Welche Mutter, welcher Schutz?
Zur Forderung eines gestaffelten Mutterschutzes nach Fehlgeburt
In einer Verfassungsbeschwerde forderten vier Frauen, die selbst eine Fehlgeburt erlitten hatten, Frauen bei einer Fehlgeburt nach der 12. Schwangerschaftswoche (SSW) rechtlich wie Entbindende zu behandeln und ihnen die Schutzfristen des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) zu gewähren. Die Beschwerdeführerinnen sahen es als verfassungswidrig an, dass Frauen infolge einer Fehlgeburt keinen Anspruch auf Schonfrist haben und am nächsten Tag wieder arbeiten oder um Krankschreibung bitten müssten. Sie seien damit von der „Willkür einzelner Ärzte“ abhängig.
Derzeit besteht Mutterschutz nämlich nur nach Lebendgeburten sowie „Totgeburten“, also Entbindungen nach der 24. SSW, bei denen das Neugeborene kein Lebenszeichen zeigt. Fehlgeburten werden personenstandsrechtlich davon unterschieden1): Sie gelten nicht als Entbindung und es besteht kein Anspruch auf gesetzlichen Mutterschutz. Dies sei, so auch der Bundesrat im Juli 2024, eine „nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Betroffenen einer Tot- und einer Fehlgeburt“ und mache eine Reform des MuSchG nötig. Ein gestaffelter Mutterschutz nach Fehlgeburt soll dieser Ungleichbehandlung entgegenwirken und Betroffene schützen.
Aus soziologischer Perspektive gehe ich im Folgenden diskursiven Implikationen der Forderung nach einer Reform des MuSchG nach und zeige, mit welchen Konzepten in der Debatte um gestaffelten Mutterschutz nach Fehlgeburt argumentiert wird. Dahinter steht die Frage, auf welche Probleme der gestaffelte Mutterschutz nach Fehlgeburt eigentlich eine Antwort wäre. Um eine Implikation der geforderten Regelung vorwegzunehmen: Ein Mutterschutz nach Fehlgeburt würde Betroffenen auch symbolisch den Status einer Mutter verleihen. Was sich viele trauernde Eltern wünschen und in vielen Fällen zur Linderung von Leid beitrüge, könnte allerdings fundamentalistische Diskurse zum „Schutz des ungeborenen Lebens“ bestärken, deren Akteure langfristig das Recht auf selbstbestimmte Abtreibung einschränken möchten.
Die Realität von Schwangerschaftsverlusten
Zunächst aber: Eine Debatte zur Reform des Arbeitsschutzes nach Schwangerschaften, die nicht den Normverlauf nehmen, ist wichtig und nötig. Jährlich gibt es in Deutschland rund 40.000 statistisch erfasste Fehlgeburten. Die tatsächliche Anzahl liegt weit darüber, da Fehlgeburten oft, vor allem in frühen Schwangerschaftsstadien, jenseits klinischer Kontexte (z.B. Zuhause) stattfinden und nicht angezeigt werden. Die geburtshilfliche Versorgung durch gynäkologische Praxen, Krankenhäuser und Hebammenhilfe hat sich in den letzten Jahrzehnten zwar verbessert – so besteht beispielsweise auch nach einer Fehlgeburt Anspruch auf eine krankenkassenfinanzierte Nachsorge durch eine Hebamme. Allerdings gibt es nach wie vor eklatante Defizite bei der medizinischen Aufklärung und psycho-sozialen Versorgung akut Betroffener. Diese berichten, etwa in den sozialen Medien, immer wieder von mangelhafter Aufklärung über therapeutische Möglichkeiten (z.B. abzuwarten oder einen medikamentösen Abbruch mit sog. natürlichem Abgang vorzunehmen), von abwertenden, verletzenden Kommentaren oder Empathielosigkeit durch Fachpersonal, fehlendem Verständnis im persönlichen und kollegialen Umfeld sowie Diskriminierungen am Arbeitsplatz bis hin zur Kündigung. In den letzten Jahren machten allen Leitmedien auf diese Missstände im Umgang mit Schwangerschaftsverlusten aufmerksam (siehe etwa hier, hier und hier).
Wenig thematisiert werden dagegen die körperlichen Belastungen. Ein natürlicher Abgang kann sich über Wochen hinziehen – Wochen, in denen Betroffene bluten, arbeiten, Krämpfe haben, zur ärztlichen Kontrolle gehen, Medikamente nehmen, weiterbluten, Care-Arbeit leisten und die Contenance bewahren (oder verlieren). Fehlgeburten ab der 12. SSW müssen in Deutschland, anders als in anderen Ländern, in der Regel vaginal entbunden werden. In der 20. SSW ist der Fötus, der auf die Welt gebracht werden muss, etwa 20 cm groß. Bei ambulanten Fehlgeburten stehen, auch wegen des Hebammenmangels, normalerweise keine Hebammen zur Verfügung, um die Schwangeren durch den schmerzhaften Prozess zu begleiten. Und nach einer Fehlgeburt – so hat es auch die Beschwerdeführerin Natascha Sagorski erlebt – besteht vonseiten der Ärzte und Ärztinnen sowie des Gesetzgebers die Erwartung, zeitnah wieder zur Arbeit zu gehen und zu „funktionieren“. Vor dem Hintergrund dieser Strapazen sei auch ein dreitägiger Trauerurlaub nach Fehlgeburt, wie er u.a. in Neuseeland für beide Partner*innen besteht, viel zu kurz, um sich zu erholen.
Forderungen von „Mutter“schutz nach Fehlgeburt
Die Anpassung des MuSchG wäre also auch die Chance, reproduktive Arbeit, die vor allem durch Frauen geleistet, nicht entlohnt und kaum gewürdigt wird, anzuerkennen und rechtlich zu berücksichtigen. Ein „moderner“ Mutterschutz verfolgt laut BMFSFJ verschiedene Zielsetzungen: die Gesundheit der schwangeren und stillenden Person und die ihres Kindes zu schützen und ihr, sofern verantwortbar, die Fortführung ihrer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, sie vor Kündigung zu schützen, ihr Einkommen in der Zeit des Beschäftigungsverbots zu sichern sowie Benachteiligungen entgegenzuwirken.
Ein Mutterschutz nach Fehlgeburt könnte entsprechend Betroffenen eine Zeit zur körperlichen, psychischen und emotionalen Regeneration verschaffen und psychische Erkrankungen verhindern. Ein Kündigungsschutz nach Fehlgeburt ab der 12. SSW besteht bereits seit der Reform des MuSchG 2018. Ein verpflichtender Mutterschutz widerspräche dem Prinzip, die fortgeführte Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, da es auch Frauen gibt, die nach einer Fehlgeburt wieder arbeiten können und möchten, z.B. um sich abzulenken oder einer Tätigkeit außerhalb der häuslichen Sphäre nachzugehen.
Befürworter*innen einer Neuregelung argumentieren damit, dass es um Frauen geht, die ihr Kind verloren haben und die in dieser Situation staatlichen Schutz genießen sollten. Die Petition „Gestaffelter Mutterschutz nach Fehlgeburten“, die der Verfassungsbeschwerde vorausgegangen war, viele juristische Kommentare und Medienberichte setzen dabei voraus, dass Fehlgeburten zu jedem Schwangerschaftszeitpunkt ein Kindsverlust und Betroffene Mütter sind. Remo Klinger, der die Verfassungsbeschwerde anwaltlich vertritt, argumentiert u.a. mit einem verfassungsrechtlichen „Verstoß gegen den Schutz der Mutter“ nach Art. 6 Abs. 4 Grundgesetz und setzt somit die Mutterschaft voraus. Selten wird in den Darstellungen der Problemlage von „Fötus“ gesprochen. Die Entscheidung gegen den medizinisch-rationalen Begriff kann als Respekt gegenüber den vielen Betroffenen verstanden werden, die ihn verletzend und abwertend finden. Zugleich wird durch diese personalisierende Sprache der Status des Ungeborenen als menschliche Person vorausgesetzt und zur moralischen Pflicht gemacht, seinen Verlust (verfassungs!-)rechtlich zu berücksichtigen. Anders gesagt: Die Diskussion verhandelt implizit nicht nur die Verbesserung der Situation derjenigen, die reproduktive Arbeit leisten, sondern manifestiert auch den sozialen Status des Ungeborenen als Person.
Die „gute“ Mutter
Auf die Kritik, mit der Petition ein konservatives Frauen- und Mutterbild zu verfestigen, reagierte die Initiatorin Sagorski mit der Betonung, dass ausschlaggebend sei, ob sich die Frauen als Mütter fühlten. Dem Kriterium der gefühlten Mutterschaft werde Rechnung getragen, indem der Mutterschutz freiwillig sein soll. Diese Freiwilligkeit könnte individuelle und elterliche Selbstbestimmungsrechte stärken. Gleichwohl ist ein normativer Diskurseffekt durch die Regulierung zu erwarten, der Erwartungen an Frauen prägt. Einerseits legt sie nahe, dass diese sich als zukünftig „gute“ Mütter bereits während der Schwangerschaft als Mutter fühlen und um ihr Ungeborenes trauern sollten. Diese Trauererwartungen zeigen sich bereits in der geburtshilflichen Praxis, seit 2013 das Personenstandsrecht für Fehlgeburten geändert und in vielen Bundesländern eine Pflicht für behandelnde Einrichtungen eingeführt wurde, Betroffene auf Optionen zur Bestattung hinzuweisen. Andererseits haben Arbeitgeber*innen ein Interesse daran, dass kein Beschäftigungsverbot in Anspruch genommen wird – weshalb Arbeitnehmer*innen erwartbar unter Druck stehen werden, „freiwillig“ keinen Mutterschutz in Anspruch zu nehmen. Hier besteht m.E. noch ein Widerspruch zum Argument der Beschwerdeführerinnen, dass die Bitte um Krankschreibung unzumutbar sei, der freiwillige Antrag auf Mutterschutz hingegen nicht. Beides begegnet praktischen Hindernissen, solange sich das öffentliche Bewusstsein für die Problematik nicht grundlegend wandelt.
Staffelung und Entwicklungsgedanke
Schließlich geht es darum, der verfassungswidrigen Ungleichbehandlung nach „Totgeburt“ und Fehlgeburt entgegenzuwirken. Kritisiert wird die „starre Abgrenzung“, die entlang der Gewichtsgrenze von 500 Gramm Geburtsgewicht bzw. der Schwangerschaftsdauer von 24 Wochen verläuft (auch von Nicole Friedlein hier auf dem Blog). Ein Gramm bzw. ein Tag ist demnach ausschlaggebend, ob für 14 Wochen Mutterschutz besteht oder keiner. Auch der Vorschlag der Koalitionsregierung, Fehlgeburten ab der 20. SSW oder gar der 16. SSW in die Schutzfrist des Mutterschutzes einzubeziehen, war dafür kritisiert worden, die harte Grenze aufrecht zu erhalten.
Um der Ungleichbehandlung, die sich aus der Grenze ergibt, entgegenzuwirken, wird deshalb vorgeschlagen, den Mutterschutz nach Schwangerschaftsdauer zu staffeln. Die Idee einer Staffelung entspricht der heutigen Erfahrung von (gewollter) Schwangerschaft, deren Normentwicklung medizinisch überwacht und begleitet wird. Parallel zur Entwicklung des Fötus wächst die vorgeburtliche Bindung zum ungeborenen Kind, die, etwa durch familienzentrierte Kommunikation während der Ultraschalluntersuchungen, durch Ärzte und Ärztinnen gezielt gefördert wird. Diesem Entwicklungsgedanken entsprechen auch gesellschaftliche Erwartungen im Verlustfall. So ist eine gängige, aber falsche Annahme, dass eine Fehlgeburt bzw. Stillgeburt für Betroffene umso schwerer wiegt, je später im Laufe der Schwangerschaft sie geschieht (vgl. Böcker, Fehlgeburt und Stillgeburt. Eine Kultursoziologie der Verlusterfahrung. Weinheim/Basel: Juventa 2022). Frühe Verluste seien hingegen entsprechend gut zu verkraften, weil die Bindung eben noch nicht weit fortgeschritten sei. Die Initiatorinnen wenden sich gerade gegen diese Vorstellung, dass frühe Verluste „weniger schlimm“ seien und fordern gesetzlichen Schutz für alle Betroffene. Eine Staffelung kann demnach keine adäquate Antwort auf den Bedarf einer psychischen bzw. emotionalen Verarbeitungszeit sein. Wohl aber könnte sie eine adäquate Berücksichtigung der körperlichen Belastungen sein, die sich aus der unterschiedlichen Schwangerschaftsdauer – oder auch aus Komplikationen – ergeben.
Narrative Nebenwirkungen
Zu diskutieren bleibt, ob ein gestaffelter Mutterschutz dem Mangel an medizinischer Aufklärung, geburtshilflicher Begleitung und Anerkennung von (vormals) Schwangeren begegnen kann. Vorsicht ist geboten, die fehlende „Anerkennung für das Erlebte“ über eine Rhetorik von Leben und Tod sowie über eine pauschale Zuschreibung von Mutterschaft zu gewähren (ebd.). Die Schutzfrist darf sich nicht vom Status der Elternschaft ableiten. Um zu vermeiden, dass pauschalisierende Vorstellungen von Kindsverlust während der Schwangerschaft Abtreibungsgegner*innen in die Hände spielen, könnte die Reform auch beinhalten, das Gesetz umzubenennen, vielleicht in Reproduktionsgesetz oder Reproduktionsarbeitsschutzgesetz. In Zeiten nach Dobbs vs. Jackson, in denen in den USA Frauen nach Fehlgeburten wegen des Verdachts auf Abtreibung angeklagt werden und die AfD Sachsen-Anhalt die Bestattung von „Sternenkinder[n]“ als Teil einer „Trauerkultur“ ins Wahlprogramm zur Landtagswahl 2021 aufnimmt, müssen sich dringend die bürgerlichen Parteien dem Thema annehmen. Ziel sollte es sein, Strukturen zu schaffen, die die Komplexität und Diversität von Schwangerschaftsenden berücksichtigen, die umfassende Aufklärung und eine geburtshilfliche Begleitung und Versorgung von Schwangeren und (Fehl- und Still-)Gebärenden während und nach der Entbindung gewährleisten (z.B. durch Hebammen), die Betroffenen eine Zeit zum Trauern, Verarbeiten und zur Prävention ermöglichen, und damit – endlich – diese Reproduktionsarbeit zu würdigen und ernst zu nehmen.
References
↑1 | Die personenstandsrechtliche Grenze zwischen Fehlgeburt und Totgeburt ist grob an der potenziellen Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb der Gebärmutter orientiert. Unter beide Kategorien fallen auch Schwangerschaftsenden, die medizinisch und im alltäglichen Sprachgebrauch anders bezeichnet werden, etwa Eileiterschwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche. |
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