz. Nutzerdaten sind über Drittanbieter käuflich erwerbbar und für die chinesische Regierung mitnichten nur über die Verwertung von TikTok-Daten möglich. Dem hat nun aber der Kongress einen Riegel vorgeschoben: Der Protecting Americans’ Data from Foreign Adversaries Act und dessen Verbot, sensible personenbezogene Daten an Foreign Adversary Countries und deren Institutionen oder Unternehmen zu verkaufen begegnet dieser Gefahr zumindest teilweise. Bytedance hat allerdings das Projekt Texas lanciert. Gemäß diesem Projekt sollen USD 1,5 Mia. investiert werden, um alle Daten von amerikanischen Nutzern in den USA zu lagern, dies unter der Compliance-Kontrolle der US-Audit-Firma Oracle (eingehender hierzu Casey Newton). Ob dies TikTok in den zu erwartenden Gerichtsverfahren nützen wird? Tatsache bleibt: es wird datenschutzrechtlich in den USA doppelte Standards geben. Für eine bestimmte Kategorie von Staaten und deren Unternehmen gelten strenge Vorschriften, für alle anderen nicht. Müssten indes nicht generell die Daten der US-Bürgerinnen und -Bürger besser geschützt werden?
Nationale Sicherheit
Der Schutz nationaler Sicherheits- und außenpolitischer Interessen ist das wohl überzeugendere Argument für das Vorgehen gegenüber TikTok. Dazu gehören nicht nur die Befürchtungen über einen sicherheitsrelevanten Datenmissbrauch, sondern auch der algorithmischen Steuerung von Inhalten, der Verbreitung von Propaganda, des Anheizens von Konflikten sowie der Verbreitung von Desinformation. Auch diesbezüglich sind indes bis jetzt Beweise hierfür der Öffentlichkeit nicht vorgelegt worden. Es ist allerdings offensichtlich, dass es auf TikTok von Propaganda, Fake News, Desinformation und Deep Fakes wimmelt. Genügt dies um TikTok zu verbieten? Ist ein Verbot verhältnismäßig, legitimieren die verpönten Inhalte ein generelles Verbot hinreichend?
Die Bandbreite an Inhalten auf TikTok ist enorm – von niedlichen Katzenvideos über Tanzperformances – die teilweise sexualisierten Content darstellen – bis hin zu vielfältigen Selbstdarstellern und -darstellerinnen sowie Comedians. Propaganda, Desinformation, Fake News und dergleichen machen einen geringeren Teil der Inhalte aus. Die TikTok Community Standards verbieten solche Inhalte, aber es macht nicht den Eindruck, dass dies durchgesetzt wird. Auch vor dem Hintergrund der Supreme Court Praxis ist höchst ungewiss, ob ein Verbot solcher Inhalte mit dem First Amendment vereinbar ist. In einem Urteil aus dem Jahr 1965, Lamont vs. Postmaster, beurteilte der Supreme Court ein Gesetz, welches der Post die Versendung „kommunistischer politischer Propaganda“ untersagte und sie dazu verpflichtete dem Empfänger ein Formular zu schicken und ihn zu fragen, ob er die Propaganda zugestellt haben möchte oder nicht. Dies war für das Gericht eine Verletzung der Rechte der Empfänger aus dem First Amendment, weil sich diese aktiv betätigen mussten, um eine Information zu erhalten. Unter diesem Urteil könnte es ein allgemeines Verbot schwer haben.
Auch mit Bezug auf die nationale Sicherheit soll also ein Doppelstandard gelten, nämlich strenge inhaltliche Vorschriften bei von Foreign Adversary Countries beherrschten Unternehmungen, während für den Rest ein äußerst liberales Regime gilt.
Fazit und Ausblick
Diese Doppelstandards werfen grundlegende Fragen auf: Sind besonders restriktive Plattformregelungen gegen Foreign Adversary Countries und deren Unternehmungen zulässig? Brauchte es in den USA nicht generell Regelungen im Bereich des Datenschutzes und zur Bekämpfung von Phänomenen wie Desinformation, Fake News und Propaganda? Und wie beeinflusst das First Amendment derartige Regulierungen?
Vor dem Hintergrund der bisherigen Fälle ist die Gefahr groß, dass das TikTok-Verbot verfassungsrechtlich keinen Bestand haben wird. Zweifelsohne können zwar für Restriktionen außen- und sicherheitspolitische Interessen geltend gemacht werden, aber die Bedeutung der Meinungsfreiheit wiegt schwer. Mit der Bezugnahme auf die Kategorie der Foreign Adversary Countries könnte dies anders sein, sofern die Gerichte gewillt sind, trotz Fehlens eines konkreten Bedrohungsnachweises dem Kongress und der Regierung einen erheblichen außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum gegenüber dieser Staatenkategorie zu belassen. Nach dem Intermediate Scrutiny Test können ferner wichtige außen- und verteidigungspolitische Interessen zu berechtigten Einschränkungen der Meinungsfreiheit führen, sofern die dabei verwendeten Maßnahmen in einem engen Bezug zu den verfolgten Interessen stehen.
Hinter der nun sich anbahnenden rechtlichen Auseinandersetzung über das TikTok-Verbot lauert eine ganz allgemeine Frage: Was sind die Anforderungen, welche das First Amendment an Plattformregulierungen stellt? Im Moment sind diese recht weitgehend unbekannt, insbesondere mit Bezug auf die Zulässigkeit einzelner Restriktionen. Möglicherweise wird das TikTok-Verfahren hier teilweise Klärung bringen. Im Moment bleibt es bei der Feststellung: Die Zukunft des TikTok-Verbotes in den USA ist ungewiss und als „This or That“-Frage auch für Biden kaum zu beantworten.
Die Autoren sind Verfasser des Beitrags „Zugangsverbote zu Kommunikationsplattformen zum Schutz der (inter-)nationalen Sicherheit – ein grundrechtsbasierter Überblick“, JZ 2024, S. 375-385. Von Urs Saxer findet sich ferner eine Kommentierung des US TikTok-Verbots in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Mai 2024, https://www.nzz.ch/feuilleton/tiktok-wird-geflutet-von-propaganda-und-fake-news-aber-reicht-das-fuer-ein-verbot-der-plattform-aus-ld.1828877.